Harveys Postmodernisierung des Marxismus: Zwischen den Stühlen
In der anglophonen Geographie und ihren Nachbarwissenschaften hat David Harveys Nachfolgewerk (David Harvey: Justice, Nature & the Geography of Difference. Oxford und Cambridge, MA 1996. 468 S.) zu seinem Bestseller The Condition of Postmodernity (1989) für umfangreiche Diskussionen gesorgt. So wurde seiner Besprechung eine komplette Ausgabe von Antipode (1/1998) sowie Diskussionsforen in den Annals of the Association of American Geographers (4/1998) und in Gender, Place and Culture (4/1997) gewidmet. In deutscher Sprache ist mir, sieben Jahre nach dem Erscheinen des Buches, nur eine einzige Besprechung bekannt, die zudem in einer nicht-geographischen Zeitschrift erschienen ist (Riedmann 1999). Diesen beiden Tatsachen, der umfangreichen Diskussion in der anglophonen Welt und der spärlichen Rezeption in deutscher Sprache und Geographie, soll in diesem Besprechungsaufsatz Rechnung getragen werden, indem zunächst das Buch vorgestellt (I.) und anschließend auf einige der Kritiken und Diskussionspunkte in den englischsprachigen Debatten eingegangen wird (II.). Schließlich (III.) wird Harveys Vorliebe für 'social justice' einer Kritik unterzogen.
I.
Justice, Nature & the Geography of Difference (JNGD) besteht aus vier Teilen: "Orientations", "The Nature of Environment", "Space, Time, and Place" und "Justice, Difference, and Politics". Die Vielfalt der allein in den Überschriften angesprochenen Themen mag bereits andeuten, was nicht nur zahlreiche Rezensentinnen und Rezensenten feststellen 1, sondern Harvey auch selbst in einem Interview in der New Left Review eingesteht: "Es ist wohl das am wenigsten kohärente Buch, das ich jemals geschrieben habe"2 (Harvey 2000: 90). Diese mangelnde Kohärenz des Buches äußert sich inhaltlich in einer immensen Bandbreite von behandelten Themen und zitierten Autoren und stilistisch in einem steten Wechsel der Abstraktionsebenen von (amüsant geschriebenen) Anekdoten bis hin zu sehr abstrakten Ausführungen etwa zu Fragen von Dialektik, Diskurs oder Ontologie. Diese abwechslungsreiche Form - zusammen mit der angenehmen Schreibweise - steigert einerseits das Lesevergnügen, macht aber andererseits eine knappe Zusammenfassung des Inhalts unmöglich. In diesem Abschnitt werden deshalb nur ausgewählte Themenkomplexe und Gedankengänge vorgestellt, die dann auch nur angerissen werden können, obwohl jeder für sich eine genauere Analyse (und Kritik) verdient hätte.
Teil I ("Orientations") beginnt mit einem Kapitel über das Konzept des "Militant Particularism" von Raymond William, der damit "den einmaligen und außergewöhnlichen Charakter der Selbstorganisierung der Arbeiterklasse" bezeichnet, der es ermögliche, "partikulare Kämpfe zu einem allgemeinem Kampf zu verbinden" (R. Williams, zitiert nach Harvey, 32). Klassenkampf sei, ausgehend von den lokalen Lebens- und damit Kampfbedingungen, eine "affirmative Erfahrung von Solidaritäten an einem bestimmten Ort", die "zu einem Arbeitsmodell einer neuen Gesellschaftsform generalisiert und universalisiert" (32) werden können3. Um die Untersuchung dieser lokalen Lebens- und Kampfbedingungen zu ermöglichen, ist Harveys Vorhaben im folgenden die Ausarbeitung eines "materialistischen Analyserahmens", wobei es gelte, "Raum, Ort und Umwelt in Theorien sozialen Prozesses"4 (45) zu integrieren. Dazu folgt zunächst ein Kapitel zur Dialektik, in dem es nicht um Hegel und nur wenig um Marx geht, sondern um die "dialektische Tradition als Ganze" (48), wobei insbesondere die Arbeiten von Naturwissenschaftlern und Ökologen herangezogen werden. Als erstes von insgesamt elf Prinzipien der Dialektik betont Harvey das "ontologische Prinzip" (49): "Elemente, Dinge, Strukturen und Systeme existieren nicht außerhalb oder vor den Prozessen, Vorgängen und Relationen, die sie schaffen, aufrechterhalten und unterminieren" (ebd.). Die Welt ist demnach konstituiert aus "internen Relationen", die sich immer im Fluss befinden, innerhalb derer es aber möglich und nötig ist, "Permanenzen" auszumachen. Diese sind zwar relativ stabil, dabei aber "konstituiert, aufrechterhalten und schließlich in Vorgänge aufgelöst" (73) und wie alle Entitäten "relational in Beziehung zu anderen definiert" (ebd.). Weitere Kapitel des ersten Teils setzen sich auseinander mit "Dialectics of Discourse" und "Historical Agency and the Loci of Social Change", in denen er versucht, Elemente der jüngeren Debatten aus dem Bereich von postmoderner, postkolonialer und poststrukturalistischer Theorie in seinen Entwurf eines "historical-geographical materialism" zu integrieren.
Teil II ("The Nature of Environment") beginnt mit Überlegungen zum aufklärerischen Ideal der Naturbeherrschung, das häufig als Kernproblem heutiger Umweltprobleme ausgemacht wird. Doch statt im Sinne dieser Schuldzuweisung 'die Aufklärung' oder 'die Moderne' für Atomstrom und schmutzige Badeseen verantwortlich zu machen, untersucht Harvey, wie der aufkommende Kapitalismus die materielle Basis für das Naturbeherrschungsideal und die damit legitimierte rücksichtslose Benutzung der Natur wurde. Denn "es war die Zirkulation des Kapitals, die die Umwelt zu dem gemacht hat, was sie ist" (131). Mit der Malthusianischen Tradition und ihrer Annahme natürlicher Grenzen des Wachstums kritisiert Harvey eine prominente Ideologie dieses durchgesetzten Verhältnisses zur Natur, die auch in 'ökologischen' Kreisen Urstände feiert5. Im Kapitel über "Valuing Nature" wird u. a. in dieser Richtung weiter argumentiert gegen Varianten der deep ecology, in der die Natur selbst Wertvorstellungen für ein ökologisch gutes Leben vorgibt. Stattdessen gelte es, den Zusammenhang von Gesellschaft und Natur als Prozess gemeinsamer Evolution zu begreifen, denn "menschliche Aktivitäten können nicht getrennt von Ökosystemen betrachtet werden" (186). Dazu macht sich Harvey auf die Suche nach einem "dialektischen und relationalen Programm, um die Dialektik des sozio-ökologischen Wandels durchdenken zu können" (190), das auf den Elementen "Konkurrenz", "Adaption", "Kooperation" und "Transformation" (ebd.) aufbaut.
In Teil III führt Harvey unter dem Titel "Space, Time, and Place" sein bereits in Social Justice and the City (1973) begonnenes Projekt fort, eine materialistische Theorie des Raums als eines gesellschaftlichen Produkts zu erarbeiten (vgl. auch Harvey 1989, 1990). In Rückgriff auf das "relationale Weltbild" aus Teil I werden Raum, Zeit und Ort als soziale Konstruktionen diskutiert, die als Ergebnis der "materiellen Prozesse der gesellschaftlichen Reproduktion" (231) zeitweise Objektivität erlangen, die sich aber bei Änderung dieser materiellen Grundlage anpassen müssen: "Objektive, aber dabei gesellschaftliche Konzeptionen von Raum und Zeit müssen sich verändern, um sich neuen materiellen Praktiken der gesellschaftlichen Reproduktion und neuen Wegen der Wertzuweisung anzupassen" (222). Bezogen auf die heutige Situation formuliert Harvey die These, dass die "Heterogenität der Raum-Zeitlichkeiten" (234) den verschiedenen Funktionen des Geldes entspringe, die aber durch die Einheitlichkeit der Geldform "in ein einziges System" (238) eingebaut würden6. Geld "als eine Relation" (288) ist für Harvey auch der Schlüssel zum Verständnis der derzeit beliebten Themen wie 'Körper' oder 'Identitäten', denn "Geld, Raum-Zeitlichkeit, Werte und der Körper sind innerhalb der allgemeinen Dynamik der Kapitalzirkulation unentwirrbar verwoben" (ebd.).
In Teil IV schließlich wendet sich Harvey unter dem Titel "Justice, Difference, and Politics" direkt Fragen von Politik und Gerechtigkeit zu, die auch zuvor bereits immer mitdiskutiert wurden. Ein großer Teil der Debatten um JNGD hat sich um die hier vertretenen Positionen entfacht, weshalb sie weiter unten vertieft werden. Hier sei zunächst nur erwähnt, dass Harvey den Kern progressiver Politik nach wie vor in "raw class politics" (338) sieht, wobei er Klasse verstanden wissen will als "Position oder Positionierung in Beziehung zu Prozessen der Kapitalakkumulation" (359). Gegen den relativistischen "postmodernen Tod der Gerechtigkeit" (341) versucht er für die Möglichkeit universalistischer Normen zu argumentieren, die einen Leitfaden für Politik abgeben sollen. Nach einer Auseinandersetzung mit dem environmental justice movement schließt JNGD mit einem Kapitel über "Possible Urban Worlds". Hier versucht Harvey dem Buch eine Art weiterführende Zusammenfassung zu geben, indem er zehn beliebte Mythen aus Wissenschaft und Politik aufzählt, vor denen es sich zu hüten gelte.
Diese Kurzvorstellung einiger Themen und Argumente aus JNGD mag angedeutet haben, dass Harvey sich den Herausforderungen der postmodernen etc. Kritik am Marxismus stellt, indem er diese zu berücksichtigen und in seinen Ansatz zu integrieren versucht. So fehlen weder die Modethemen der 1990er Jahre wie Identität, Positionierung und Differenz noch eigene terminologische Anpassungen (etwa die Rede von 'konstruiert' an Stelle von 'produziert'). Nun scheint sich Harvey mit dieser Strategie zwischen alle Stühle zu setzen: Auf der einen Seite sieht er sich gegenüber Marxisten zunehmend in der Position, "die Bereicherungen, die durch die postmodernen und kulturalistischen Wenden erreicht wurden" (Harvey 1998b, 727), zu verteidigen7, andererseits scheinen die postmodernen etc. Kritiker des Marxismus wenig Wert auf sein theoretisches Entgegenkommen zu legen. In den beiden folgenden Abschnitten wird auf beide dieser 'Stühle' eingegangen: Zunächst werden einige der Kritiken an JNGD aus den englischsprachigen Debatten analysiert, abschließend Harveys Insistieren auf der Wichtigkeit von 'Gerechtigkeit' mit den Ausführungen von Marx und Engels zu diesem Thema konfrontiert.
II.
Die in der Diskussion um JNGD mit Abstand am häufigsten vorgebrachte Kritik lässt sich in dem Vorwurf zusammenfassen, Harvey verbleibe "fest in der westlichen Denktradition" (Jones 1999, 542) und "scheitere daran, befriedigend auf die 'post'-Kritiken an seiner Position zu antworten" (ebd., 531). Denn diese 'post-'Kritiken, so Jones, zeigen, dass Konzepte kontextuell und offen zu gestalten und nicht wie bei Harvey "als gegeben" (ebd., 539) hinzunehmen und v. a. nicht als binäre Gegensätze zu konstruieren seien. Dass Jones dabei selbst Konzepte benutzt, denen er eine sehr restriktive (also gar nicht offene) Bedeutung zumisst - nämlich genau das Gegenteil8 dessen, was er von 'moderner Philosophie' und Marxismus verstanden zu haben glaubt -, ist ein typisches Beispiel für einen der grundlegenden Fehler dieser ganzen Denkrichtung: Die Ablehnung von Dichotomien bedeutet das Aufmachen eine Dichotomie (zwischen Dichotomie / Nicht-Dichotomie), das Bestreiten der Möglichkeit wahrer Aussagen kommt als wahre Aussage daher, an die Stelle jeglicher Metatheorie tritt der Pluralismus theoretischer Ansätze als Metatheorie (Becker 1996, 108), undogmatisch zu sein wird zum Dogma etc. Dass diese (und andere) Behauptungen selbstwidersprüchlich sind, wird vermutlich deshalb nicht als Argument gegen sie wahrgenommen, da es hier sowieso nicht um Argumente zu gehen scheint, sondern um normative Standpunkte: Aussagen sollen eben einfach nicht dichotom, wahr, metatheoretisch oder dogmatisch sein dürfen (Eagleton 1997, 38). Ein weiteres Beispiel hierfür liefert Linda McDowell, wenn sie behauptet, "dass in [der Annahme von] Universalität kein Nutzen mehr steckt" (McDowell 1998, 5). Wenn das nicht eine universalistische Aussage ist, dann weiß ich nicht, wie eine aussehen soll. Sie ernst zu nehmen hieße, sie selbst als nutzlos (da universell) zu betrachten.
Insbesondere schießen sich Harveys Kritiker auf seine Interpretation eines Falles ein, mit dem der Teil IV von JNGD eröffnet wird: Am 3. September 1991 brannte in Hamlet (North Carolina) eine Hühnerfabrik von Imperial Foods ab. Weil viele der Notausgänge verschlossen waren, kamen dabei 25 der rund 200 Arbeiter ums Leben (davon 18 weiblich und 12 schwarz), 56 weitere wurden schwer verletzt. Nach einer Skizzierung der miserablen Arbeitsbedingungen und Löhne in Hamlet beklagt Harvey das "allgemeine Fehlen jeglicher politischer Reaktion" (337) seitens der Linken nach diesem Vorfall. Den Grund hierfür sieht er z. T. in der "Fragmentierung 'progressiver' Politik durch das Aufgreifen spezieller Themen und das Aufkommen der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, die sich auf Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Ökologie, Sexualität, Multikulturalismus, die Gemeinde u. ä. konzentrieren" (341). Später geht er noch weiter: "Die bloße Verfolgung von Identitätspolitiken als eines Ziels an sich kann dazu beitragen, die Prozesse, die überhaupt erst zum Aufkommen dieser Identitäten geführt haben, zu perpetuieren anstatt sie herauszufordern"(364).
Der Vorwurf der Kritiker lautet dann folgerichtig: "Was [für Harvey] in der letztendlichen Analyse zählt, ist die Klasse und nur die Klasse" (Featherstone 1998, 23). Für seine Kritiker ist das eine unerhörte Analyse. Denn die "überproportionale Anzahl von Todesfällen unter Frauen und Afro-Amerikanern erfordert zusätzliche Wege der Erklärung" (Braun 1998, 716), weil "Herrschafts- und Unterdrückungsprozesse, die auf ethnischen und geschlechtsbezogenen Identitäten und Geographien basieren, [in Hamlet] nicht peripher gewesen seien" (ebd.). Harveys Vergehen besteht darin, "von 'Klasse' zu denken, dass sie andere Achsen sozialer Differenzierung transzendiere" (Young 1998, 39) bzw. in "der Reduzierung aller Differenzen, die nicht auf Klasse basieren" (Bringham 1998, 367). Nun ist es aber so, dass die Existenz kapitalistischer Unternehmen (wie dem in Hamlet) die Einteilung der Menschen in solche mit Produktionsmitteln und solche, die nur ihre Arbeitskraft haben, voraussetzt und nicht die (ideologische) Einteilung in Geschlechter oder Rassen. Anders formuliert: Der Zweck kapitalistischer Produktion ist der Profit und nicht die Unterdrückung von Frauen oder von Menschen, die keine weiße Hautfarbe haben. Wenn also in Betrieben wie dem in Hamlet überproportional viele Frauen und Afro-Amerikaner arbeiten, dann liegt das nicht daran, dass sie Frauen bzw. Afro-Amerikaner sind (was als Erklärung ein Essentialismus erster Güte wäre), sondern daran, dass sie für niedrigen Lohn und unter schlechten Bedingungen zu arbeiten gezwungen sind. Und wo, als Folge des Zwecks 'Profit', die Produktion so billig gestaltet wird, wie es nur irgend geht, da wird eben auch an der Arbeitssicherheit gespart. Es war also sehr wohl "rohe Klassenpolitik der ausbeuterischen Art, die zu einer Situation führte, in der ein Unfall (ein Brand) derart fatale Folgen haben konnte" (338).
Nur am Rande sei die konsequent esoterische Fortführung dieser Kritik an Harveys Ansatz erwähnt. So wird ihm sein "Widerstand, die Spiritualität Anderer anzuerkennen und sich mit ihr auseinanderzusetzen" (Pulido 1998, 720) angekreidet und vorgeworfen, seine Ausführungen seien "entschieden rational und verkopft" (Demeritt 1998, 286). Harveys Kritikerinnen und Kritiker geht also seine Annäherung an modische Theorieströmungen nicht weit genug. Dass genau das Gegenteil der Fall ist, dass sich also Harvey in JNGD von zentralen Erkenntnissen des Marxismus weit entfernt, soll abschließend an seinem Faible für "social justice" illustriert werden.
III.
Gerechtigkeit ist für Harvey kein neues Thema: Es beschäftigt ihn seit Social Justice and the City (1973) und wird in JNGD wiederaufgenommen. Diese Beschäftigung, so Harvey, sei zum einen notwendig, denn "keine Gesellschaft kommt ohne ein funktionierendes und funktionsfähiges Konzept von Gerechtigkeit aus" (333), und zum anderen auch politisch wichtig, denn Gerechtigkeit sei "ein starker Mobilisierungsdiskurs für politische Aktivität" (332) - eine Ansicht, die mit Ausnahme des Interviewers bzw. der Interviewerin der New Left Review (Harvey 2000: 91-93) alle Kommentatorinnen und Kommentatoren von JNGD zu teilen scheinen.
Was diese Einschätzung für sein wissenschaftliches Vorgehen bedeutet, führt Harvey in der Einleitung von JNGD aus. Dort beklagt er sich zunächst über den Mangel an "fundamentalen Glaubenssätzen" in der politischen Linken, um dann fortzufahren, dass für ihn "gerechte Produktion von gerechter geographischer Differenz" (5) das entscheidende Problem überhaupt sei. Aus dieser normativen Setzung leitet Harvey die Notwendigkeit ab, die Analyse von Raum, Zeit und Umwelt auf einem theoretisch abgesicherten Ideal von Gerechtigkeit aufzubauen, das in den produzierten materiellen Unterschieden wurzelt - ein Vorhaben, das sich als roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Weil Harvey außerdem der Ansicht ist, dass "eine Trennung von Fakten und Werten unmöglich zu erreichen" (10) sei (wobei er folgerichtig die moralische und die ökonomische Kategorie gleichen Namens [Wert/value] durcheinander wirft), changiert er notwendig zwischen Analyse und Bewertung und verfolgt diese immer vor dem Hintergrund jener, was m. E. auch der Grund für die in I. angesprochene Unübersichtlichkeit des Buches ist.
Dass Harvey die Gerechtigkeit so hoch hält, ist irritierend. Schließlich hatten Marx und Engels nur Spott und Kritik übrig sowohl für zeitgenössische Varianten des Gerechtigkeitsidealismus (z. B. bei Lassalle oder Proudhon) als auch für den Begriff selbst9. Das könnte nun reichlich egal sein, würde sich Harvey nicht explizit in der Tradition von Marx und Engels sehen. Weil dem aber so ist, sei hier kurz zum einen auf den Stellenwert von Gerechtigkeit im historischen Materialismus und zum anderen auf den Inhalt von Gerechtigkeit eingegangen.
Der historische Materialismus, dem es ja "in letzter Instanz" (MEW 37, 463) um "Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens" (ebd.) geht, hat für die Gerechtigkeit keine besonders einflussreiche Rolle vorgesehen. Harvey (331) zitiert sogar Engels' Kritik der Gerechtigkeit in Zur Wohnungsfrage (1873), wo es heißt: "Gerechtigkeit ist immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse" (MEW 18, 277). Diese "Verhimmelung" geschieht nicht unmittelbar. Verbunden sind ökonomische Verhältnisse und die Idee der Gerechtigkeit durch das Recht, mit dem der Staat den Umgang der Akteure miteinander regelt, im ökonomischen wie im sonstigen Leben. Gerechtigkeit wird so "der abstrakteste Ausdruck des Rechts selbst" (ebd.), d. h. die vom Staat gesetzten Regelungen verwandeln sich in etwas scheinbar gott- oder naturgegebenes. Wie z. B. Göçmen (1999) zeigt, gehört deshalb die Gerechtigkeit (wie auch die Moral) für Marx und Engels in den Bereich der Ideologie. Sie ist also mitnichten die (normative) Basis, aus der das geltende Recht und die ökonomischen Verhältnisse abgeleitet sind. Diese idealistische Vorstellung gilt es vielmehr vom Kopf auf die Füße zu stellen, um zu verstehen, dass 'Gerechtigkeit' nur die moralische Überhöhung des Rechtes ist, das wiederum nur soviel gilt, wie die (Staats-)Gewalt, die ihm zu seiner Durchsetzung verhilft.
Wenn nun Gerechtigkeit die moralische Überhöhung des Rechts ist, so lohnt es sich, zum Verständnis von Gerechtigkeit das Recht näher anzusehen. Das Recht, so Marx in der Kritik des Gothaer Programms (1875), "kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (...) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einem gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst" (MEW 19, 21). Unter dem Maßstab des Rechts wird also eine Abstraktion von den konkret vorliegenden Verhältnissen vollzogen, die alle Unterschiede verschwinden lässt. Wenn also vor dem Recht alle gleich sind - Offizier und Soldat, Vermieter und Mieter, Kapitalist und Arbeiter, Mann und Frau - dann ist gerade von ihrem jeweils sehr ungleichen Verhältnis zueinander abgesehen. Oder, wie es Anatole France ausdrückte, das Gesetz verbietet in seiner majestätische Gleichheit tatsächlich sowohl den Reichen wie auch den Armen, unter Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln, und Brot zu stehlen. In der Absehung von den konkreten Unterschieden liegt die Leistung der Abstraktion 'Recht' und mit ihr der 'Gerechtigkeit'. Sich daraus einen "starken Mobilisierungsdiskurs für politische Aktivität" (332) basteln zu wollen, sitzt der Gerechtigkeits-Ideologie also gerade auf. Dabei sind in sozialen Kämpfen die Ziele doch jeweils ganz klar, ob es nun um mehr Lohn geht, um Widerstand gegen sexuelle Gewalt oder gegen staatliche Repression. Sich dann auf die Abstraktionen von Recht und Gerechtigkeit zu berufen, sieht von diesen konkreten Zielen gerade ab. Konkret heißt das z. B.: Wenn im Sinne der Gerechtigkeit in den neuen Bundesländern die 'Anpassung der Löhne an Westniveau' gefordert wird, ist damit natürlich nichts anderes als 'mehr Geld' gemeint (eine Forderung, die völlig ohne 'Gerechtigkeit' auskommt) - verstanden werden kann es aber auch als 'weniger Geld für Wessis', denn auch dann wäre den hehren Grundsatz vom 'gleichem Lohn für gleiche Arbeit' Genüge getan.
JNGD ist also, um diesen Besprechungsaufsatz wie eine ordentliche Rezension zu beenden, ein anspruchsvolles, dafür sehr gut lesbares, z. T. amüsantes und immer zum Widerspruch anregendes Buch, das auch in der deutschsprachigen Geographie wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als ihm bislang zuteil wurde.
Anmerkungen
1 "The book does not work as a whole" (McDowell 1998, 3)
2 Alle Übersetzungen der Zitate B. B.
3 Damit wird die knappe Formulierung von Marx und Engels aus dem Manifest der Kommunistischen Partei (1848) aufgenommen, wo es heißt, dass es "bloß der Verbindung [bedürfe], um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter (...) zu zentralisieren" (MEW 4, 471; vgl. auch Harvey 1998a).
4 "My ambition in the chapters that follow, is to provide such a materialist framework for analysis and thereby integrate space, place, and environment into theories of social process". (45)
5 Vgl. etwa Altvaters Rede von den "absolute historical limits of the capitalist mode of production" (1998, 229).
6 Zu Geldform und Funktionen des Geldes vgl. das Kapitel "Das Geld oder die Warenzirkulation" im ersten Band des Kapitals (MEW 23, 109-160).
7 Dass diese Verteidigung angesichts der nur seltenen (öffentlichen) marxistischen Kritik an Harvey nicht häufig vonnöten ist, scheint mir v.a. drei Gründe zu haben: 1. gibt es nicht mehr allzu viele VertreterInnen dieses Ansatzes, 2. haben diese möglicherweise zu viel Respekt vor Harveys Werk der letzten 30 Jahre und 3. scheint es strategisch nicht sinnvoll, einen der prominentesten Vertreten der eigenen Richtung, die sich in den 1990er Jahren sowieso schon in der Defensive sah, öffentlich zu kritisieren.
8 "Bei aller Rede von Differenz, Pluralität und Heterogenität operiert die postmoderne Theorie mit ganz rigiden binären Oppositionen, wobei 'Differenz', 'Pluralität' und verwandte Begriffe brav auf der einen Seite des theoretischen Zauns als eindeutig positiv aufgereiht werden und die potentiellen Antithesen (Einheit, Identität, Totalität, Universalität) als Negativa auf der anderen Seite rangieren." (Eagleton 1997, 34 f.)
9 Ein besonders infames Beispiel dafür, diesen Umstand nicht nur zu ignorieren, sondern einfach das Gegenteil zu behaupten, liefern Andy Merrifield und Eric Swyngedouw (1997, 1): Sie zitieren zwei Stellen von Engels (MEW 18, 274) bzw. Marx/Engels (MEW 4, 480), in denen Standpunkte von Gerechtigkeitsidealisten dargestellt werden, so, als wären die Loblieder auf die Gerechtigkeit die Überzeugung von Marx und Engels selbst - und das, obwohl Marx und Engels diese Standpunkte in beiden Texten anschließend in Grund und Boden kritisieren.
Literatur
Altvater, Elmar 1998: Besprechung von Justice, Nature and the Geography of Difference. In: Historical Materialism 2. S. 225-235.
Becker, Jörg 1996: Geographie in der Postmoderne? Zur Kritik postmodernen Denkens in Stadtforschung und Geographie. Potsdam (= Potsdamer Geographische Forschungen. Band 12).
Braun, Bruce 1998: A Politics of Possibility Without the Possibility of Politics? Thoughts on Harvey's Troubles with Difference. In: Annals of the Association of American Geographers 4. S. 712-719.
Bringham, Ann 1998: What Difference does Difference Make? In: Gender, Place and Culture 3. S. 365-367.
Demeritt, David 1998: Besprechung von Justice, Nature and the Geography of Difference. In: Transactions of the Institute of British Geographers 1. S. 284-286.
Eagleton, Terry 1997: Die Illusionen der Postmoderne. Stuttgart und Weimar.
Featherstone, Dave 1998: Some Versions of Militant Particularism: A Review Article of David Harvey's Justice, Nature and the Geography of Difference. In: Antipode 1. S. 19-25.
Göçmen, Dogan 1999: Marx und die Kritik der Moral- und der Gerechtigkeitstheorien. In: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung 40. S. 67-80.
Harvey, David 2000: Reinventing Geography. Interview. In: New Left Review 4. S. 75-97.
Harvey, David 1998a: The Geography of Class Power. In: Panitch, Leo und Colin Leys (Hg.): The Communist Manifesto Now (= Socialist Register). Rendlesham. S. 49-74.
Harvey, David 1998b: The Humboldt Connection. In: Annals of the Association of American Geographers 4. S. 723-730.
Harvey, David 1990: Between Space and Time: Reflections on the Geographical Imagination. In: Annals of the Association of American Geographers 3. S. 418-434.
Harvey, David 1989: The Condition of Postmodernity. Oxford.
Harvey, David 1973: Social Justice and the City. London.
Jones, Andrew 1999: Dialectics and difference: against Harvey's dialectical 'postmarxism'. In: Progress in Human Geography 4. S. 529-555.
Marx, Karl und Friedrich Engels 1969 ff.: Werke (= MEW). Berlin.
Merrifield, Andy und Eric Swyngedouw 1997: Introduction. In: Dies. (Hg.): The Urbanization of Injustice. London.
McDowell, Linda 1998: Some Academic and Political Implications of Justice, Nature and the Geography of Difference. In: Antipode 1. S. 3-5.
Pulido, Laura 1998: The Sacredness of "Mother Earth": Spirituality, Activism, and Social Justice. In: Annals of the Association of American Geographers 4. S. 719-723.
Riedmann, Erwin 1999: Besprechung von Justice, Nature and the Geography of Difference. In: Das Argument 230. S. 444-447.
Young, Iris Marion 1998: Harvey's Complaint with Race and Gender Struggles: a Critical Response. In: Antipode 1. S. 36-42.
Autor: Bernd Belina