Dirk Baecker, Peter Krieg und Fritz B. Simon (Hg.): Terror im System. Der 11. September und seine Folgen. Heidelberg 2002. 241 S.

Immer wieder stellt sich bei geographischen Studien, also bei wissenschaftlichen Beschreibungen und Analysen mittels Kategorien des Faches Geographie, die Frage, welche außer-geographischen Sachverhalte und Forschungsbeiträge zu berücksichtigen sind. Dabei steht meist nicht in Frage, ob man solche Forschungen der Nachbarfächer benötigt, sondern welche man auswählen sollte und welchen Stellenwert sie dann für die Gesamtanalyse bekommen. In diesem Sinne ist der Band über das epochale Ereignis des 11. September 2001 nicht nur ein an die Geographie anschließbarer, sondern ein ausgesprochen  anschlusswürdiger Text. Er versammelt zwölf Beiträge aus der (Sozial-)Psychologie, der Soziologie, der Rechts- und der Medienwissenschaft. Sie waren im Mai 2002 abgeschlossen worden, also lange vor Beginn des neuerlichen Irak-Krieges.

Von der Masse an Studien über das Geschehen des 11. September hebt sich der Band vor allem durch seinen konsequent systemtheoretischen und dennoch vielfältigen methodischen Ansatz ab. Die Beiträge stammen von Wissenschaftlern und Kunstschaffenden, die fast ausnahmslos der Systemtheorie NIKLAS LUHMANNs nahe stehen; zusammengenommen, lassen sich die Aufsätze lesen als Skizzen zu einer multiskalar konzipierten systemtheoretischen Erklärung von "Nine Eleven". Dies macht den Band für Geographen inhaltlich und methodisch relevant.
Systemtheoretiker LUHMANNscher Prägung neigen dazu, die Weltgesellschaft als die eigentlich relevante Analyseebene zu betrachten. Dementsprechend schlägt einer der Herausgeber, der Organisationssoziologe DIRK BAECKER vor, die Auseinandersetzung zwischen Terroristen und der von den USA angeführten Koalition "nicht als Auseinandersetzung zwischen einer Terrorgruppe und einem Staat beziehungsweise einer Staatengruppe, sondern als eine Auseinandersetzung der Gesellschaft, und zwar der Weltgesellschaft mit sich selbst zu betrachten, als einen Bürgerkrieg also" (S. 208). Auch die meisten anderen Autoren ziehen diese Schlussfolgerung.
Auf kulturell-religiöse Funktionssysteme eingehend, schlägt PETER KRIEG, der für seine kritischen Filme über weltgesellschaftliche Themen vielfach preisgekrönt wurde, vor, als "Subtext" für Analysen der heutigen Weltgesellschaft das Kategorienpaar "normative" und "kognitive" Lebensorientierung zu verwenden: Es war im Jahre 1959 vom jungen
JOHAN GALTUNG eingeführt und erprobt worden. Wissenschaft versus Religion; Freiheit versus Gerechtigkeit als Leitprinzip gesellschaftlicher Organisation; aufgeklärtes, potentiell grenzenloses Denken im Westen versus religiös eingegrenztes Denken in islamischen Gesellschaften: Selbst auf lange Sicht sieht KRIEG keine Möglichkeit, diese in unserer Welt gleichzeitig existenten Grundprinzipien gesellschaftlicher (und damit räumlicher) Ordnung "nach einer Seite aufzulösen". Eine Versöhnung der Kulturen sei unabdingbare Voraussetzung für dauerhaften Frieden, praktikable Wege dorthin vermag KRIEG aber ebenso wenig aufzuzeigen wie die anderen Autoren des Bandes.
Auch nationale Züge haben ihre Bedeutung und Erklärungskraft für (geo-)politisches Handeln keineswegs verloren. Darauf verweist WILLIAM RASCH, Professor für Germanic Studies in den USA, in seinem Beitrag über "Carl Schmitt und die völkerrechtliche Form der amerikanischen Hegemonie", der kulturhistorisch weit ausgreift und betont mit räumlichen Kategorien argumentiert. Schmitt hat die zwischen 1492 und den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts bestehende Weltordnung als ein System gesehen, in dem "das alte innereuropäische Gleichgewicht der Macht auf einer asymmetrischen Exklusion der nichteuropäischen Welt" aus dem Geltungsbereich des europäischen Rechts beruhte (S. 157). In systemtheoretischer Diktion: "Das Nichteuropäische (...) fungierte als die ‚Umwelt', welche die allumfassende Einheit und Identität des intern differenzierten ‚Systems', das Europa war, gewährleistete" (S. 137). Und in drastischer Alltagssprache: "Es war, als ob ein ‚Bordell der Gewalt' geschaffen worden wäre, damit zu Hause (in Europa) anständige Beziehungen erhalten werden konnten" (S. 136). Diese die Weltgesellschaft stabilisierende, wechselseitige Bezogenheit von Zentrum und Peripherien sei, so Schmitt weiter, nicht länger konstitutiv für die US-amerikanischen Weltbilder, die als Folge der Weltkriege des 20. Jahrhunderts zu globaler Vorherrschaft gelangen konnten. Vielmehr bestünde die handlungsleitende Norm dieser Nation nun in einem Universalismus, bei dem "die Unterscheidungen zwischen Familien, Stämmen, Nationen, Freunden und Feinden verschwinden sollen" (S. 150). Die elementaren Fragen, die WILLIAM RASCH aus dieser Analyse im Hinblick auf die Gegenwart ableitet, lauten so: "Welche neue Exklusion wird nötig sein für ein neues Gleichgewicht, und ist diese neue Exklusion erträglich?" (S. 157). Wie also kann man "Gleichheit und Differenz zusammendenken"? Wie Macht habende (Geo-)Politiker versuchen, diese sehr geographischen Fragen zu beantworten, lässt sich seit dem 11. September laufend verfolgen.
Schließlich die Ebene von individuellen und sozialpsychologischen Handlungsmustern der (potentiellen) Terroristen. In seinem den Band einleitenden "Versuch einer Definition" des Konzepts Terrorismus betont auch FRITZ B. SIMON die Asymmetrie der Beziehungen zwischen dem Westen und seinen Kritikern und betont bei letzteren die Triebkraft von verletztem Stolz, Kränkung und Demütigung. Der Psychohistoriker LLOYD DE MAUSE führt in einem Beitrag über "Die Ursprünge des Terrorismus in der Kindheit" bestimmte Verhaltensdispositionen auf eine extrem von Strafen geprägte Erziehungspraxis in islamischen Gesellschaften zurück (vgl. S. 55).
In ihrer Gesamtheit machen die Beiträge die außerordentliche Komplexität der Zusammenhänge und die Vielfalt ihrer Interpretation unmissverständlich klar. Es gibt dafür weder  einfache Erklärungen noch einfache Lösungen. So spricht etwa ARMIN NASSEHI, stellvertretend für andere Autoren, allen noch so wohlmeinenden Appellen an interkulturelle Toleranz und Empathie die Erfolgsaussichten ab. Sie führten nicht weiter, solange man es mit Machthabern zu tun hat, die fremde Kulturen vielfach mit Verachtung strafen, und mit "Leuten, die sich religiös programmieren" und im Rahmen dieses ihres leitenden Beobachtungsschemas Religion "in der Pluralität des Beobachtbaren nach Eindeutigkeiten und Unbedingtheiten such(en), deren god-terms man kommunikativ kaum bekommen kann" (S. 197). Auch die anderen Autoren betonen durchweg die Ausweglosigkeit der gegebenen  weltpolitischen und -gesellschaftlichen Konstellationen. Der Leser wird allerdings mehrfach darauf gestoßen, wie viel gewonnen wäre, wenn auch andere Wissenschaftler den
Autoren des Bandes darin folgen würden, ihr Nicht-Wissen offener einzugestehen und dieses Eingeständnis zum Ansatzpunkt von multi- und interdisziplinärer Wissenschaftsdiskursen zu machen, wofür der Soziologe PETER FUCHS im Schlussartikel des Bandes einmal mehr plädiert. Und zugleich ahnt man, welchen weiteren Fortschritt es bedeutete, wenn sich Politiker und ihre wissenschaftlichen Berater ehrlich mit der tiefer reichenden Einsicht auseinandersetzten, dass "das wenige, was wir (über die Weltgesellschaft) wissen, gesellschaftlich nicht bekannt ist - aus systematischen Gründen, die wieder mit der Form dieser Gesellschaft zu tun haben" (S. 238). In dieser Zirkularität bleiben alle Versuche gefangen, eine sowohl wissenschaftsgestützte als auch demokratisch fundierte und verstehbare Weltinnenpolitik zu begründen. Das gilt jedenfalls so lange, wie "derjenige, der wahre Macht hat, auch von sich aus Begriffe und Worte zu bestimmen vermag" (CARL SCHMITT, Zitat S. 155). Aber damit, so lässt sich mit FUCHS' Schlusssatz des Buches (S. 238) sagen, wird ja nichts anderes ausgedrückt als das, "was der Fall ist."     
Autor: Heiner Dürr

Quelle: Erdkunde, 58. Jahrgang, 2004, Heft 1