Günter Meyer u. Andreas Thimm (Hg.): Ethnische Konflikte in der Dritten Welt: Ursachen und Konsequenzen. Mainz 2001 (Veröffentlichungen Interdisziplinärer Arbeitskreis Dritte Welt, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Bd. 14). 229 S.
Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes haben zumindest in der europäischen und nordamerikanischen Wahrnehmung weltweit ethnische Konflikte in einer Weise an Häufigkeit und Dimension zugenommen, daß bereits von einer Bedrohung der "neuen Weltordnung" gesprochen wird. Gemeint sind meist kriegerische Auseinandersetzungen unterhalb der Ebene des Staates, in die ethnische Gruppen, entweder untereinander oder gegen den Staat, involviert sind. Die in den Medien leicht mystifizierende Rede von den "Warlords" als den Führern ethnischer Gruppen suggeriert die Verbindung traditionellen Ansehens mit moderner Kriegführung. Allerdings weiß man bislang wenig über Ursachen, Verlauf und Perspektiven solcher Konflikte, erst recht nicht über den Zusammenhang von kolonialer Vergangenheit, Demokratisierung, Ethnokratie und Elitenbildung.
Insofern ist der Band über ethnische Konflikte in der Dritten Welt ausgesprochen begrüßenswert.
Der Band faßt einen theoretischen Artikel und acht Fallstudien aus unterschiedlichen Ländern zusammen, wobei stillschweigend,´wenn auch mit einiger Berechtigung, Kaukasien zur Dritten Welt gerechnet wird. Als zentrale Ursache ethnischer Konflikte macht S. Schmidt in seinem Theorie-Beitrag im wesentlichen das Scheitern des Nationalstaatskonzeptes nach der Unabhängigkeit, auch das Scheitern der Modernisierung, aus. Obwohl vor allem außerhalb Afrikas noch ein Mangel an empirischer Forschung zu verzeichnen ist, spricht vieles dafür, daß autoritäre und ethnokratische Herrschaftspraxis im postkolonialen Staat den Kampf um staatliche Ressourcen
begünstigt haben. Dabei sind in der Konkurrenzdemokratie die Privilegien des Zuganges zur "gigantischen Milchkuh", den Staatsressourcen, meist nach der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen verteilt. Ethnische Konflikte werden offenbar vor allem dann ausgelöst, wenn Minderheiten überproportional benachteiligt werden und sich in ihrer Frustration über die anhaltende soziale und ökonomische Deprivation ethnisch formieren, um sich mit Gewalt Zugang zu staatlichen Ressourcen zu verschaffen. Offenbar fördert ökonomischer Niedergang mit zusätzlicher Verknappung der Ressourcen diesen Vorgang, obwohl in diesem Sinne ein Automatismus gerade im Ländervergleich nicht nachweisbar ist.
In der Regel werden ethnische Konflikte von strategischen Gruppen inszeniert, deren Angehörige nicht selten Universitätsabschlüsse haben und die, ausgeschlossen vom staatlich legitimierten Zugriff auf Ressourcen wie Stellen, Land, selbst Erdöl (z. B. Sudan), über die Mobilisierung ethnisch orientierter Privatarmeen den Staatsapparat zu "kapern" suchen (R. Rottenburg). Dieser Aspekt der Mobilisierung von Anhängern auf der Grundlage von Ethnizität bleibt in den verschiedenen Fallstudien einigermaßen unscharf. Plausibel scheinen aber die Hinweise, daß vor allem externe Interventionen, so nicht nur US-Bombenangriffe auf vermeintliche islamistische Stellungen im Nordsudan oder andere Formen internationaler Ausgrenzungen des Sudan, sondern auch humanitäre Hilfeleistungen, die gezielt nicht an staatliche, sondern an ethnische Organisationen gehen, zur Stärkung ethnischer Identität und Kampfbereitschaft beitragen. Auf diesem Hintergrund sind die Folgen amerikanischer und europäischer Intervention in Afghanistan für eine Revitalisierung interethnischer Gegensätze noch gar nicht absehbar.
Im übrigen nehmen vor allem S. Schmidt und am Beispiel des Sudan auch R. Rottenburg die Theorie von der Re-Traditionalisierung durch Globalisierungsprozesse auf. Danach bedrohen Pluralisierung der Lebensstile und globale Konsumkultur kollektive Identität, und auch von der Demokratie gehen Gefühle von Unsicherheit und Angst vor Benachteiligung aus, die offenbar am ehesten mit einer "Politik der Autochthonie" aufgefangen werden können: in der Ausgrenzung alles Fremden wird das Heil gegen die "Auflösung und Verwischung von Grenzziehung aller Art" (R. Rottenburg) gesehen, und letztlich sind aus dieser Perspektive ethnische Säuberungen nicht nur als Mittel gegen bedrohliche Hybridiserungsprozesse, sondern auch als Ausdruck des Wunsches nach authentischer Zugehörigkeit zu sehen. Diese Erklärung klingt zwar plausibel, ist dennoch empirisch kaum unterfüttert. Überhaupt bleibt ungeklärt, unter welchen kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen noch am ehesten ethnische Konflikte entstehen bzw. ausgelöst werden. Im folgenden sollen, da es hier nicht möglich ist, die Einzelbeiträge insgesamt zu würdigen, einige der wichtigsten Kategorien aus dem auch getrennt lesenswerten Theorie-Artikel von S. Schmidt über die Ursachen ethnischer Konflikte auf ihre Relevanz in den verschiedenen Fallstudien überprüft werden. Tatsächlich werden, durchaus sinnvoll, in letzteren spezifische historische Hintergründe, Auslöser, Akteure, Typus von Ethnizität oder Mobilisierungsstrategien, je nach der Struktur des Falles, akzentuiert. So betont C. Wagner in seiner Analyse ethnischer Konflikte in Sri Lanka gerade die "modernen" Aspekte der Auseinandersetzungen. Danach haben die Träger ethnischer Ideologien in jenem Land meist westliche Schul- und Bildungsabschlüsse und bedienen sich moderner Argumentationshilfen wie Statistik, Wissenschaft und Geschichtsschreibung. Obwohl als "ethnische Unternehmer" weiterhin einem lokalen und regionalen Klientel verpflichtet, obwohl auch die Gewalttätigkeit der Konflikte durchaus lokal begrenzt bleibt, wird der Konflikt argumentativ inzwischen global ausgetragen: unter Berufung auf die Charta der UN und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, unter Nutzung weltweiter ethnischer Netzwerke, die bis in den US-Congress reichen, unter Einschaltung von Internet und internationaler Nachrichtenagenturen mit dem Ziel einer Beeinflussung internationaler Politik, nicht zuletzt internationaler Entwicklungspolitik.
Ein interessantes Beispiel der Aufnahme moderner Elemente in den ethnischen Konflikt bietet auch die Fallstudie des Neozapatismus in Chiapas/Mexiko (M. Traine). In einer eigentümlichen synkretistischen Verbindung von indigener Tradition mit katholischen Werten, nationalistschen Zielen und kommunistischer Ideologie gelingt offenbar so etwas wie eine politische Ethnisierung der Demokratie und die Schaffung eines kollektiven Bewusstseins sozialer Ungerechtigkeit. Dabei besteht das Moderne gerade im Medium der politischen Inszenierung, auch wenn die dabei eingesetzten Symbole auf traditionelle Ikonographie und Mythen der mexikanischen Geschichte, Zapata, revolutionäre Bauern und "unbesiegbaren Indianer" zurückgreifen.
Aufschluß- und lehrreich sind im übrigen auch die historischen Belege aus einigen Fallstudien dafür, daß ethnische Gruppen gleichsam ein Produkt der jüngsten Kolonialgeschichte sind. Dies gilt etwa für Rwanda (A.-M. Brandstetter), wo sich noch im 19. Jahrhundert die Tutsi und Hutu lediglich nach emischen Kategorien sozialer Gegensätze, die allerdings durch soziale Mobilität beseitigt werden konnten, unterschieden. Erst die Europäer machten daraus Ethnien, indem sie die Tutsi mit Funktionen in Kolonialverwaltung und Kirche betrauten. Die nach der Unabhängigkeit zunächst von den gebildeten Hutu kritisierten Privilegien der Tutsi waren dann die moralische und ideologische Grundlage für Pogrome an und Vertreibung von Tutsi bis in die 90er Jahre unter Begleitung entsprechender rassistischer Propaganda. Während der angesprochene konstruktive Charakter von Ethnizität in der wissenschaftlichen Literatur inzwischen durchaus geläufig ist, überrascht in der Fallstudie von Rwanda doch, daß das Feindbild von den Tutsi als Sündenbock für politische und ökonomische Fehlentwicklung, trotz keineswegs identischer Rahmenbedingungen, mit ähnlich verheerenden Konsequenzen ethnischer Konflikte in das Nachbarland Kongo "exportiert" wurde.
Der europäische Blick auf Ethnizität wird im übrigen auch in den Beiträgen über den Sudan und Indonesien aufgegriffen. So vermutet R. Rottenburg, daß die alte europäische Wahrnehmung vom Gegensatz zwischen dem "guten Sudanesen", dem autochthonen, heidnischen "edlen Wilden" des Südens einerseits und dem islamisch-arabischen Nordsudanesen, dem Eindringling und fremden Händler andererseits, bis heute zum Wesen des ethnischen Konfliktes im Sudan gehört und etwa auch das Selbstbild der Araber als Wahrer der Zivilisation gegen "afrikanische Rückständigkeit" beeinflußt.
In dem ansonsten eher oberflächlichen Beitrag über Indonesien (S. Schröter) macht die Beobachtung nachdenklich, dass der Land-Konflikt zwischen christlichen Dayaks und muslimischen Maduresen auf Kalimantan von den europäischen Medien verfälschend als ethnischer Konflikt dargestellt wurde, obwohl auf der Seite der Dayaks auch muslimische Malaien beteiligt waren. Diese Form eurozentrischer Ethnisierung von Konflikten in der Dritten Welt entspricht nicht nur der europäischen Lust in vormodernen Lebensformen in anderen Kulturen, sondern folgt latent offenbar auch der bedenklichen Huntington'schen These von kulturellen Gegensätzen als dem Auslöser moderner Konflikte.
Leider vermißt man in den Fallstudien fast durchgehend die Analyse der Bedeutung von gemeinsamem Territorium, das üblicherweise als eines der Kennzeichen von Ethnizität gilt, von S. Schmidt in seiner Begriffsbestimmung aber übergangen wird. Um so mehr bemüht sich J. Stadelbauer in seiner Studie zur "ethnogeographischen Differenzierung" (das Inhaltsverzeichnis spricht von "ethnographischer Differenzierung") Kaukasiens um räumliche Aspekte. Der Artikel enthält eine Reihe von Karten, die recht eindrucksvoll die verwirrende Verflechtung von Ethnien, die räumliche Verteilung "politisch-territorialer Konflikte" und die wichtigsten Flüchtlings- und Umsiedlerströme wiedergeben. Interessant ist, daß ethnische Konflikte in Kaukasien zum großen Teil als Erbe staatlicher Interventionen zu sehen sind. So siedelten etwa die Laken in ehemaligen Siedlungsgebieten der während des Krieges auf Veranlassung der sowjetischen Zentralregierung deportierten Tschetschenen, die ihrerseits nunmehr auf einer Revision alten Unrechts und Wiederansiedlung in ihren alten Territorien bestehen. Das interethnische Konfliktpotential wird zudem durch die Auswirkungen der sowjetischen Agrarkolonisation verstärkt, mit der vielfach (Fern-)Weidegebiete in Ackerland umgewandelt und deren Nutzungsrechte an andere Ethnien vergeben wurden; auch hier wird eine Revision alter Landrechte, gegen den Widerstand der gegenwärtigen Nutzer, eingeklagt. Natürlich kann man sich vorstellen, wie gemeinsames Unrecht elementarer Bestanteil des kollektiven Gedächtnisses der betroffenen Ethnien ist und nach der politischen Wende zur Stärkung ethnischer Identität beiträgt. Leider aber enthält dieser Beitrag keine Einzelheiten über Aspekte der Mobilisierung von Anhängerschaft entlang ethnischer Linien, die Mythen des alten Landes, über Eliten, deren Strategien im intra- und interethnischen Diskurs, nicht zuletzt über die Vertretung von ethnischen Ansprüchen gegenüber der Zentralregierung in Moskau, die, im Falle Tschetscheniens besonders evident, bisher aus Gründen von Geopolitik (Erdöl), aber auch aus Angst vor Prestigeverlust, offenbar jede Form von Zugeständnissen ablehnt.
Die Unzulänglichkeiten des Bandes sind eher konzeptioneller Natur. Offenbar war man sich bei der Zusammenstellung des Bandes über das Konzept ethnischer Konflikte, ja von Ethnizität, nicht ganz einig. Jedenfalls ist fraglich, worin etwa im Beitrag von A. Thimm über die peruanischen Anden der ethnische Konflikt besteht: der Verfasser scheint sich da selbst nicht sicher zu sein, zumal er betont, dass "Indio" nicht als ethnischer, sondern als sozio-ökonomischer Begriff zu verstehen ist und auch die Organisation der Campesinos eine generelle Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen verfolgt, nicht jedoch ethnisch-kulturelle Forderungen erhebt. Ähnlich handelt es sich offenbar im Falle der Kurden im Nordirak (E. Franz) unter dem Druck der Interessen der irakischen Zentralregierung wie jener der angrenzenden Staaten eher um einen intraethnischen Konflikt denn um einen solchen zwischen Kurden und Staat (bzw. angrenzenden Staaten). Dennoch liest sich dieser Beitrag mit Gewinn, weil er zur Chronologie des erneuten Golfkrieges gehört.
Im übrigen fällt die Zusammenstellung der Fallstudien so heterogen aus, wie man dies bei einem globalen Zugriff erwarten muß. Um so wichtiger wäre ein synoptischer bzw. vergleichender Beitrag gewesen, in dem strukturelle Elemente ethnischer Einzelrezensionen Konflikte wie Eliten/Akteure, Mobilisierungsstrategien, die Bedeutung ausländischer Intervention (z. B. durch Waffenlieferungen), die Rolle von Religion etc. hätten beleuchtet werden können. So aber sieht sich im Vorwort A. Thimm außerstande, die Fallstudien in griffige Thesen zusammenzufassen, erwartet dennoch, daß detaillierte empirische Einzelfall-Analysen zur Konfliktlösung, "insbesondere durch vermittelnde Intervention von außen", beitragen könnten. Bleiben also einerseits im Band die empirischen Fallstudien ohne synoptische Reflexion von Gemeinsamkeiten und Differenzen, so muß der eingangs untergebrachte Artikel von S. Schmidt mit Thesen über "Ursachen ethnischer Konflikte in der Dritten Welt" ohne Bezug zu den darauf folgenden Einzelfällen auskommen. Allerdings wird dies konzeptionelle Defizit des Bandes durch die anspruchsvolle theoretische Einbettung einiger Einzelfälle, so zu Sri Lanka (C. Wagner), Sudan (R. Rottenburg) und Chiapas (M. Traine), gleichsam gemildert.
Trotz der kritischen Bemerkungen stellt der Band sicherlich einen lesenswerten empirischen und, obwohl eine "grand theory" ethnischer Konflikte weiter aussteht, auch theoretischen Beitrag zum Verständnis eines wichtigen aktuellen Problems der Dritten Welt dar.
Autor: Ulrich Mai