Georg Dybe: Regionaler Wirtschaftlicher Wandel. Die Sicht der evolutorischen Ökonomie und der "Neuen Wachstumstheorie". Münster, Hamburg, London 2003 (Stadt- und Regionalwissenschaften 2). 400 S.

Wirkungen und Ursachen des regional(wirtschaftlich)en Strukturwandels sind derzeit nicht nur in Deutschland ein hochaktuelles Thema für die Wissenschaft und die Politik. Die tatsächlich interdependente, von weiten Teilen der Bevölkerung aber als einseitig wahrgenommene Abhängigkeit zwischen regionsexogenen, hervorgerufen z.B. durch Globalisierungstrends, und regionsendogenen Einflüssen auf die (Wirtschafts)Entwicklung einer Region seien hier exemplarisch genannt. Innerhalb Deutschlands liefern die aufs engste mit der Schaffung bzw. dem Verlust von Arbeitsplätzen verbundenen Konsequenzen des regionalen Strukturwandels speziell in Ostdeutschland viel politischen Zündstoff insbesondere deshalb, weil der (noch) dort lebenden Bevölkerung die intendierten positiver Wirkungen regional- und strukturpolitischer Maßnahmen kaum glaubhaft vermittelt werden können. Die Nachfrage nach wissenschaftlich fundierten Antworten auf diese und verwandte Fragen ist also sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politikberatung da. Leider steht dem ein bislang eher bescheidenes wissenschaftliches Angebot gegenüber, das sich allzu häufig im vermeintlichen Patentrezept "Cluster" erschöpft. So gesehen kommt die von Georg Dybe während seiner Zeit am IRS (also in Brandenburg) verfaßte Dissertation zur rechten Zeit. Der gelernte Volkswirt Dybe möchte eine zentrale Frage beantworten: wie lassen sich wirtschaftliche Veränderungsprozesse von und innerhalb von Regionen endogen, d.h. mittels Eigenschaften der Region selbst, erklären? Die Arbeit ist klar strukturiert und besteht aus vier wesentlichen, gut miteinander verwobenen Teilen. Zunächst werden angemessen ausführlich mit dem polarisationstheoretischen Ansatz der zirkulären Verursachung im Sinne Myrdals, der "Neuen Wachstumstheorie" sowie der evolutorischen Ökonomie drei wirtschaftswissenschaftliche Theorieschulen beschrieben und bewertet, die Dybe für geeignet hält, als theoretische Grundlage der Analyse wirtschaftlicher Veränderungsprozesse nicht nur von Volks-, sondern auch von Regionalwirtschaften zu fungieren. Diese Gegenüberstellung ist innovativ, denn nach Kenntnis des Rezensenten ist dies wenigstens im deutschsprachigen Raum und mit dem hier verfolgten Zweck bislang nicht in dieser Quantität und Qualität geschehen. Im zweiten Teil prüft der Autor, welche Hypothesen zur regionalen Wirtschaftsentwicklung sich aus den drei genannten Theorien ableiten lassen. Auch hier betritt Dybe partiell wissenschaftliches Neuland - was selbstverständlich für eine Dissertation sein sollte - , denn alle drei Theoriegebäude sind von Volkswirten bzw. Nationalökonomen entwickelt worden, denen die regionale (im Sinne subnationaler Raumeinheiten) Wirtschaftsentwicklung nicht das primäre Anliegen war und ist. Im dritten Hauptteil diskutiert Dybe, was regionale Wirtschaftspolitik und Regionalpolitik nach Ansicht der genannten Ansätze leisten kann und sollte. Die in Deutschland wie auf Ebene der EU geführte Debatte um das Für und Wider einer dezentralen Wirtschaftspolitik findet hier wenigstens teilweise ihren Niederschlag. Dem vom Verfasser des Geleitworts und zugleich das IRS als Herausgeber repräsentierenden Leiter der Abteilung "Regionalisierung und Wirtschaftsräume" formulierten Anspruch des Bandes hinsichtlich einer Anwendungsorientierung soll das vierte Kapitel gerecht werden, das die Praxistauglichkeit der drei Theorien am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung Mecklenburg- Vorpommerns seit 1990 prüft. Dybes Antwort auf die praxisrelevante Frage seiner Arbeit lautet: keiner der im Band diskutierten theoretischen Ansätze vermag den regionalwirtschaftlichen Strukturwandel Mecklenburg-Vorpommerns hinsichtlich aller Phänomene zu erklären, aber jedem gelingt dies für einzelne Phänomene. Die "vollständigste" (356) Analyse leiste der systemisch-evolutorische Ansatz. Der Autor legt bei seiner Analyse einen Schwerpunkt auf die evolutorische Sichtweise, auch wenn dies aus dem etwas irreführenden Untertitel des Bandes nicht ganz deutlich wird. Der Rezensent meint zu spüren, daß Dybe mit evolutorischen Ansätzen zumindest mehr sympathisiert als mit den konkurrierenden Theorien. Gleichwohl erfüllt der Autor mit seiner Vorgehensweise ein Grundvoraussetzung wissenschaftlicher Redlichkeit, indem er wissenschaftlich objektiven Erkenntnisgewinn wenigstens anstrebt. Sein abschließendes Fazit kommt daher nach Lektüre der einleitenden Bemerkungen der Arbeit nicht überraschend, ist aber - und das ist wesentlich - für den Leser nachvollziehbar. Mit Rückgriff auf ein altes Bonmot sei die Bewertung begonnen mit dem Fazit, daß die Dissertation viel Gutes und manch Neues enthält. Einiges von dem Guten ist neu, manches vom Neuen ist gut. Gut gelungen ist die ausführliche Darstellung der drei Theorien und besonders gut die Prüfung ihrer Eignung zur Erklärung regionalwirtschaftlicher endogener Entwicklungsprozesse. Letzteres ist nicht nur gut, sondern auch neu. Ersteres dagegen nur gut, aber nicht neu, denn immer mehr regionalökonomische Lehrbücher behandeln mittlerweile diese drei Theoriestränge. Explizit zu loben ist die vergleichende Bewertung insbesondere der evolutorischen Ökonomie mit der parallel entstandenen "Neuen Wachstumstheorie", denn eine solche schulenübergreifende Debatte hat bislang zwischen den jeweiligen Vertretern viel zu selten stattgefunden. Dies gilt auch für die Perzeption beider Theorien innerhalb der Wirtschaftsgeographen, für die sich innerhalb der Geographie der größte Zusatznutzen dieses Bandes ergeben dürfte. Neu ist zudem natürlich die Analyse der Wirtschaftsentwicklung Mecklenburg-Vorpommerns mit speziellem Fokus auf die evolutionäre Ökonomie, die "neue Wachstumstheorie" und die polarisationstheoretischen Ansätze. Trotz dieses verdienstvollen Versuchs, insbesondere die beiden erstgenannten, wenig regionalpolitik- und praxisaffinen Theorien einem Praxistest zu unterziehen, kann das Fallbeispielkapitel den Rezensenten nicht wirklich überzeugen. Die für einen empirischen Test notwendige Operationalisierung der Kernaussagen beider Theorien ist sicher nicht einfach und der Autor war dieser Herausforderung nur partiell gewachsen. Die komparativen Stärken Dybes scheinen eher in der Theorieanalyse zu liegen als in der empirischen Arbeit, die sehr gute Kenntnisse der Stärken und Schwächen von Indikatoren und der Datenverfügbarkeit erfordert. Zu kurz gekommen ist nach Ansicht des Rezensenten die Funktion neuen Wissens und die Mechanismen der Entstehung und Ausbreitung neuen Wissens innerhalb des regionalwirtschaftlichen Strukturwandels und insbesondere der "Neuen Wachstumstheorie". Hier hätten mehr und ausführlichere Rezeptionen der Originalliteratur etwa von Paul Romer (wird nur einmal mit einer weniger relevanten Arbeit zitiert) der Arbeit gut getan. Wirtschaftsgeographen können kaum einverstanden sein mit Teilen der Ausführungen im Kapitel "Was ist eine Region?". Dies hat partiell damit zu tun, daß Dybe hier wirtschaftsgeographische Definitionen nicht (k)nennt bzw. Wirtschaftsgeographen wie Trevor Barnes und Eric Sheppard als "Regionalökonomen" bezeichnet. Ähnlich ‚geadelt' werden an anderer Stelle auch Michael Storper und Richard Walker, bekanntlich zwei führende, mittlerweile auch vielen Ökonomen geläufige Wirtschaftsgeographen. Gänzlich unberücksichtigt bleibt schließlich eine sehr aktuelle Frage, die wenigstens mittelbar mit den endogenen Ursachen regionalwirtschaftlichen Strukturwandels zusammenhängt: Wie wären Globalisierungseinflüsse auf Regionalentwicklung zu erfassen und zu bewerten, wenn erstens Selektion, Variation und Stabilisierung richtigerweise als kleinster gemeinsamer Nenner aller evolutorischen Ansätze erkannt werden und zweitens regionale Veränderungsprozesse nicht als exogen, sondern als endogen betrachtet werden? Das Buch dürfte sicherlich dazu beitragen, ein nicht explizit formuliertes, aber sicher implizit existentes Ziel des Verfassers zu erreichen: die weitere Verbreitung von Ansätzen der evolutorischen Ökonomie auch innerhalb der Regionalökonomie. Die insgesamt weit überdurchschnittliche Dissertation sei all jenen zur Lektüre empfohlen, die an wirtschaftsgeographischen oder regionalökonomischen Implikationen dieser noch relativ jungen Denkschule interessiert sind und denen neoklassische, neuere wachstumstheoretische sowie polarisationstheoretische Erkenntnisse zumindest nicht unbekannt sind. Der nach konkreten wirtschafts-- und regionalpolitischen Handlungsempfehlungen Suchende wird nach dem Lesen des Bandes ebenfalls schlauer sein als zuvor, aber nicht unbedingt das gelernt haben, was er erhofft hatte.
Autor: Rolf Sternberg

Quelle: Geographische Zeitschrift, 92. Jahrgang, 2004, Heft 1 u. 2, Seite 117-118