Institutionen für die Armen. Die Weltentwicklungsberichte 2002 und 2003

Armutsminderung ist die übergeordnete Orientierungsgröße heutiger Entwicklungszusammenarbeit. Der Weltentwicklungsbericht 2000/2001 der Weltbank bietet eine grundlegende Diskussion zu diesem Thema. Ich habe diesen Bericht in der Geographischen Revue (1/2002) ausführlich besprochen. In Ergänzung dieser Besprechung sollen hier kurz die beiden Nachfolgeberichte von 2002 und 2003 vorgestellt werden, da sie das Thema in wesentlichen Aspekten vertiefen (was im übrigen auch für den in Vorbereitung befindlichen Bericht für 2004 gilt: Making Services Work for Poor People, vgl. http://econ.worldbank. org/wdr/wdr2004).

In beiden Berichten steht die Bildung von Institutionen im Mittelpunkt. Im WDR 2002 (World Development Report 2002; ich beziehe mich auf die englischsprachigen Versionen der Berichte) wird dabei eine vergleichsweise enge, dem konventionellen Kernparadigma der Weltbank ("durch mehr Markt Armut besiegen") folgende Perspektive eingenommen. Wie der Untertitel Building Institutions for Markets andeutet, geht es um Institutionen, die Armen einen verbesserten Zugang zu Märkten, zu Ressourcen, zu höherem Einkommen ermöglichen. Im Vergleich zu dieser relativ engen thematischen Fokussierung werden im WDR 2003 (Untertitel: Sustainable Development in a Dynamic World: Transforming Institutions, Growth, and Quality of Life), gerade rechtzeitig zum Weltgipfel in Johannesburg im August/September 2002 erschienen, Institutionen unter einer thematisch breiteren und zeitlich langfristigen, nämlich 50-jährigen Perspektive untersucht, wobei nun häufig gerade das Versagen von Märkten als Steuerungsmechanismen festgestellt wird (was den Economist vom 24. August 2002 zu der Frage veranlasst: "Is the World Bank turning Marxist?").
Doch zunächst zum WDR 2002. Hier wird ein Rahmen skizziert, der sich an den Ansatz der Institutional Economics anlehnt. Dabei stehen die Begriffe "Transaktionskosten" und "Eigentumsrechte" im Mittelpunkt. Eingebettet in eine Armutsminderungsstrategie werden die Senkung von Transaktionskosten und die "Erreichbarkeit" (accessibility) von Institutionen durch arme Bevölkerungsschichten zum entwicklungspolitischen Leitkriterium der Verbesserung von "Institutionen für den Markt", die, so der Ansatz des Berichts, auf den Gebieten der Informationsbeschaffung (über Güter, Marktbedingungen, Marktteilnehmer usw.), der Eigentumsrechte sowie der Marktkonkurrenz zu erfolgen habe.
Sachlich erstreckt sich die Untersuchung auf drei große Bereiche: Privatwirtschaftliche Unternehmen - angefangen beim Kleinbauern, für den Institutionen des Landrechts, des Technologietransfers sowie ländliche Finanzsysteme von Bedeutung sind, bis hin zur modernen Firma und deren Organisationsformen und Kontrollstrukturen -, staatliche Institutionen - die politische (Staatshaushalt, Handelsregulierungen, Dezentralisierung, zivilgesellschaftliche Partizipation), juristische und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen (Marktzugangsregulierung, Eigentumsrechte, Marktöffnung etc.), aber auch das Vorhalten von Großinfrastruktur durch den Staat (z. B. Trinkwasserversorgung, Telekommunikation, Elektrizität) betreffen - und gesellschaftliche Institutionen (Normen und Netzwerke) einschließlich des Bereichs der Massenmedien.
Historisch sind Institutionen, die für Arme erreichbar sind, häufig zunächst informeller Natur. Hierzu wird jedoch zu Recht angemerkt, dass diese keinesfalls einen intrinsisch egalitären Charakter aufweisen, vielmehr zeichnen sie sich häufig dadurch aus, dass ganze Gruppen (z. B. Dorf- oder Sprachgemeinschaft, Nationalität, Glaubensgruppe usw.) vom Zugang zu Ressourcen (z. B. Märkten, Nutzungsrechten usw.) ausgeschlossen werden. Letztlich seien es deshalb formale Institutionen der modernen Zivilgesellschaft, auf die sich armutsorientierte Institutionenbildung konzentrieren müsse mit dem Ziel, für Arme die Chancen und Effizienz der Teilnahme an Märkten zu verbessern. Pragmatische Gesichtspunkte spielen bei der Frage der Erreichbarkeit von Institutionen für Arme eine große Rolle. In diesem Sinne müsse etwa ein formales Rechtssystem nicht nur nach der Qualität des gesprochenen Rechts, sondern auch unter Kosten- und Leistungsgesichtspunkten (z. B. Länge und Kosten der Verfahren) bewertet werden, denn beides beeinflusse, ob Arme überhaupt in den Genuss formaler Rechtssprechung kommen können.
Um erfolgreich zu sein, müsse bei der Institutionenbildung das Netz komplementärer Institutionen (complementary institutions) berücksichtigt werden, denn hieraus ergäbe sich, was funktionieren kann und was nicht. Vervollständigen dessen, was vorhanden ist (complementing what exists), heißt deshalb die primäre, im Bericht immer wieder betonte Devise. Man kann sich ja leicht eine Situation vorstellen, in der die Formalisierung des Landrechts nicht der beste Weg wäre, Armen den Zugang zu Land zu sichern, nämlich dann nicht, wenn z. B. wegen fehlender oder nur verzerrt funktionierender Komplementärinstitutionen (z. B. amtliches Kataster, unabhängige Rechtssprechung) die Feststellung und Durchsetzung individueller Rechtsansprüche für Arme erschwert oder unmöglich, für wohlhabende Schichten aber erreichbar ist.
Mit anderen Worten, marktorientierte Institutionenbildung wird nicht als ein Blaupausenverfahren verstanden, sondern als ein auf historischen und lokalen Gegebenheiten aufbauender Prozess, in dem u.a. Prinzipien wie Verfahrensvereinfachung (simplification), schrittweises, an der Nachfrage nach Institutionen und den Kapazitäten orientiertes Vorgehen (gradual access), auch die Unterstützung geeigneter informeller Institutionen, und vor allem das Leitprinzip "Zugänglichkeit für alle" (inclusiveness) ihren Platz haben müssen.
Auch im WDR 2003 geht es um Institutionenbildung, hier allerdings in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Durchsetzung und langfristige Verankerung von Änderungsprozessen: Institutions for Sustainable Development. Angesichts der in den letzten 10 Jahren eher geringen Erfolge einer auf Nachhaltigkeit abstellenden Entwicklungspolitik und der Probleme, die für die nächsten 50 Jahre zu erwarten sind (z. B. leben über eine Milliarde Menschen in fragilen Ökosystemen, die urbane Bevölkerung in der Dritten Welt nimmt explosionsartig zu, natürliche Ressourcen wie Süßwasser, Boden, Wald etc. nehmen dagegen kontinuierlich ab), sieht der Bericht lediglich ein knappes und jetzt zu nutzendes Zeitfenster, um mit Aussicht auf Erfolg die langfristig sich anbahnenden und auswirkenden Probleme anzugehen.
Wurde im Weltentwicklungsbericht von 1992 (Thema Umwelt) - u. a. mit Verweis auf die vielfachen Optionen, gesellschaftliche win-win-Lösungen zu realisieren, die Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig ökologischer Verbesserung garantierten - noch Zuversicht verbreitet, so wird im WDR 2003, auch im häufigen Vergleich mit jenem, damals bemerkenswerten Report, die Sachlage sehr viel nüchterner gesehen (vgl. auch Acharya und Dixon 2002). Illusionen, die allerdings auch damals schon z. T recht formal und weltfremd anmuteten, sind zerstoben. Nun wird der für eine kapitalistische Markwirtschaft sicher nicht untypische Gegensatz zwischen gesellschaftlichem Nutzen und privatem Gewinn als Hemmschuh für die Realisierung von win-win-Lösungen anerkannt. Nicht, dass hier eine marxistische Wende vorläge (s. o.), vielmehr wird dieses Problem als Versagen gesellschaftlicher Institutionen interpretiert, und zwar in ihrer Kapazität, die gesellschaftlicheVerteilung von Gütern/Ressourcen (assets) in einer Weise zu steuern, dass sie für breite Bevölkerungsschichten und Interessengruppen erreichbar sind (inclusive access of assets) und dadurch nachhaltige und wirkungsvolle Entwicklungsprozesse ermöglichen.
Dabei wird Nachhaltigkeit (sustainability) im Zusammenspiel mit einem breiten portfolio of assets gesehen, bestehend aus human assets, natural assets, physical bzw. financial assets, knowledge assets und social assets. Und im Gegensatz zu fundamentalistischen Ökopositionen wird zu Recht ein schwacher Nachhaltigkeitsbegriff benutzt, der die Substituierbarkeit der assets bei Wahrung langfristiger gesellschaftlicher Wohlfahrtsmaximierung erlaubt (hiernach wäre z. B. die Versiegelung der Landschaft mit einer schönen breiten Straße nicht per se ein Akt des nicht-nachhaltigen, kurzsichtigen Wachstums, sondern ließe sich durchaus mit dem Ziel langfristiger Wohlfahrtsmaximierung vereinbaren). Mit dem portfolio of assets werden gesellschaftliche Verteilungsfragen in den Vordergrund gerückt (ein Thema, das beileibe nicht nur Entwicklungsökonomien betrifft!). Eingebettet in das Modell eines policies-institutions-assets loop, vermitteln Institutionen zwischen der gesellschaftlichen Verteilung von assets und politischem Handeln (policies): "Policies shape institutions and distribution of assets. Distribution of assets shapes institutions and policies." (ibid., Overview, p. 2)
Welche Eigenschaften müssen nun Institutionen aufweisen, um z. B. eine Gesellschaft frühzeitig in die Lage zu versetzen, gesellschaftlich wünschenswerte Lösungen auch gegen Gruppeninteressen durchzusetzen, kurz, das portfolio of assets im gesamtgesellschaftlichen Sinne erfolgreich zu verwalten? Drei Funktionen werden herausgestellt: "Picking up signals - sensing and anticipating problems and listening to messages from the social and geographic fringes of society. Balancing interests - mobilizing dispersed interests and providing forums in which all parties can express their interests, assess options and strategies, and work out mutually acceptable bargains ... Executing agreements - following through on what has been decided." (ibid., p. 7) Diese Eigenschaften weise der Markt eben nicht immer in hinreichendem Maße auf. So erkläre das Fehlen von Institutionen mit jenen Eigenschaften z. B. so unterschiedliche Dinge wie den Zusammenbruch der Fischereiwirtschaft Neufundlands, aber auch den des Unternehmens Enron: "Potentially renewable assets - fish in one case, trust in the other - were run down, to the short-run benefit of some but the long-run loss of society." (ibid., p. 8) Es bedürfe deshalb eines ganzen Bündels zivilgesellschaftlicher Institutionen, die eine frühe und breite Problemwahrnehmung ermöglichen sowie die Fähigkeit zum Ausgleich von Interessen und die Durchsetzung von Maßnahmen und Regelungen (z. B. von Eigentumsrechten an öffentlichen Gütern) haben. Dafür müsse die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite in den Institutionen repräsentiert sein, zu Wort kommen. Nur dann gäben sie eine stabile, aber auch anpassungsfähige Handlungsumgebung ab (ibid., p. 37.).
Was steht der Bildung solcher Institutionen entgegen und wie können diese Hindernisse überwunden werden? Hindernisse seien etwa, dass sich Interessen einer breiten Mehrheit nicht gegenüber kleinen, aber mächtigen Einflussgruppen artikulieren können (dispersed versus concentrated interests) und dass eben breite Schichten von politischer, ökonomischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation ausgeschlossen sind. Entsprechend benötige Institutionenbildung im hier geforderten Sinne empowerment through improved access to assets, increased democratization, inclusion and participation breiter Bevölkerungsschichten (ibid., p. 50ff.).
Dieser konzeptionelle Rahmen, der Armutsminderung und Nachhaltigkeit in ein Marktwirtschaftssystem mit Wachstumsziel einbettet, wird in zwei lesenswerten Kapiteln dargelegt und dann anhand einer Fülle von Beispielen und Sachbereichen im einzelnen ausgeführt. Die Darstellung folgt dabei einer räumlichen Perspektive (a spatial approach), wobei jeweils eigene Problembereiche angesprochen werden: Verknappung natürlicher Ressourcen in ländlichen/marginalen Räumen, Probleme der von rapidem Bevölkerungswachstum betroffenen urbanen Räume der Dritten Welt, massive Koordinierungserfordernisse auf nationalstaatlicher Ebene (kohärente Politiken), globale Probleme und Institutionen (z. B. bzgl. Biodiversität und Klimawandel).
Abschließend bleibt festzustellen, dass die Diskussion in beiden Berichten wie gewohnt auf hohem Niveau erfolgt. Die Optionen armutsorientierter Politiken werden geschickt im Rahmen der Instrumente dargelegt, die einer marktwirtschaftlich verfassten (wenn sie es denn ist) und auf Privateigentum basierenden Gesellschaft zur Verfügung stehen. Die Notwendigkeit und Möglichkeit systemkonformen Wandels wird insbesondere im WDR 2003 vorgeführt. Bleibt nur zu wünschen, dass in 10 Jahren ein erfreulicheres Resümee gezogen werden kann, als der diesmalige Rückblick auf die vergangenen 10 Jahre ergab. Zum Erfolg würde sicher beitragen, wenn die Weltbank als eine internationale Institution der Entwicklungszusammenarbeit mit erheblichem Einflusspotential es besser verstände, ihre theoretischen Erkenntnisse und idealen Zielvorstellungen mit den profanen Dingen der Projektwirklichkeit in Einklang zu bringen und beispielsweise die in den letzten Reports ausgebreiteten Gedanken zur Institutionenbildung in der Praxis umzusetzen.
Literatur
Acharya, G. und J. Dixon 2002: No One Said it was Going to be Easy! An Analysis of the Recommendations made by the 1992 World Development Report and the Experience in the last Decade. WDR 2002 Background Paper. [http://econ.worldbank.org/wdr/wdr2003/...]
Jäckel, W. 2002: Durch Globalisierung und Good Governance Armut bekämpfen. Der Weltentwicklungsbericht 2000/2001. Geographische Revue 1/2002, S. 61-71.
Weltbank 2001 [WDR 2002]: World Development Report 2002. Building Institutions for Markets. New York: Oxford University Press.
Weltbank 2002 [WDR 2003]: World Development Report 2003. Sustainable Development in a Dynamic World: Transforming Institutions, Growth, and Quality of Life. New York: Oxford University Press.
Autor: Wolfram Jäckel

Quelle: geographische revue, 5. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 71-75