Thomas Krämer-Badoni und Klaus Kuhm (Hg.): Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen 2003 (Stadt, Raum und Gesellschaft Band 21). 290 S.
Der Sammelband gibt die Beiträge einer Tagung an der Universität Bremen wider, auf der aus unterschiedlichen Disziplinen und aus unterschiedlichen Schulen heraus über den Raum nachgedacht worden ist. Solche Sammelbände haben stets eine heterogene Struktur, durch den Titel wird dies allerdings zumeist etwas verschleiert. Die Formulierung des um ein vielfaches größer gesetzten - Obertitels dieses Bandes erinnert mich an eine bekannte phänomenologische Studie von Hans Paul Bahrdt ("Die Gesellschaft und ihre Soldaten"), in der die verschiedenen sozialen Facetten des Soldatentums aufgezeigt werden. Der damit aufgebauten Erwartungshaltung wird der Sammelband aber nicht gerecht. Weder geht es um "die Gesellschaft" noch um "ihren" Raum. Vielmehr werden unterschiedliche Zugänge und Umgänge mit dem "Phänomen" Raum gezeigt.
Mit Ausnahme eines Beitrags des geographischen Lokalmatadors Gerhard Bahrenberg über Suburbanisierung sind die meisten Autoren raumorientierte Soziologen, insbesondere Stadtforscher, die auch Sozialgeographen geläufig sind: Krämer-Badoni, Ipsen, Matthiesen und Stichweh sind wohl die bekanntesten. Den Schwerpunkt bilden also Beiträge aus der Soziologie, und hierin wiederum liegt der Akzent sehr klar auf der Systemtheorie. Daneben gibt es aber auch etwas aus der Reihe tanzende Beiträge, so die des Neurobiologen Roth, der Physikerin Sturm und des Psychologen Knauff. Die Beiträge können in folgende Gruppen eingeteilt werden (wobei diese nicht der wenig ausagekräftigen Einteilung des Sammelbandes folgt): Zum einen erkenntnistheoretische Abhandlungen, zum zweiten systemtheoretische Ansätze, zum dritten mikroräumliche Analysen und schließlich regionale Studien, wobei es Übergänge bzw. nicht eindeutige Zuordnungen gibt. Die Ansätze werden in umgekehrter Reihenfolge (von geographienah zu geographiefern) vorgestellt.
Geographienah sind insbesondere die Beiträge von Bahrenberg und Ipsen. Während sich Bahrenberg relativ präzise mit Fragen der Suburbanisierung im langfristigen historischen Kontext (mit Zahlen und Karten!) beschäftigt, ist Ipsens Essay ein Räsonieren über den Stadtrand bzw. darüber, was denn nicht zum Rand gehört. Inhaltlich knüpft er an die Debatte um die Zwischenstadt an. Sehr geographienah sind schließlich auch die Schlußfolgerungen von Gabriele Sturm, die sie aus der Physik für die Gesellschaftswissenschaften zieht. Sie fordert mehr Bodenhaftung und zielt auf die Facetten, die vielleicht ohnehin der geographische Part in der Gesellschaftsanalyse darstellen und ja auch schon entsprechend - etwa von Pieper oder Giddens - gewürdigt worden sind.
Auf der Mikroebene sind einige Beträge angesiedelt, die partiell für die Geographie relevant sind. Schroers Ausführungen über das Verständnis des Raumes als Körper sind fast eine geographische Begriffsgeschichte ( Gebirgskamm, Wasseradern, Flußsohle, Bergfuß...), die über den Körper als Raum sind hingegen irrelevant. Koenens phänomenologische Studie über den Zwischenraum als öffentlichen Raum knüpft an Simmel, Sennett u. a. an. Von Interesse sind hier insbesondere die Überlegungen zum Spannungsverhältnis von sozial konstruiertem und "realem" Raum, einem Thema, mit dem sich die geographischen Konstruktivisten ja auch immer wieder konfrontiert sehen. Dreppner beschäftigt sich mit der symbolischen Darstellung von Organisationen mit Hilfe von Raumgestaltung sowie mit der "Raumordnung" in Büros als Ausdruck von Hierarchien. Ähnlich geht Ziemann auf den Raum als Ort der realen Interaktion, etwa in der Schule oder in der häuslichen Familie ein. Die Mehrheit der Beiträge ist systemtheoretisch ausgerichtet. Hier wird zumeist auf die dezidierte, aber schlecht begründete A-Räumlichkeit der Luhmannschen Systemtheorie eingegangen. So macht Dreppner darauf aufmerksam, daß es in der Systemtheorie vor "räumlichen Metaphern" nur so wimmle (System-Umwelt-Differenz, offen-geschlossen, innen-außen usw.). Auch Stichweh hält die Unabhängigkeitserklärung der Soziologie gegenüber dem Raum für schlechter begründet als die gegenüber Biologie, Ökonomie und Psychologie. Es wird dann von den Autoren zumeist ein Kompromiß dergestalt gesucht, daß der räumliche Code in der einen oder anderen Weise doch für die Gesellschaft wichtig sei. Die Heimholung des Raumes in das Reich der Soziologie geschieht bei Stichweh durch die Betonung der gesellschaftlichen Kontrolle über den Raum, bei Ziemann über das Primat der Interaktion, bei Dreppner durch die räumliche Symbolisierung gesellschaftlicher Hierarchien. Am weitesten in Richtung Geographie geht Kuhm, der eine Reihe regionaler Konzepte (Territorialität, Ethnizität, Nation-Vaterland, Verkehr, Kultur) als strukturelle Kopplungsmechanismen der Weltgesellschaft benennt. Allerdings funktionieren sie nur als sekundäre Mechanismen innerhalb der einen Weltgesellschaft. Er betont aber nachdrücklich, daß Luhmann sehr klar die Regionalisierung als einen reflexiven Mechanismus in der Weltgesellschaft erkannt habe, der von ähnlicher Bedeutung sei wie Planung als Entscheiden über Entscheidungen oder Machtgebrauch gegenüber Machthabern u.a.m.. Es bleibt aber dabei: Regionen trennen nicht Systeme, sondern sind eine Unterscheidung des Beobachters. Kuhm eröffnet für systemtheoretisch interessierte Geographen ein weites Feld, denn er meint, "daß die strukturelle Komplexität der Weltgesellschaft durch Regionalisierung nochmals immens gesteigert werden kann" und Regionalisierung sich mit der Globalisierung keineswegs erledigt habe. Im weiteren Sinne erkenntnistheoretisch ausgerichtet sind Beiträge, die sich mit dem Funktion des Raumes für das Erkennen bzw. die Wirklichkeitskonstruktion beschäftigen. Dazu zählt etwa der Beitrag des Neurobiologen Roth, der zusammenfassend den Stand der Gehirnforschung zur Raumwahrnehmung referiert. Sein (naturwissenschaftliches) Fazit: "Die Welt, in der wir leben, ist eine konstruierte Welt, konstruiert vom Gehirn. Sie ist nicht real vorhanden, sondern ein Hirngespinst im wahrsten Sinne des Wortes." Und diese Welt kommt auch niemals nach draußen. Es wird lediglich neurophysiologisch "ein Ich erzeugt, das irgendwie das Gefühl hat, in diesem Körper zu stecken, und dadurch wird es erlebnismäßig zum Zentrum der Welt". Dieser Erkenntnis steht am anderen Ende die Auffassung Krämer-Badonis gegenüber, daß die Illusion der Menschen (eines wirklichen Raumerlebens) gegen den Nachweis ihrer Konstruiertheit immun ist und die "reale" soziale Wahrheit wahrer ist als die des Neurobiologen. Für die Geographen besonders nützlich sind schließlich die acht von Matthiesen entwickelten strukturhermeneutischen Raumdimensionen (Globaler Lebensraum, Körperraum, symbolischer Raum, Governance- und Planungsraum, Raum der Dinge, gebauter Raum, gesellschaftlicher Raum und Kulturlandschaft ).
Was ist aus sozialgeographischer Sicht zu merken? Von der Heterogenität der Beiträge und der mangelnden Kohärenz (auch innerhalb mancher Beiträge!) sollte man sich nicht irritieren lassen. Es stecken einige wichtige Aussagen bzw. implizite Schlußfolgerungen in dem Band:
1. Die Konjunktur des Raumbegriffs, die Peter Meusburger überall zu erkennen glaubt (Meusburger 2003), wie sie sich zur Zeit vielfach, unter anderem im Motto des kommenden Historikertages ("Raum und Kommunikation"), äußert, ist auch in der Soziologie vorhanden.
2. Ob die Konjunktur des Raumbegriffs sich auf die Geographie als Disziplin positiv auswirken wird, ist hingegen mehr als zweifelhaft. Die Geographie ist keine um einen Theoriekern als Paradigma zentrierte Wissenschaft und die Beschäftigung mit der von den anderen vernachlässigten räumlichen Perspektive war lange Zeit so etwas wie eine ökologische Nische, in der die Geographie, insbesondere mit Hilfe der Anwendungsorientierung, gut überleben konnte. In diese Nische brechen nun massiv andere ein und sie werden die im theoretischen Diskurs so wenig gefestigte Geographie rasch verdrängen können.
3. Die Beiträge auch in diesem Band zeugen davon, daß der Konstruktionscharakter des Raumes überall eher selbstverständlich zu sein scheint als in der Geographie. Davon sind sicher die innerfachlichen (De-)Konstruktivisten auszunehmen, aber die Mehrheit der Geographen ist m. E. erkenntnistheoretisch doch immer noch auf einem vorkantischen Stand und folgt einem ontologisierenden Raumverständnis. 4. Die Humangeographie hat diesen "realräumlichen" Raumbegriff, der in der physischen Geographie ziemlich ungebrochen vorherrscht, zwar oft belächelt, um der Einheit des Faches willen bisher aber zähneknirschend hingenommen. Es ist nun offensichtlich, daß dies so nicht weitergehen kann. Entweder man negiert den erkenntnistheoretischen sozialwissenschaftlichen Diskurs, dann bleibt wahrscheinlich nur die Flucht in die offenen Arme des Mensch-Umwelt-Paradigmas, oder man schließt sich dem sozialwissenschaftlichen Diskurs an und riskiert - wieder einmal - den Bruch mit der physischen Geographie.
Literatur
Bahrdt, H.-P.(1987): Die Gesellschaft und ihre Soldaten. München.
Giddens, A. (1988) Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a. M.
Kommunikation und Raum (2004). http// www.historikertag.uni-kiel.de/kommunik.html (2.3.2004)
Meusburger, P.(2003): Editorial. In: Rundbrief Geographie Heft 185.
Pieper, R. (1989): Die Neue Sozialphysik. Zur Mechanik der Solidarität. Frankfurt a. M., New York.
Autor: Jürgen Pohl