Thomas Rottland: Von Stämmen und Ländern und der Macht der Karte. Eine Dekonstruktion der ethnographischen Kartierung Deutsch-Ostafrikas. Berlin 2003. (Zentrum Moderner Orient, Arbeitshefte Nr. 21). 118 S.
So kurz sie auch war, die deutsche Kolonisierung hat in Afrika einige Spuren hinterlassen. Neben dem schweren Erbe von Landenteignung und Genozid, wie in Deutsch Süd-Westafrika, war das Deutsche Reich maßgeblich am Beginn der kartographischen Erfassung des Kontinents beteiligt und hat ein aufschlußreiches Kartenmaterial hinterlassen. Über diese Hinterlassenschaft liegt nun eine Arbeit vor, die sich am Beispiel Ostafrikas der ethnographischen Kartierung widmet. Auf Basis eines dekonstruktivistischen Ansatzes wird die Verortung und Benennung von ethnischen Gruppen auf Karten rekonstruiert, um die "Beziehungsstrukturen zwischen Kartierung, Raumstruktur, Territorialität und Ethnizität" (S. 7) zu verstehen. Ein weiteres Ziel der Arbeit ist die Veranschaulichung des durch die Kartierung produzierten sozialen Raums sowie die Analyse der Machtstrukturen, die "eine kartographische Konstruktion von Räumen impliziert" (ebd.). Dabei werden nicht nur die materiellen Bedingungen sowie beteiligte Institutionen und Personen analysiert. Es werden auch die in dieser Zeit gültigen Konzepte von Raum, Territorium, Stamm und Ethnizität vorgestellt und kontextualisiert. Thomas Rottland ist eine wichtige Analyse gelungen, die sich von den bisherigen deutschsprachigen Arbeiten über das historische Kartenmaterial absetzt. Er beschreibt nicht nur den Produktionsprozeß der ethnographischen Karten, sondern rekonstruiert reflexiv die kolonialen Hintergründe und die damals zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Vorstellungen der Geographen und Ethnographen. Im Zentrum der Arbeit steht das Verständnis der verwendeten Konzepte und die Logik der Kartierung, im Sinne einer Interpretation der impliziten und expliziten Interessen des kolonialen Regimes, die diese Kartierung begleiten. Die Arbeit ist symmetrisch in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird der konzeptionelle Rahmen gesetzt, d.h. die aktuellen und vom Autor ausgewählten Raum-, Karten- und Ethnizitätskonzeptionen werden dargelegt. Dabei stützt sich Th. Rottland jeweils auf die prominenten Arbeiten von Derek Gregory, Brian Harley, Carola Lentz und Georg Elwert. Im zweiten Teil geht der Autor auf die Kartierung Ost-Afrikas ein. Nach einem kurzen Rückblick auf die Erforschung und die Bedingungen der Kartierung der deutschen Kolonie wird konkret auf die "Produktion von kolonialem Raum" (S. 68) mittels der kartographischen Eingrenzung des Gebietes und seiner administrativen Einteilung eingegangen. Dabei stellt Rottland heraus, daß es sich bei diesem Vorgehen am Ende des 19. Jahrhunderts eher um eine Projektion der kolonialistischen Ziele als um eine Inventarisierung der physischen kolonialen Besitznahme handelt. Implizit ist folglich mit der Produktion kolonialen Raums die Kreation einer Repräsentation eines Gebiets zu verstehen, das für den Betrachter, d.h. vor allem für das eigene koloniale Regime gedacht war. Daß sich diese Projektion auch an die angrenzenden belgischen, britischen und portugiesischen Kolonialmächte richtete, um eventuellen territorialen Hoheitsansprüchen von deren Seite vorzugreifen, hätte vielleicht an dieser Stelle angesprochen werden können. Nach einer Diskussion über die aus kolonialer Sicht entstandenen Klassifikationsprobleme der afrikanischen Bevölkerungsgruppen sowie deren Verortung werden die damals gängigen Konzeptionen von Landschaft und Ländern in Erinnerung gerufen und es wird gezeigt, wie mit den ethno- und geographischen Konzeptionen die sozialen und räumlichen Einheiten in Übereinstimmung gebracht werden. Die Kartierung ging mit einer Zuordnung von Landschaften, bzw. Ländern zu bestimmten Ethnien einher oder umgekehrt, ethnisch definierte Gruppen wurden kartographisch bestimmte Raumeinheiten zugeordnet. Den ethnographischen Karten geht somit eine dreifache (koloniale) Definition der sozialen Gruppe, ihrer Verortung und ihres Gebietes voraus. Weiterhin wird zu dieser kolonialen Konstruktion noch erläutert, inwiefern die Ethnographie Deutsch-Ostafrikas "beiläufig und amateurhaft" betrieben wurde, wobei der Unterschied zu einer "professionellen" aber nichts desto weniger eurozentrischen Ethnographie offen bleibt. Zusammenfassend und zum Abschluß werden die kolonialen Interessen auf verschiedenen Ebenen, von jener der Sicherheit von Reisenden bis hin zu den ökonomischen und politischen Interessen, dargelegt. Mit der Arbeit von Thomas Rottland liegt nun eine Analyse historischer Karten in deutscher Sprache vor, die insofern innovativ ist, als sie Karten und Kartierungen nicht mehr als einfaches Abbild eines bestimmten Gebietes begreift. Sie führt anschaulich in die Debatte ein, die an der Schnittstelle zwischen der wissenschaftlichen Kartographie, der Ethnologie und der Geographie geführt wird und ist nicht nur für jene empfohlen, die sich mit historischen Karten oder mit afrikanischer Kolonialgeschichte befassen. Sie ist für jeden aufschlußreich, der sich mit der Ein-teilung unserer Welt beschäftigt. Kritisch zu bewerten ist jedoch die Verwendung des dekonstruktivistischen Ansatzes. Eine gründliche Analyse und Kontextualisierung von Konzepten, Vorstellungen und inhärenten Interessen, um die eurozentrischen Modelle und die kolonialistische Logik zu kritisieren, ist nicht mit dem Ansatz des Dekonstruktivismus von J. Derrida zu verwechseln. Aus dieser Perspektive hätte die Verwendung der Karte als Signifikant, d.h. als materieller Zeichenträger, schärfer von seiner Funktion als Signifikat, d.h. des Bezeichneten in Form einer Abbildung der Realität getrennt werden müssen, um eben den Modus des Bezeichnens stärker zu problematisieren. Auch ist der Fokus zu sehr auf die koloniale Seite beschränkt. Eine Berücksichtigung der Machtstrukturen und -prozesse schließt die Machtverhältnisse zwischen dem kolonialen Regime und den afrikanischen Bevölkerungsgruppen mit ein. Die Aufstände an der Küste Ostafrikas von 1888 und 1907 sind ein Indiz dafür, daß die deutsche Kolonialherrschaft nicht unumstritten war und daß die Macht nicht einseitig ausgeübt wurde. Die deutschen Geo- und Ethnographen als Teil dieses Regimes konnten sich nicht diesen Machtbeziehungen entziehen. Darüber hinaus, und um die "Macht der Karte" nun auch vor Ort prüfen zu können, wäre es interessant, die Folgen der ethnischen Abgrenzungen und Verortungen zu prüfen. Inwieweit entsprechen heute ethnische Gruppen und ihr Gebiet den damaligen Kartierungen? Thomas Rottland weist uns mit seiner geographischen Arbeit auf ein neues Feld hin, das (zu) lange den Historikern und Ethnologen vorbehalten war.Autor: Olivier Graefe