Werner Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. 2., aktual. u. neukonz. Fassung. München 2003. 431 S.
Man kann BÄTZINGs Buch ganz naiv als eine vorzüglich bebilderte, gut zu lesende und aktuelle Monographie über die Alpen lesen, die unter den berühmten "interessierten Laien" sicherlich viele Käufer finden wird. Ein jeder, der das Buch zur Hand nimmt, wird nämlich ohne Zweifel einen Gewinn daraus ziehen, denn es finden sich - bisweilen in der Manier eines Lehrbuchs - nahezu alle denkbaren Aspekte sehr verständlich abgehandelt, die man mit den Alpen verbinden kann: von der Geologie, über die Entstehung des Alpenbildes und die Entwicklung von Landwirtschaft, Industrie und Fremdenverkehr bis zu den heutigen Raumstrukturen samt Überlegungen zur Zukunft des Alpenraumes. BÄTZING formuliert am Beginn der "Anmerkungen" explizit (auch für das Folgende vgl. S. 361f.), dass eine Zielgruppe des Buches die "Betroffenen" seien (er meint damit v.a. die Bewohner des Alpenraums, Politiker, Bürgerinitiativen und Umweltgruppen), weshalb die Darstellung allgemein verständlich sein müsse. BÄTZING sieht sich damit im Sinne Mittelstraß´ explizit einem "transdisziplinären Verständnis" von Wissenschaft verpflichtet.
Man kann das Buch jedoch auch als Fachkollege vom selbst gestellten Anspruch BÄTZINGs her lesen, die Geographie als "Leitwissenschaft" zu verstehen, die die "systematische Verbindung natur- und sozial-/kulturwissenschaftlicher Methoden in problemorientierter Perspektive" zu leisten vermag. Und BÄTZING wollte keine "Länderkunde" der Alpen schreiben, da das ihr zugrunde liegende Konzept deskriptiv-holistisch sei. Deshalb habe er "die letzten Reste der länderkundlichen Gliederung, die in der 1991er Ausgabe noch im Kapitel III sichtbar waren, getilgt." Sein Buch solle zudem eine "problemorientierte", "humanökologische" und "interdisziplinäre" Geographie vermitteln, dazu dem Leitbild der Nachhaltigkeit verpflichtet. BÄTZINGs Buch muss sich also an einem doppelten Anspruch messen lassen, nämlich zugleich populär- und fachwissenschaftlich geschrieben zu sein.
Was meint BÄTZING nun, wenn er von den "Alpen" spricht? Er umreißt eine europäische Großregion entlang des alpidischen Gebirgsbogens vom Ligurischen Meer bis nach Wien, nach außen hin abgegrenzt im Sinne der Berggebietsgesetze und der Alpenkonvention. Eine solche "mittlere Abgrenzung" (S. 23) hat einerseits tatsächlich den Vorteil, die zentralen ökologischen, ökonomischen und kulturellen Zusammenhänge zwischen Berg und Tal zu erhalten, was der "enge touristische" Blick nicht vermag, dem die Alpen um so einzigartiger werden, je höher man hinaufklettert, obgleich die Schwerpunkte von Bevölkerung, Wirtschaft und Kultur in den Tälern liegen. Andererseits folgt diese Abgrenzung nicht dem weiten Ausgriff der Raumplanung und Politik aus den Alpen heraus auf die angrenzenden Agglomerationen, was den Alpenkernraum mit seinen spezifischen Funktionen in die Minderheitssituation und ins Abseits brächte. BÄTZING sieht die so definierten Alpen als "verdichtetes" Europa, womit sie für ihn zu einem Exempel für Grundfragen der Kulturlandschaftsentwicklung Europas werden. Tatsächlich ist Kulturlandschaft das Schlüsselwort, das sein Interesse leitet. Deshalb ist es wichtig, sich BÄTZINGs Verständnis von Kulturlandschaft zu vergegenwärtigen. Er definiert sie "als eine Landschaft, in der der Mensch durch seine Bewirtschaftung das ökologische System so umgestaltet hat, dass es durch ein kulturell geprägtes Ökosystem ersetzt worden ist, für dessen Stabilität nun der Mensch verantwortlich ist, weil es aus sich heraus nicht stabil ist" (S. 373). Aus diesem, von mir akzeptierten Verständnis von Kulturlandschaft, welches den älteren historisch-geographischen Zugang mit dem jünge-
ren Planungsauftrag der Kulturlandschaftspflege verbindet, leitet BÄTZING konsequent die Gliederung seines Buches ab: Voran steht folglich die Frage nach der Genese der "Kulturlandschaft Alpen" unter vorindustriezeitlichen Verhältnissen (Kap. I) sowie ihrer Transformation im Industriezeitalter (Kap. II). Das sind äußerst spannende Abschnitte, da sie die "inneren Logiken" solcher Raumentwicklungen als auf Dauer angelegte ("nachhaltige") Anpassungen des Menschen an bisweilen extreme natürliche Rahmenbedingungen aufzuzeigen vermögen. Hier argumentiert BÄTZING tatsächlich "humanökologisch" und agiert "interdisziplinär". Bei aller Suche nach Regelhaftigkeiten - etwa im System der Almwirtschaft - ist dem Geographen BÄTZING der Blick auf die räumliche Differenziertheit möglicher Ausprägungen besonders wichtig. Z.B. wird die Almwirtschaft mithin nicht naturräumlich determiniert, sondern in zeit- und raumtypische Lebensweisen aufgelöst. In diesen beiden ersten Kapiteln ist BÄTZING nicht weniger gelungen, als eine längst überfällige Historische Geographie des Alpenraums zu schreiben: Im Kontrast zu den "Langen Reihen" des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stehen um so auffälliger die grundstürzenden Neuerungen, die die Zeit der Industrialisierung mit Eisenbahn und schließlich Auto den Alpen brachten.
Dann hält BÄTZING gleichsam für eine umfassende Bilanzierung im Kap. III inne; von allgemeiner Bedeutung ist darin u.a. die Passage zur Frage, wie man denn "Wandel" bilanzieren könne. Besonders beeindruckend sind in diesem detailreichen Kapitel einige, den ganzen Alpenraum fassende, überaus faszinierende Karten u.a. zur Bevölkerungsentwicklung seit 1951 sowie (im vorderen Umschlag) zur Typisierung der Alpengemeinden nach Entwicklungsverlaufsklassen im Zeitraum 1870(!)-2000. Sie zeigen, auch umgesetzt in Entwicklungsmodelle (z.B. S. 297), dass die tragenden demographischen und ökonomischen Prozesse klein-räumlich sehr differenziert abgelaufen sind und ablaufen, folglich auch differenzierter Antworten bedürfen. Außerdem sind sie in die allgemeinen europäischen Entwicklungen eingehängt und auch von daher zu denken.
Solche stimmigen Gedanken beeinflussen die Reflektionen über die abschließenden Fragen nach der Weitereintwicklung der Alpen unter den gegenwärtigen Bedingungen (Kap. IV). Gegenüber den vorangegangenen Kapiteln, die jeweils etwas mehr als 100 Seiten umfassen, fallen die Antworten darauf naturgemäß knapper aus. Sie verbleiben aber nicht in der Auflistung von allgemein Spekulativem und unverbindlich Wünschenswertem, sondern binden sich kritisch-reflektierend zurück auf konkrete und aktuelle Programme der Politik und Raumplanung zu und in den Alpen. Auch hier finden sich Aussagen, die allgemein bedenkenswert sind, etwa zur Wirkung sektoraler Programme angesichts der Komplexität von sozioökonomischen Phänomenen mit einer räumlichen Dimension.
Methodisch gesehen verbindet BÄTZING in seinem Buch klassische Ansätze der historisch-genetischen Kulturlandschaftsforschung der Geographie mit der auf die Gegenwart bezogenen geographischen Raumstrukturanalyse sowie raumplanerischen Aspekten; naturgeographische Sachverhalte werden, wo sie die Wahrnehmung und Nutzung des Alpenraumes beeinflussten, in gebührender Ausführlichkeit und Tiefe immer wieder eingeschoben. BÄTZING übernimmt sich nicht mit Versuchen, mehr miteinander zu verbinden, als darstellerisch möglich und sinnvoll ist: Jedes Großkapitel könnte durchaus für sich selbst stehen. In der Summe wird daraus aber ein nahezu allumfassendes Buch zu den Alpen.
Und ist BÄTZING nun seinen eigenen Ansprüchen gerecht geworden? Er legt tatsächlich ein aus der Sicht der Geographie konzeptionell anspruchsvolles und fachlich bestens fundiertes Buch vor, das Vorbild für eine modernisierte genetische Kulturlandschaftsforschung Europas sein sollte, wenn deren Vertreter es als Aufgabe annähmen, aus der Analyse der Vergangenheit umsetzbare Schlüsse für die Gegenwart und für den zukünftigen Umgang mit vom Menschen angelegten räumlichen Strukturen zu ziehen und in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Das Buch ist aber auch in populärwissenschaftlicher Hinsicht sehr gelungen. Es vereinfacht nicht unzulässig, es ist problemorientiert, dazu flüssig zu lesen und spürbar engagiert (mit Liebe zur Sache und zum Beruf) geschrieben, ohne eine "Botschaft" allzu aufdringlich vor sich herzutragen. BÄTZINGs Alpenbuch ist damit - mehr noch als die erste Bearbeitung - ein gelungenes Beispiel für das durchaus mögliche Spagat zwischen wissenschaftlicher Begründung von Aussagen und allgemein verständlichem Schreiben.
Autor: Winfried Schenk