Herbert J. Nickel: Landvermessung und Hacienda-Karten in Mexiko. Freiburg i. Br. 2002. 293 S.

Analysen zu Hacienda-Karten und zeitgenössischen Traktaten über Landvermessungstechniken sowie die Grundsätze der mechanischen Geometrie aus der Zeit zwischen ca. 1600 und 1950 in Neu-Spanien waren bislang kaum Gegenstand historisch-geographischer oder historisch-kartographischer Forschung. Der vorgelegte Band stellt die Arbeitstechniken der Agrimensoren und Kartographen der damaligen Zeit vor und bildet gleichzeitig eine wertvolle Materialsammlung zur Entwicklungsgeschichte der Kartographie. Er besteht aus drei Hauptkapiteln, von denen jedes bereits gesondert 1996, 1998 und 2000 an anderer Stelle veröffentlicht wurde.
Das erste Kapitel befasst sich mit kolonialzeitlichen Landvermessungspraktiken sowie Kartenherstellungstechniken in Neu-Spanien (Mexiko) und ist der Nachdruck eines Aufsatzes aus der Zeitschrift Ibero-Amerikanisches Archiv (N.F. 1996, 22, 3/4, S. 421-488). Darin wird deutlich, welch große Bedeutung der topographischen Aufnahme von Gütern in der Kolonie Neu-Spanien zukam, in der ab dem späten 17. Jahrhundert ein vermehrter Bedarf an juristisch geklärten Landbesitzfragen konstatierbar wurde. Dabei legten sowohl die spanische Krone wie auch insbesondere die Großgrundbesitzer (Hacendados) gesteigerten Wert auf eine katastertechnisch wie kartographisch möglichst exakte Festlegung
der Besitzverhältnisse.
Im zweiten Kapitel, dem Nachdruck eines bereits in den Forschungsmaterialien der Universität Bayreuth (Fachgruppe Geowissenschaften 19/1998) und gekürzt in der Zeitschrift Historia y Grafía (15/200, S. 241-267) erschienenen Artikels, wird ein dreibändiges Manual über Landvermessung, Markscheidetechnik und Wasserrechten aus dem Jahr 1700 analysiert. Das Traktat "Geometríca práctica y mecanica divida en tres tratados, el primero de meditas de tierras, el segundo de minas, el trecero de aguas" war vom Autor, dem Anwalt Joseph Sáenz de Escobar, als Handreichung für Landvermesser und Juristen gedacht und bereits als Manuskript für den Druck vorbereitet worden. Obwohl es in der vorgesehenen Form nicht mehr zur Veröffentlichung gelangte, hatte das vielfach kopierte und noch bis ins 19. Jahrhundert verwendete Traktat eine große Bedeutung für die praktischen Erfordernisse der Agrimensur, die Entwicklung des Vermessungswesens sowie die Klärung von Wasser- und Bodenrechtsfragen in Neu-Spanien.
Das dritte Kapitel des von HERBERT J. NICKEL vorgelegten Sammelbandes behandelt Landvermessung und Hacienda-Karten in Mexiko in der Zeit vom Ende der Kolonialzeit bis zur Epoche der Revolution (1910-1940) (siehe auch: Forschungsmaterialien der Universität Bayreuth, Fachgruppe Geowissenschaften 20/2000). Während dieser relativ langen und zugleich wechselvollen Zeitspanne waren Kartierung und Landvermessung in Mexiko vor allem durch die Agrimensura, ein einfaches, pragmatisches Ingenieurverfahren zur Landvermessung, das nicht in geodätische Bezugsysteme eingebunden war, geprägt. Die besondere Bedeutung der dabei entstandenen Karten und kartenähnlichen Werke wird klar, wenn man bedenkt, dass bis heute für Mexiko kein umfassendes System von Katasterkarten besteht und Vergleichbares in weiten Teilen des Landes auch für topographische Karten in kleinen Maßstabszahlen gilt. Hacienda-Karten waren keine Kartenwerke, die neben anderen kartographischen Erhebungsverfahren der Landbesitzverhältnisse standen, sondern vielfach die einzigen Dokumente der Landerschließung überhaupt. Bis zur Revolution war der weitaus größte Teil des Landes Eigentum von Großgrundbesitzern, die über mehr als drei Jahrhunderte hinweg die wesentlichen Auftraggeber für kartographische Landes- und Landbesitzaufnahmen darstellten. Ergebnis dieser individualistischen Landvermessungspraxis waren inselartige kartographische Dokumentationen mit unterschiedlichen Bezuggrößen, wechselnden Legendeninhalten, verschiedensten Maßstäben und von einander abweichenden Vermessungsgrundlagen. Auch während der Jahrzehnte der Revolutionszeit wurden weiterhin Hacienda-Karten angefertigt. Dies geschah zum einen noch im Zuge der Landerschließung (vor allem in Yucatan), zum anderen aber auch bereits, um den zunächst zur Landverteilung bestimmten Allmendbesitz (Ejidos) vom Großgrundbesitz klar unterscheiden zu können.
Mit den im vorgelegten Werk zusammengestellten Artikeln wird versucht, auf einen besonderen Dokumentationstypus der Landeserschließung und -vermessung im kolonialzeitlichen Neu-Spanien und unabhängigen Mexiko sowie auf die Herausbildung kartographiegeschichtlich bedeutsamer Entwicklungsstufen aufmerksam zu machen. Das Werk ist außerordentlich reichhaltig illustriert und großzügig ausgestattet. Es werden nicht nur zahlreiche Beispiele alter Hacienda-Karten präsentiert, die über öffentliche oder private Archive in Spanien und Mexiko sonst nur schwer zugänglich wären, sondern vor allem im zweiten Kapitel auch historische Vermessungstechniken und -instrumente vorgestellt. Als hinderlich und dem Begleittext nur unzureichend angepasst erweisen sich teilweise Ergänzungen und Kartenkommentare in spanischer Sprache. Sie wurden nach Angaben des Autors bereits im Vorgriff auf eine geplante spätere Publikation des Gesamtwerkes in Spanisch erstellt. Zusammen mit den übergangslos aneinander gereihten und nahezu ohne Bezug zueinander argumentierenden Wiederabdrucken der Einzelartikel unterstreichen sie trotz der reichhaltigen Materialausstattung den Werkstattcharakter des Sammelbandes. Dies ist jedoch ganz im Sinne des Autors, der nicht nur auf die heute erheblich erleichterten Archivarbeitsbedingungen aufmerksam machen, sondern vor allem auch zur weiteren vertiefenden Forschung anregen möchte.
Autor: Andreas Dittmann

Quelle: Erdkunde, 58. Jahrgang, 2004, Heft 2, S. 197