Harald Bathelt, Johannes Glückler: Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive. Stuttgart 2002.

Setzt man das Beschreiben und Erklären von räumlichen Phänomenen als Grundperspektive einer verstehenden, gesellschaftswissenschaftlich ausgerichteten Geographie, so ist die Disziplin in der empirischen Arbeit immer wieder dem Risiko ausgesetzt, in der Beschreibung der empirischen Vielfalt stecken zu bleiben und "theoriegeleiteter" Forschung lediglich ein Lippenbekenntnis in Einleitungen zu zollen. Lehrbücher dagegen bieten einerseits die Gelegenheit, müssen sich aber auch der Herausforderung stellen, das Fach in seinen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Begründungszusammenhängen neu zu strukturieren und zu orientieren. Sie sind damit auch immer milestones der fachwissenschaftlichen Diskussion und geben Auskunft über die aktuelle und zukünftige Entwicklung der Disziplin. Insofern ist das von Bathelt und Glückler vorgelegte Lehrbuch ein in zweierlei Hinsicht spannendes Buch zur rechten Zeit: Einerseits gibt es in der deutschsprachigen Wirtschaftsgeographie eine bereits mehrjährige intensive fachwissenschaftliche Diskussion um die Interpretation von Teilaspekten rezenter Wirtschaftsentwicklungen auf der Ebene von Fachzeitschriften, die eine über inkrementelle Änderungen in dem klassischen raumwirtschaftlichen Lehrbuch hinausgehende Integration in das Lehrgebäude der Wirtschaftsgeographie verlangen. Andererseits äußert sich hier erstmals eine neue Generation von Wirtschaftsgeographen in Form eines Lehrbuches mit dem Anspruch einer umfassenden neuen Grundlegung des Faches, was auch Hoffnung auf neue Erkenntnisse und Sichtweisen mobilisiert. Um es vorwegzunehmen: Es ist ein Lehrbuch der eigenen Art. Zum einen werden die bisherigen Elemente wirtschaftsgeographischen Wissens didaktisch geschickt präsentiert und kritisiert, was das Buch allein schon sehr lesenswert macht. Zum anderen werden aber Interpretationen und Systematisierungen jüngerer Entwicklungen unter das Konzept der relationalen Wirtschaftsgeographie subsumiert, wo sie nicht zwangsläufig hin gehören, was insbesondere im Schlusskapitel zur Globalisierung deutlich wird.
Es ist auch insofern ein schwieriges und interessantes Buch, als es mit einer sehr dichten Aufarbeitung der fachwissenschaftlichen Entwicklung beginnt, an deren Ende die für die neue Sichtweise der relationalen Wirtschaftsgeographie grundlegenden vier "Ionen" vorgestellt werden. Diese werden aus der relationalen Grundperspektive von Kontextualität, Kontingenz und Pfadabhängigkeit heraus konstituiert. Warum sich dabei die "Ionen" Organisation, Evolution, Interaktion und Innovation ergeben, wird nicht ausreichend begründet. Zunächst entsteht semantische Verwirrung: Handelt es sich bei "Ionen" um eine in Anlehnung an die Naturwissenschaften (elektrisch geladene Atome oder Moleküle) entwickelte Begrifflichkeit und wenn ja, welcher systemische Zusammenhang wird damit gesetzt? Oder handelt es sich lediglich um eine saloppe Abkürzung im Sinne von "Ismen"? Akzeptiert man den Begriff, so stellt sich das Problem von Auswahl und Vollständigkeit der vorgeschlagenen Grundkategorien des relationalen Ansatzes. Auch nach weiteren acht Kapiteln wird nicht überzeugend deutlich, welchen Status die "Ionen" über ein Ordnungsschema hinaus haben. Unter relationaler Perspektive drängt sich sogar der Gedanke auf, vor dem Hintergrund von Kontextualität, Kontingenz und Pfadabhängigkeit könnten Institutionen im Sinne der Institutionenökonomik ein noch grundlegenderes "Ion" sein.
Man würde dem Lehrbuch freilich unrecht tun, bliebe es bei der Kritik des konzeptionellen Ansatzes. Dieser verdient im Gegenteil ausdrückliches Lob, da es derzeit über den raumwirtschaftlichen Ansatz hinaus kein etabliertes wirtschaftsgeographisches Theoriegebäude gibt. Der Versuch, einen umfassenderen sozialwissenschaftlichen Begründungszusammenhang für die Wirtschaftsgeographie zu formulieren, ist verdienstvoll und wird sicherlich anregende und für die Disziplin fruchtbare Diskurse auslösen. Es muss darüber hinaus erwähnt werden, dass die Autoren eine sehr gelungene Zusammenstellung des wirtschaftsgeographischen Fachwissens vorgelegt haben und dies - so die These des Rezensenten - im Grunde unabhängig davon, ob das von den Autoren vertretene Argument eines Paradigmenwechsels zutrifft. Die Einführung in geographische und ökonomische Grundbegriffe, die Ansätze zur Analyse der Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten im Raum wie auch die Modellierungen räumlicher Ordnungen und Hierarchien sind anregend und kenntnisreich formuliert. Als konzeptionelle Inkremente der industriellen Standortlehre werden Raumabhängigkeit und Faktordominanz ebenso beschrieben und kritisiert, wie Standortfaktorenkataloge und verwandte Ansätze.
Anschließend wird mit der Darstellung neuer Ansätze aus den Nachbarwissenschaften der Weg zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie beschritten. Dabei wird die neue Institutionenökonomik jedoch leider auf die Diskussion der Transaktionskosten reduziert. Die Diskussion absoluter und relativer Verfügungsrechte (z.B. die Theorie relationaler Verträge), der allgemeinen Vertragstheorie und vor allem die neue Sichtweise von Markt, Unternehmen und Staat sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die wirtschaftsräumliche Analyse werden nicht ausreichend thematisiert. Den Autoren kommt es hier unter dem Titel "Organisation: Situiertes Handeln in ökonomischen Netzen" lediglich darauf an, unternehmensbezogene Netzwerke nicht nur transaktionskostenanalytisch, sondern vor allem auch (wirtschafts)soziologisch zu begründen. Unter dem Stichwort Evolution wird die Gründung und Entwicklung von Unternehmen entlang historischer Pfade erklärt. Der Leser fühlt sich an die historisch-genetische Betrachtungsweise der Geographie erinnert. In seinen deskriptiv gehaltenen Ausführungen vermittelt der Exkurs zur Evolution regionaler Hightech-Cluster in Nordamerika am Ende des Abschnitts eine gewisse Desillusionierung im Hinblick auf den wissenschaftlichen Mehrwert des relationalen Ansatzes.Die "Ionen" Innovation und Interaktion werden
in einem gemeinsamen Abschnitt als technologischer und gesellschaftlicher Wandel behandelt. Zunächst werden Ansätze zur Erklärung des technologischen Wandels vorgestellt und kritisiert. Diese Diskussion fällt im Vergleich zur Breite der aktuellen fachwissenschaftlichen Diskussion recht kurz aus und leitet rasch über zur Regulationstheorie, die aus Sicht der Autoren Fragen des gesellschaftlichen und technologischen Wandels integrieren kann. Die Argumentation ist hier sehr referierend und es wird nicht deutlich, ob diese Ansätze im Kontext der relationalen Geographie das gesellschaftliche Ganze reflektieren können. Darin kann sich eine Schwäche des relationalen Ansatzes verbergen, nämlich eine unzureichende Fähigkeit, eben jene allgemeinen Kontexte von Wirtschaft und Gesellschaft zu thematisieren, von deren zentraler Bedeutung er ausgeht. Das Schlusskapitel zur "Globalisierung im Fokus der Wirtschaftsgeographie" soll nochmals die Bedeutung der relationalen Betrachtungsweise unterstreichen - und zeigt damit auch noch einmal seine Schwäche auf: Es werden Positionen und Inhalte vorgetragen, die nicht notwendigerweise diesem Ansatz zugeordnet werden müssen. Sie könnten auch in mehr strukturalistischem oder institutionenökonomischem Kontext diskutiert werden. Damit stellt sich abschließend noch einmal die Frage nach Gewichtung und Einordnung der relationalen Wirtschaftsgeographie und damit eng verbunden die Frage nach ihrem wissenschaftlichen Mehrwert. Zugespitzt geht es darum, ob der Ansatz der relationalen Wirtschaftsgeographie neue oder bessere Erkenntnisse über wirtschaftsräumliche Strukturen und Prozesse hervorbringen kann oder ob es sich nur um ein rivalisierendes fachinternes "Branding" einer ‚neuen Schule' handelt. Ohne Zweifel wird mit dem Ansatz eine abgrenzende Positionierung vorgenommen, die polarisiert und damit das Risiko einer Lagerbildung beinhaltet. Eine abschließende Bewertung fällt schwer. Wer würde in der heutigen sozialwissenschaftlichen Diskussion bestreiten, dass Kontextualität, Pfadabhängigkeit und Kontingenz wichtige Grundannahmen einer verstehenden Wissenschaft sind? In der dargebotenen Form ist das Konzept der "Ionen" als problematisch zu bewerten, was an dieser Stelle jedoch nicht vertieft diskutiert werden kann.
Es ist abschließend festzuhalten, dass es den Autoren gelungen ist, ein außerordentlich interessantes Fachbuch aus einem Guss zu präsentieren, das zu Recht eine große fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient. Es bleibt zu hoffen, dass das Fach damit auch im Wettbewerb mit Nachbardisziplinen seine Position verbessern kann.
Autor: Walter Thomi

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 47 (2003) Heft 3/4, S. 269-271