Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland. Hg. vom Institut für Länderkunde, Leipzig. Band 5: Dörfer und Städte. Mithg. von Klaus Friedrich, Barbara Hahn und Herbert Popp. Heidelberg, Berlin 2002. 194 S.

Da es derzeit keine aktuelle und umfassende Darstellung des deutschen Siedlungswesens in Buchform gibt, schließt Band 5 des zwölfbändigen Nationalatlasses sogar eine Lücke. Sein Anliegen ist zwar nicht eine tiefgründige wissenschaftliche Analyse von Siedlungen, aber er gibt auf seinen großformatigen Seiten ergänzt durch vielfältige Illustrationen einen umfassenden Überblick über die gebauten Strukturen unseres Lebensraumes und die in ihnen ablaufenden Prozesse.

Dazu ist der Inhalt nach einem einleitenden Überblick, der auch soziologische, planerische und Verwaltungsfragen anspricht, in sechs große Blöcke gegliedert. Leider kommt diese hilfreiche Einteilung außer im Inhaltsverzeichnis im Band selbst nicht zur Geltung.
Weil sich der aus der Siedlungs- und Sozialgeschichte überkommene Gegensatz zwischen Stadt und Dorf immer mehr verwischt und "die Ubiquität des Städtischen" (W. STRUBELT im ´Geleitwort) weithin bereits Realität ist, macht es Sinn, zuerst nach allgemeinen und übergreifenden Prinzipien der Siedlungsstruktur zu fragen. Wie sind Siedlungsräume im Stadt-Land-Kontinuum überhaupt differenzierbar? Welche Rolle kann heute das Zentrale Orte-Konzept noch spielen, wenn städtische Formen und Funktionen weit verbreitet sind und Verdichtungsräume nicht mehr nur regionale oder nationale Bezüge aufweisen, sondern längst zum Bestandteil kontinentaler Systeme mit vielfach sogar globaler Bedeutung geworden sind? Ein ähnlich umfassender, alle Siedlungstypen übergreifender Komplex betrifft die Immobilien- und Wohnungsmärkte, bei denen der West-Ost-Unterschied viele Problemlagen der Wiedervereinigung widerspiegelt.
Der zweite Themenbereich ist den ländlichen Siedlungen gewidmet. Die bauliche Persistenz von Hausformen und Ortsgrundrissen täuscht äußerlich Tradition und geringen sozialen Wandel vor, obwohl sich auch hinter alten Bau- und Raumstrukturen fast immer neue Nutzungsformen und veränderte Sozialgefüge verbergen. Im Atlas wird diesem Wandel in Dörfern sowie in den Städten des ländlichen Raumes unter vielfältigen Aspekten nachgegangen. Dabei ist die Mischung von detaillierten Einzelbeispielen und bundesweiten Überblicksdarstellungen gut gelungen. Leider wird die Abgrenzung des ländlichen Raumes innerhalb des Bandes sehr unterschiedlich gehandhabt. Einmal ist er die restliche Staatsfläche nach Abzug der Verdichtungsräume (S. 63, 71, 78), ein anderes Mal sind die hochverdichteten Kreise und kreisfreien Städte ausgespart (S. 67, 78) und in wieder anderen Fällen werden zusätzlich auch die verdichteten Kreise abgezogen (S. 19, 75). Solche unterschiedlichen Definitionen verwirren und hätten durch eine bessere Koordination zwischen den Autoren vermieden werden können.
Der weitaus größte Teil des Atlasbandes ist den Agglomerations- und verstädterten Räumen gewidmet, wo nahezu 90% der Bevölkerung leben. Die Ausführungen hierzu nehmen die anderen vier großen Blöcke ein. Sie befassen sich mit Stadttypen und der Stadtentwicklung, den Verdichtungsräumen, innerstädtischen Strukturen und Prozessen sowie mit den Landeshauptstädten und der Bundeshauptstadt Berlin.
Der umfangreiche Teil über historische und besondere funktionale Stadttypen (Hafenstädte, Industriestädte, Kurorte, Messestädte usw.) befriedigen sicherlich spezielle Publikumsinteressen. Im Anschluss daran werden hochaktuelle Fragestellungen in den Abschnitten über kommunale Finanzen, die Stadterneuerung und die Aufgaben einer nachhaltigen Stadtentwicklung angesprochen. Dem sich anschließenden Block über Verdichtungsräume mit ihren inneren Strukturen sowie den mit ihnen verbundenen Suburbanisierungsprozessen und deren Folgen ist zwar deutlich weniger Platz eingeräumt, dennoch kommen die wichtigsten Fakten und Zusammenhänge zur Sprache.
Der dritte Themenblock über Städte befasst sich mit
inneren Strukturen und Prozessen. Hierbei wird die innerstädtische Situation mit der Cityentwicklung, Verkehrserschließung, Gentrifizierung und den ablaufenden Segregationsvorgängen besonders intensiv behandelt. Aber auch die Probleme neuer randstädischer Einkaufszentren als Konkurrenz für die Innenstädte, Mobilitätsmuster und Leitbilder für die Stadtentwicklung werden aufgezeigt. Warum sich der letzte Abschnitt mit "Moscheen als Stadtbild prägende Elemente" befasst, ist von der Bedeutung des Themas her gesehen nicht ganz einsichtig. Denn andere wichtige städtische Phänomene, beispielsweise Fragen des Denkmalschutzes, sind im Band nur verstreut oder Probleme des Stadtklimas und der Stadtökologie überhaupt nicht abgehandelt. Den Abschluss des Textteils bilden einige Kapitel zu den deutschen Hauptstädten. Berlin und seiner Metropolregion als dem wichtigsten und interessantesten Fall ist dabei besonders viel Platz eingeräumt.
Allen Beiträgen des Bandes merkt man die hohe Kompetenz der Autoren an. Außer zahlreichen Geographen haben neben anderen auch Soziologen, Architekten, Stadt- und Raumplaner mitgearbeitet. Die angesprochenen Themen sind in verständlicher Sprache für ein breites Publikum und dennoch wissenschaftlich exakt abgehandelt. Wo nötig sind in einigen Beiträgen Fachtermini und nicht allgemein geläufige Begriffe in blau unterlegten Glossaren erläutert. Die besondere Stärke des Bandes sind die vielen Karten, Pläne, Diagramme, Luftbilder und Photos, die zusammen über die Hälfte der Seiten ausfüllen. Allein über 70 mehrfarbige Stadtkarten in unterschiedlichen Maßstäben mit vielfältigen und komplexen Inhalten enthält der Band. Alle Abbildungen
illustrieren und ergänzen den Text in idealer Weise. Durchweg ist auch diesem Material eine sehr hohe Qualität zu bescheinigen. Die schwierige Mischung aus Überblick, Detail, Generalisierung und Sonderentwicklung ist in überzeugender Weise gelungen. Trotz der wenigen gemachten kritischen Anmerkungen handelt es sich insgesamt um einen Band sehr hoher Aussagekraft und Qualität, dem man - wie auch den anderen bisher erschienenen Atlasbänden - eine weite Verbreitung wünscht. Der scheinbar hohe Preis sollte niemand vom Kauf abschrecken, denn das Preis-Leistung-Verhältnis ist für den Käufer sehr vorteilhaft. Den Band gibt es außerdem leicht verändert auch als elektronische Ausgabe (CD-ROM), die interaktives Arbeiten ermöglicht.
Autor: Reinhold Grotz

Quelle: Erdkunde, 58. Jahrgang, 2004, Heft 1