Wirtschaftscluster
Georg Dybe, Hans Joachim Kujath: Hoffnungsträger Wirtschaftscluster - Unternehmensnetzwerke und regionale Innovationssysteme: Das Beispiel der deutschen Schienenfahrzeugindustrie. Berlin 2000. 162 S.
Gut 10 Jahre nach dem Erscheinen von Porters "The competitive advantage of Nations" ist das in dieser Studie ausgearbeitete Konzept des geografisch konzentrierten Clusters zur allgemein gültigen, die regionalpolitischen Konzeptionen dominierenden Entwicklungsstrategie der Republik geworden.1 Clusterpolitik bzw. zumindest einige elementare Versatzstücke derselben finden sich aktuell - ungeachtet der z. T. unterschiedlich firmierenden konkreten Label - in nahezu jedem regionalpolitischen Entwicklungskonzept.
Obgleich der regionalwissenschaftliche 'Take-off' des Clusterkonzeptes zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der vorliegenden Studie von Dybe/Kujath bereits vollzogen war, befand sich die regionalpolitische und empirische Überprüfung des Ansatzes in der Bundesrepublik noch am Beginn ihrer Ausarbeitung. Im Unterschied zu den bisherigen Beiträgen gebührt den Autoren in diesem Kontext das Verdienst, das Clusterkonzept theoretisch hinterfragt, netzwerkanalytisch verfeinert und kritisch mit der empirischen Realität konfrontiert zu haben.
Dabei geht es den Autoren nach eigenem Bekunden nicht darum, einen neuen theoretischen Zugang zum Problemkomplex von ökonomischen Innovationssystemen zu kreieren und daraus abgeleitete Hypothesen in einer empirischen Analyse zu überprüfen, sondern es soll "ein operationalisierbarer Ansatz zur Überprüfung und Weiterentwicklung des Theorems 'regionales Innovationssystem' entwickelt" (S. 9) werden. Um dieses Vorhaben einzulösen, wird auf das Clusterkonzept zurückgegriffen, da es die neuartige Verbindung von Bestands- und Stromgrößen darstellt. Bei der Beurteilung der Innovationsfähigkeit einer Region stehen nicht die 'harten' Bestandsgrößen wie Branchen und Sektoren im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die eher 'weichen' Stromgrößen der Beziehungsnetzwerke zwischen den Akteuren und die damit verbundenen Austauschprozesse u. a. in Form von Wissensströmen und Lernprozessen. Das Clusterkonzept beinhaltet - so die Autoren - "in seinem Kern die Aussage, dass es spezifische Teilsysteme wirtschaftlicher Interaktion gibt, diese Teilsysteme regionale Spezialisierungsmuster hervorbringen und diese Spezialisierungsmuster ein Ausdruck der spezifischen regionalen Innovationssysteme sind" (S. 9).
Der Zugriff der Analyse über das Clusterkonzept ist jedoch mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass es das Clusterkonzept nicht gibt. Die Autoren identifizieren in der bisherigen Debatte "vier Zugänge zur Definition von Clustern (, die) sich ergänzen und teilweise auch gegenseitig bedingen" (S. 23). Im Einzelnen handelt es sich dabei um Cluster 1. entlang der Wertschöpfungskette, 2. auf der gleichen Wertschöpfungsstufe, 3. im Netz von Exportbeziehungen und 4. in Form von Teilökonomien als ein System von Clustern (S. 19 ff.). Als resultierende allgemeine Definition dieser Ansätze bezeichnen Dybe/Kujath Cluster als "enge, intensive Input-Output-Beziehungen von Gütern, Geld und vor allem Information, durch brancheninterne und -übergreifende Verflechtungen" (S. 23). An dieser Definition verdeutlicht sich bereits, dass die u. E. essenzielle Charakteristik eines Clusters, die Frage nach der räumlichen Ausdehnung (vgl. Bruch-Krumbein/Hochmuth 2000; Hellmer u. a. 1999) im Ansatz von Dybe/Kujath keine Relevanz besitzt.
Während die in der Definition angesprochenen Metamorphosen von Gütern und Geld über den Preismechanismus vergleichsweise unproblematisch bewältigt werden, bedarf die darüber hinausgehende "Gestalt der Input-Output-Struktur von Wissen innerhalb des Organisationsfeldes" (S. 23) Cluster - so die Autoren - eine Präzisierung aus organisations- sowie institutionentheoretischer und aus evolutionstheoretischer Sicht.
Aus der erstgenannten organisations- sowie institutionentheoretischen Sichtweise werden unter der Voraussetzung nationaler institutioneller Rahmensetzungen Intensität sowie Richtung und Form der Transaktion als entscheidende Einflussgrößen für eine günstige Ausgestaltung der Interaktion und der Minderung von Transaktionskosten identifiziert. Da es sich hierbei zugleich um eine fruchtbare theoretische Weiterentwicklung des Clusteransatzes handelt, die darüber hinaus gut operationalisierbar ist, wird diese Präzisierung im Folgenden ausführlicher dargestellt.
Anknüpfend an Granovetter wird für die Intensität der Transaktion die Unterscheidung in 'weak' und 'strong ties' getroffen. Bei der Richtung und Form der Transaktionen wird zwischen vertikalen entlang einer Liefer- und Wertschöpfungskette ('traded interdependencies') und horizontalen Interaktionen innerhalb einer Branche oder verwandter Branchen, also konkurrierende Beziehungen, oftmals 'untraded interdependencies' unterschieden. Aus der Richtung und Intensität der Beziehungen - so die Autoren - lässt sich "eine Typisierung der Beziehungsformen ableiten, die zugleich Aussagen über die wirtschaftlichen und räumlichen Effekte ermöglicht" (S. 25). Unter dem Blickwinkel der Betonung der überragenden Bedeutung von Lernen und Wissen für die regionalen Entwicklungen hoch industrialisierter Länder und der damit einhergehenden gängigen Differenzierung in explizites und implizites Wissen, werden zwei Beziehungssysteme mit jeweils zwei sozialen Grundformen abgeleitet. Die Beziehungssysteme umfassen die Organisation und räumliche Ordnung des 1) vertikalen und 2) des horizontalen Wissensaustausches. In diesen Beziehungssystemen werden wiederum jeweils zwei organisations- und institutionstheoretische soziale Grundformen bzw. Arrangements unterschieden: im vertikalen Beziehungssystem 1) der Produktionsverbund und 2) das Kontaktsystem. Im horizontalen Beziehungssystem 1) der Interessenverbund und 2) die Community.
Der vertikale Produktionsverbund zeichnet sich durch standardisierte Transaktionsbeziehungen in bilateralen Kooperationsbeziehungen (relationale Verträge), resultierend aus wechselseitigen Abhängigkeiten (Lieferbeziehungen, Systempartnerschaften), aus. Der Austausch des kodifizierbaren Wissens erfolgt im hohen Maße in formalisierter Zusammenarbeit zwischen Branchen und im Erfahrungslernen. Dem gegenüber basiert das vertikale Kontaktsystem auf einer Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen auf der Grundlage von Konventionen und persönlichem Vertrauen (weak ties) zwischen den Firmenleitungen. Der Wissensaustausch zielt auf die Erschließung externen Wissens und innovativer Neuerungen (z. B. Silicon Valley).
Der horizontale Interessenverbund stellt eine organisatorisch und institutionell gefestigte Zusammenarbeit (strong ties) dar. Es handelt sich um Abmachungen zwischen Unternehmen einer Branche, mit dem Ziel der Absicherung oder der Entwicklung einer gemeinsamen Wissensbasis (strategische Allianzen, Joint Ventures o. ä.). Als abschließendes Arrangement verkörpert die horizontale Community ein nicht formales, gefestigtes kollegiales Beziehungssystem bzw. Netzwerk von Experten, welches über konkurrierende Unternehmen hinweg agiert. Ausgetauscht wird themenzentriertes, nicht firmengebundenes 'tacit knowledge' durch interaktives Lernen (S. 26 ff.).
Aus diesen vier Grundformen bzw. organisatorisch institutionellen Arrangements werden zugleich - die hier besonders interessierenden - ersten räumlichen Konsequenzen abgeleitet (S. 27 ff.). Die in der Debatte des 'New Regionalism' große Bedeutung der räumlichen Nähe2 für die neuen oder restrukturierten Dienstleistungs- und Produktionsstandorte findet sich im vertikalen Kontaktsystem und in der horizontalen Community. Der vertikale Produktionsverbund benötigt demgegenüber keine räumlich konzentrierten Austauschbeziehungen. Während die Autoren also für den Produktionsverbund, das Kontaktsystem und die Community eindeutige Aussagen bezüglich der räumlichen Distanzen treffen, bleibt die Beantwortung der Frage nach der 'Notwendigkeit' räumlicher Nähe für den Interessenverbund offen. Es wird lediglich eine gewisse Vorteilhaftigkeit gemeinsamer Standorte vermutet.
Verkompliziert wird sowohl die Frage nach den räumlichen Implikationen als auch die bisherige analytische Differenzierung durch den Tatbestand, dass Cluster sich als ein System von Transaktionen auszeichnen, d. h. es besteht zwischen den bisher dargestellten vertikalen und horizontalen Organisationsformen und den unterschiedlichen Formen des Austausches des impliziten und expliziten Wissens innerhalb eines Clusters eine Wechselbeziehung. Zur Veranschaulichung der bisherigen Analyse und der jeweils möglichen Beziehungen und sozialen Transaktionen in Clustern entwerfen die Autoren eine 4-Felder-Matrix. Die 4 organisations- und institutionstheoretischen sozialen Grundformen werden wie bereits dargestellt nach Art und Richtung der Transaktion in horizontal und vertikal und die Intensität der Beziehung bzw. Transaktion nach stark und schwach aufgeschlüsselt (S. 26 ff. sowie S. 33).
Wie die Matrix zeigt, bilden Interessenverbund/Produktionsverbund und Community/Kontaktsystem im Hinblick auf die Intensität der Beziehungen die beiden Extreme der Wechselwirkung horizontaler und vertikaler Unternehmensbeziehungen in Clustern.
Für diese beiden Extreme wird die innere Gestalt der jeweiligen entsprechenden Cluster theoretisch weiter differenziert (S. 34 f.). Während ein Cluster aus Community/Kontaktsystem, d. h. die Verbindung von einem horizontalen kollegialen Beziehungssystem mit einem losen Verbund vertikaler Kooperation, eine größere Mobilisierung von implizitem Wissen zwischen den Akteuren ermöglicht und eine Vielfalt von Lernprozessen einzuleiten vermag, ist ein Cluster in Form von Interessenverbund/Produktionsverbund als weit weniger innovativ zu veranschlagen. Horizontale Allianzen und vertikaler Verbund monopolisieren tendenziell explizites Wissen und tragen zu einer Verminderung des Wettbewerbs bei. Hinzu kommt - so die weitere Argumentation - eine tendenzielle Generierung von Abhängigkeitsverhältnissen der vor- und nachgelagerten Betriebe (Quasi-Integration). In geografischer Hinsicht besteht beim Cluster vom Typus Community/Kontaktsystem eine Entwicklungslogik der horizontalen und vertikalen Ballung zur Ausnutzung von Wissens-Spillovers. Umgekehrt besteht beim Clustertypus Interessenverbund/Produktionsverbund in vertikaler Perspektive, d. h. entlang der Wertschöpfungskette, keine bzw. - horizontal - eine von den Autoren eher vermutete Tendenz zur räumlichen Nähe.
Insgesamt kann hier aus der Perspektive der geografischen Nähe - wenn auch von den Autoren nicht explizit ausgesprochen - festgehalten werden, dass eine vom 'New Regionalism' favorisierte Entwicklungslogik zur räumlichen Nähe sich - schon auf der bisherigen von den Autoren verfolgten theoretischen Ebene - keinesfalls als beherrschende Tendenz darstellt. Wird in Rechnung gestellt, dass die Vorteilhaftigkeit der räumlichen Nähe beim Interessenverbund eher auf Vermutungen beruht, ist zu konstatieren, dass die geografische Ausdehnung eines Clusters auch auf der Basis der herausgearbeiteten Organisationslogik eines Clusters weitgehend unbestimmt bleibt.3
Soweit die von den Autoren vorgenommene organisations- sowie institutionentheoretische Präzisierung des Clusterbegriffs. Die weiteren theoretischen Ausführungen vervollständigen das bisher Entwickelte in evolutionstheoretischer Perspektive. Die Relevanz dieser Perspektive resultiert aus dem Tatbestand, dass die bisher betrachteten institutionellen Kontexte und Organisationsformen von Unternehmensclustern "nicht ad hoc (entstehen, d. V.) sondern evolutorisch" (S. 36). Damit werden auch die ökonomischen und innovationsrelevanten 'harten Voraussetzungen', die zeitliche Persistenz und Pfadabhängigkeit ökonomisch technologischer Entwicklungen in Clustern thematisiert. Anknüpfend an das Konzept der technologischen Trajektorien (Dosi/Nelson) lassen sich - so die Argumentation - auch die regionalen Implikationen des ökonomisch-technologischen Wandels mit der regionalen Produkt- und Industrielebenszyklus-Theorie präzisieren. Das bekannte Grundmodell der vier Phasen der Theorie wird von den Autoren verwendet, um zu einer Regionstypologie zu gelangen, in der die bisherigen Überlegungen "über vertikale und horizontale Verbindungen unterschiedlicher Stromkonsistenz in die vier Phasen des Zyklus integrier(t)" werden (S. 41). Zugleich wird damit - so die Autoren - der bisherige theoretisch blinde Fleck der Produktlebenszyklustheorie geschlossen, d. h. die Frage "ob horizontale oder vertikale Wissensströme die typischen Charakteristika der jeweiligen Phasen sind" (S. 41).
Indem die Autoren ihre bisherigen Überlegungen zur Bedeutung von vertikalen und horizontalen Beziehungen mit einem im Hinblick auf die Bedeutung von Wissen erweiterten Ansatz des regionalen Industrielebenszyklus verbinden, gelangen sie zu den folgenden vier Typen von Regionen in verschiedenen Phasen des Industrielebenszyklus. Dabei betonen sie zurecht, dass dieser Ansatz nicht deterministisch verstanden werden darf, da die Beschaffenheit einer Region einem kontinuierlichen Wandel unterliegen kann und sich in "einem konkreten Raum Elemente verschiedener Stadien" (S. 42) finden. Aufgrund der gebotenen Kürze konzentrieren wir uns auf die Bedeutung von Wissen und Innovation im Beziehungssystem des jeweiligen Zyklus und auf die Aspekte der räumlichen Nähe.
In der Innovationsphase dominieren wissensintensive horizontale Beziehungen. Aufgrund des Tatbestandes, dass oftmals neue Produkte aus jungen kleinen Unternehmen hervorgehen, besteht - so die Diagnose - ein Drang zur räumlichen Ballung und zu regionalen Netzwerken. Im weiteren Verlauf des Industrielebenszyklus nimmt die Innovativität sukzessive ab und damit verändern sich auch die Wissensströme. In der Wachstumsphase verlagern sich die horizontalen hin zu vertikalen Strömen. Die Prozess- und Organisationsinnovationen nehmen gegenüber den Produktinnovationen zu. Die Standardisierungsphase ist durch sich aufspaltende vertikale Güterverflechtungen gekennzeichnet. Die Wissensintensität der Beziehungen nimmt gegenüber den Güterverflechtungen ab. Damit einher gehen räumliche Dezentralisierungstendenzen. Einzelne Funktionen werden ausgegliedert; die Wertschöpfungskette dehnt sich z. T. auch in periphere Regionen aus. Die Schrumpfungsphase ist durch Abschottung auf horizontaler Beziehungsebene charakterisiert. Die Branche schrumpft. Es kann zur Fragmentierung und Desintegration der Region kommen (S. 41 ff.).
In der Perspektive der Evolution von Clustern ist festzuhalten, dass, erstens, sich auch in diesem Kontext keine entwicklungsimmanenten eindeutigen Tendenzen zur räumlichen Nähe identifizieren lassen. Räumliche Nähe erscheint allenfalls in den ersten beiden Phasen plausibel. Eine ökonomische Aufwertung der regionalen Ebene lässt sich mit dem Clusterkonzept auch in der Lesart von Dybe/Kujath nur schwerlich begründen.
Zudem wird zweitens deutlich, dass das Clusterverständnis von Dybe/Kujath weiche Stromgrößen und harte Faktoren gleichermaßen in den Clusterbegriff integriert. Diese Vorgehensweise ist, wie Rehfeld (1999) frühzeitig gezeigt hat, nicht zwingend und betreffs möglicher empirisch feinerer Differenzierungen in harte und weiche Faktoren nicht unproblematisch (vgl. Bruch-Krumbein/Hochmuth 2000; Hellmer u. a. 1999). Durch die von den Autoren vorgenommene analytische Trennung der vier sozialen Grundtypen des Beziehungssystems, welche jedoch implizit eine solche Trennung beinhaltet, ist diese begriffliche Subsumtion der analytischen Qualität des Ansatzes gleichwohl nicht abträglich. Drittens zeigen die herausgearbeiteten vier Pfade regionaler Wirtschaftscluster die Rückbindung und damit die 'constraints' jedweder regionalpolitischen Entwicklungsstrategie an bestehende ältere industrielle Verflechtungsstrukturen und erlauben den Autoren zugleich einen präziseren Zugriff auf ihr empirisches Material, die Schienenfahrzeugindustrie in der Bundesrepublik und in der Region Berlin-Brandenburg.
Dabei wird der entwickelte theoretische Ansatz mit Hilfe einer sich "überlagernden Mehrebenenanalyse" (S. 50) überprüft: Erstens wird das vertikale Beziehungssystem, die Wertschöpfungsketten, auf der Basis von Input-Output-Tabellen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung analysiert. Eine Typisierung und Bewertung der Transaktionsformen erfolgt zweitens mit der Methode der Netzwerkanalyse. Damit sollen zugleich die räumlichen Beziehungsstrukturen eingefangen werden (vertikale und horizontale Beziehungsstrukturen). Drittens wird eine wirtschaftshistorische Längsschnittanalyse speziell für die Schienenfahrzeugindustrie in Berlin-Brandenburg geleistet, um Pfadabhängigkeiten und historische Brüche in die Analyse zu integrieren (S. 50).
Die Autoren verwenden damit einen komplexen methodischen Ansatz - ohne es zu versäumen, dessen statistische etc. Grenzen zu diskutieren -, der dem empirischen Gegenstand gerecht wird. Als Daten- und Erhebungsgrundlage dient neben der amtlichen Statistik die Schienenfahrzeugindustriemesse Inno Trans 98 in Berlin 1998. In die soziometrische Netzwerkanalyse, die durch Interviews ergänzt wurde, wurden 84 Unternehmen mit 228 primären Kontakten einbezogen, welche zwar nicht das gesamte Beziehungsnetzwerk, jedoch alle Finalproduzenten und namhafte Zulieferer umfassen.
Bei der Darstellung des empirischen Materials offenbart sich erneut der Tatbestand, dass Cluster im Verständnis von Dybe/Kujath keine eindeutige regionale Spezifikation aufweisen. Der unserer Einschätzung nach wichtigen Bestimmung eines Wirtschaftsclusters als regionalisierter Teil der ökonomischen Beziehungen von Unternehmen (vgl. zusammenfassend Bruch-Krumbein/Hochmuth 2000) wird hier nicht gefolgt. Die gesamte deutsche Schienenfahrzeugindustrie wird folgerichtig von vornherein als ein Cluster bezeichnet.
Ungeachtet dieser Herangehensweise erfolgt in der weiteren Darstellung eine präzise Bestimmung der Clusterbeziehungen entsprechend des vorausgeschickten theoretischen Ansatzes. Aufgrund der gebotenen Kürze der Darstellung konzentrieren wir uns im Folgenden im Wesentlichen auf die räumlichen Aspekte.
Den Kern des Schienenfahrzeugclusters in Deutschland bilden drei große Finalproduzenten mit Hauptverwaltungen in Berlin und weiteren auf die gesamte Republik und in geringem Maße auf das angrenzenden östliche und südliche Europa verteilten Standorten. Eine beherrschende Entwicklungstendenz der Finalproduzenten im Zulieferbereich sei die Verringerung der Fertigungstiefe. Allerdings bilde sich dabei kein mehrstufiges System der Zulieferung durch Koordination von Sublieferanten um Fertigungsmodule, z. T. in enger räumlicher Nähe zum Endmontagebetrieb wie in der Automobilindustrie, heraus. Im Unterschied dazu erfolge ein Zusammenschluss klein und mittelständischer Unternehmen mit einer breiten Palette nicht direkt aufeinander bezogener Produkte unter dem Dach einer Holding oder Arbeitsgemeinschaft. Darüber hinaus wird konstatiert, dass die Finalproduzenten bei größeren anspruchsvollen Vorhaben horizontale Konsortien bilden, womit ein gegenseitiger Wissensaustausch verbunden sei. Insgesamt zeichne sich eine zunehmende nationale Oligopolisierung und die Tendenz zur Herausbildung eines europäischen Produktionsverbundes ab (S. 72 ff.).
Auffällig bei der Input-Output-Analyse ist die hohe sektorinterne Verflechtung dieser Branche, die jedoch aus der statistischen Verknüpfung der Schienenfahrzeugindustrie mit dem Stahl- und Leichtmetallbau resultiert und somit empirisch wenig aussagefähig ist. Elementarer ist demgegenüber das Ergebnis, dass in der Region Berlin-Brandenburg nur ein relativ geringer Anteil der Vorleistungen in der Schienenfahrzeugindustrie erbracht wird, während - wie bereits erwähnt - auf nationaler Ebene ein vollständiger Cluster ausgemacht wird (S. 79).
Aus der Netzwerkanalyse der Interaktionsmuster und Interorganisationsstruktur ausgehend von fünf fokalen Unternehmen (zwei große Systemintegratoren, einem Generalunternehmer, einem externen Systemanbieter und einem Zulieferverbund) resultiert im Lichte der theoretischen Ausgangsanalyse folgendes Bild: Die bereits angesprochene horizontale Konsortialbildung der drei Finalproduzenten wird dem Typ des Interessenverbundes zugeordnet. In vertikaler Perspektive wird ein Produktionsverbund mit einer kleinteiligen, mittelständischen wettbewerblichen Struktur diagnostiziert. Dabei sind Beziehungen zu einem einzigen Abnehmer eher die Ausnahme. Beliefert werden zumeist mehrere Finalproduzenten und auch benachbarte Branchen. Es handle sich bei diesem Verbund um eine Strategie der Reduzierung von Transaktionskosten und Unsicherheit in der Wertschöpfungskette, verbunden mit einer Maximierung der Gewinnchancen durch tendenziell oligopolistisch organisierte Finalproduzenten bei gleichzeitiger Gewährleistung von Flexibilität. Aus dem Blickwinkel der Generierung und dem Austausch von Wissen zeichnen sich diese interorganisatorischen Strukturen durch die Dominanz der Verbreiterung von explizitem Wissen aus. Prozessinnovationen stehen - so wird konstatiert - im Vordergrund (S. 88 f.).
Die damit einhergehende Einordnung dieser Transaktionsform des Clusters in den Produkt- und Industrielebenszyklus gestaltet sich demgegenüber - so die Autoren - als schwierig. Zwar habe die Branche ein reifes Stadium erreicht (inkrementelle Innovation, nach horizontalen und vertikalen Konzentrationsprozessen großindustrielle Organisation des Produktionsprozesses, hohe Kapitalintensität), jedoch vermögen die Finalproduzenten und Zulieferer den Reifungsprozess durch Etablierung neuer Produktcharakteristika oder Differenzierung der Produkteigenschaften zu drosseln (dynamic flexibility).
In der sich daran anschließenden Netzwerkanalyse der räumlichen Ordnung werden nun alle 228 Beziehungspaare des Ausgangsmaterials einbezogen (S. 90 ff.). Bei branchenmäßig und funktional undifferenzierter Betrachtung des gesamten Clusters kann, so die Ergebnisse, von einem alle Funktionen zusammenfassenden regionalen Cluster nicht gesprochen werden. Die häufigsten Beziehungen finden sich im Umkreis von 401-500 km. Werden jedoch die Beziehungsdistanzen nach Funktionsbereichen des Clusters differenziert, wird für den Dienstleistungsbereich im Unterschied zur Güterproduktion, die eine Überrepräsentanz ab 300 km aufweist, eine überdurchschnittliche Häufung der Beziehungen im Radius von 1-100 km und 101-200 km identifiziert. Die Autoren gehen daher von einer regionalen Bindung der Ressource Wissen aufgrund der Transaktionskosten senkenden Wirkung persönlicher Nähe vor allem im Zusammenhang der Anbieter und Abnehmer von wissensintensiven Ingenieur-Dienstleistungen aus.
Offen bleibt abschließend die Frage der standörtlichen regionalen Ballung jenseits der diskutierten Dienstleistungsbeziehungen und unabhängig von den räumlichen Lieferbeziehungen. Für diese Ausgestaltung von Standortspezialisierungen lässt sich, so wird ausgeführt, ein prägnantes Muster feststellen. Die Schienenfahrzeugindustrie konzentriere sich in einigen Regionen (Berlin-Brandenburg, Südniedersachsen, Rhein-Ruhr, Baden-Württemberg, Bayern), in denen sich mit Ausnahme der Rhein-Ruhr-Region nicht mehr die gesamte Palette der Wertschöpfungskette finde. Dies gilt insbesondere für die beiden ostdeutschen Regionen.
Insgesamt resultieren aus der Analyse folgende Kernaussagen (S.100 f.):
- Die These vom "regionalen Innovationssystem" wird in Bezug auf die Wertschöpfungskette zurückgewiesen. Der Schienenfahrzeugindustriecluster hat sich aus den regionalen Bezügen gelöst. Regional sind nur noch Teilstücke der Wertschöpfungskette verankert. Regionale Spezialisierungen sind häufig nicht nur dem Schienenfahrzeugindustriecluster zuzuordnen. Am daran gebundenen Querschnittswissen partizipieren auch andere Cluster.
- Räumliche Nähe innerhalb der Wertschöpfungskette ist obsolet, weil im Wesentlichen explizites standardisierbares und kodifizierbares Faktenwissen ausgetauscht wird. Dies ist auch über große Distanzen möglich. Dies gilt z. T. sogar für das ingenieurwissenschaftliche Wissen.
- Diese Befunde stimmen mit den Überlegungen des Produkt- und Industriezykluskonzepts überein, welches räumliche Dezentralisierung mit der technischen Reife des Produkts erklärt, was in der Schienenfahrzeugindustrie weitgehend gegeben ist.
- Die regionale Ebene ist nur bedeutend für das an Personen gebundene 'tacit knowledge' des gesamten räumlichen Kommunikationsnetzes von Experten und Unternehmen. Daraus erklären sich die regionalen Spezialisierungen innerhalb der Wertschöpfungskette auf bestimmte Bereiche.
- In regionaler Perspektive resultiert daraus insgesamt eine breitere Clusterdefinition. Regionale Cluster werden in weit höherem Maße von horizontalen Wissensströmen bestimmt. Die vertikalen Dimensionen spielen demgegenüber eine geringere Rolle. Dabei existiert zwischen beiden Clustertypen4 ein symbiotisches Abhängigkeitsverhältnis. Die Konkurrenzfähigkeit der vertikalen Bezüge bedürfen - so wird vermutet - der Einbindung in innovative regionale Kommunikationsnetze.
- Für den ostdeutschen Schienenfahrzeugbau gilt, dass sich die beiden letztgenannten regional essenziellen Tatbestände nicht oder nur partiell (z. B. Berliner Raum) finden lassen, d. h. auch eine regionale horizontale Verankerung der Beziehungen ist kaum gegeben, obwohl die ostdeutschen Finalproduzenten einen bedeutenden Kern des nationalen Clusters bilden.
Zusammenfassend belegen die empirischen Befunde des Schienenfahrzeugbaus und die theoretischen Überlegungen nachdrücklich, dass regionale Cluster eher eine Ausnahmeerscheinung der geografischen ökonomischen Landschaft darstellen. Die clusterspezifischen regionalen Anknüpfungspunkte in der Schienenfahrzeugindustrie sind als äußert dürftig zu bezeichnen. Zurecht betonen die Autoren die große Wechselwirkung einer Clusterstrategie mit den dominierenden überregionalen Bezügen. Dieser Tatbestand ist kein Spezifikum der Schienenfahrzeugindustrie, sondern eine bittere Lektion für die meisten Regionen. Daher ist in puncto regionalpolitische Praktikabilität des Ansatzes mehr Realismus angebracht. Die regionale Entwicklung, das belegt das Beispiel Schienenfahrzeugindustrie eindrucksvoll, bedarf ergänzend der national und ggf. der europäisch ausgerichteten makroökonomisch komplettierenden Steuerung (vgl. Bömer 2000). Überspitzt kann sogar die Frage gestellt werden, ob eine Clusterpolitik überhaupt eine regionalpolitische Strategie darstellt, oder ob es sich nicht um eine Strategie auf Bundesländer und Bundesländer übergreifender, also nationaler und europäischer Ebene handelt, in der die regionale Ebene zwar einen partiell wichtigen, jedoch insgesamt den Stellenwert einer abhängigen Variable einnimmt.
Neben diesen essenziellen empirischen Ergebnissen der Studie ist der vorgelegte theoretische Zugriff insgesamt wohl durchdacht und in Bezug auf die empirische Methode gut operationalisiert. Die bemängelte geografische Unschärfe des Clusterbegriffs beinhaltet keine grundsätzlichen theorieimmanenten Widersprüche der Argumentation der Autoren, sondern reflektiert nur die geografische Unschärfe des gesamten Clusteransatzes, welche die Autoren in ihrer empirischen Analyse schonungslos offen legen. Gerade diese räumliche Unschärfe hat - so unsere These - dazu geführt, dass er häufig unkritisch von regionalpolitischer Seite propagiert wurde.
Die Autoren nehmen für sich in Anspruch, dass sie für die noch in den "Kinderschuhen" steckende Clusterforschung einen "kleinen Beitrag" geleistet haben (S. 148). Diese Einschätzung ist sicherlich untertrieben. Bei der vorgelegten Analyse handelt es sich um einen theoretisch, aber auch empirisch wegweisenden Beitrag, und sie ist daher uneingeschränkt empfehlenswert.
Anmerkungen
1 Warum gerade Porters Konzept einen solch exorbitanten Erfolg und Verbreitungsgrad erfahren konnte, obwohl andere regionalwissenschaftliche Forschungsarbeiten zu ähnlichen, überwiegend sogar präziseren Ergebnissen kamen, wird aktuell von Martin/Sunley (2003) thematisiert. Kurz gesagt, erwies sich Porters Ansatz - so das zentrale Argument - für politische Ansätze neoliberaler Provenienz in hohem Maße praktikabel.
2 Für uns wenig überraschend wird die empirische Validität und die Ableitungslogik des Ansatzes im Hinblick auf diesen Tatbestand neuerdings kritisch hinterfragt (vgl. Markusen 1999).
3 Die Autoren befinden sich damit in guter Gesellschaft. Auch bei Porter als dem bereits erwähnten Begründer des Clusteransatzes erzwingt die Begriffsentwicklung keine eindeutigen räumlichen Resultate (vgl. Bruch-Krumbein/Hochmuth 2000), was viele regionalpolitische Consultants jedoch nicht gehindert hat, seine Gültigkeit auch für regionale, also kleinräumigere Zuschnitte zu propagieren.
4 Diese Aussage von zwei Clustertypen verwundert ein wenig, wurde doch bei den theoretischen Vorüberlegungen dargelegt, dass ein Cluster vertikale und horizontale Beziehungen umfasst (vgl. Abb. 1).
Literatur
Bömer, Hermann u. a. (2000): Ruhrgebiet in der Krise. Dortmund (Dortmunder Beiträgezur Raumplanung 101).
Bruch-Krumbein, Waltraud, Elke Hochmuth (2000): Cluster und Clusterpolitik. Begriffliche Grundlagen und empirische Fallbeispiele aus Ostdeutschland. Marburg.
Hellmer, Friedhelm, Christian Friese, Heike Kollros, Wolfgang Krumbein 1999: Mythos Netzwerke. Regionale Innovationsprozesse zwischen Kontinuität und Wandel. Berlin.
Markusen, Ann (1999): Fuzzy Concepts, Scanty Evidence, Policy Distance: The Case for Rigor and Policy Relevance in Critical Regional Studies. In: Regional Studies Vol. 33, No. 9, S. 869-884.
Martin, Ron, Peter Sunley (2003): Deconstructing Clusters: Chaotic Concept or Policy Panacea? In: Journal of Economic Geography 3, H. 1, S. 5-35.
Porter, Michael E. (1990): The Competitive Advantage of Nations. New York.
Rehfeld, Dieter (1998): Produktionscluster. Konzeption, Analysen und Strategien für eine Neuorientierung der regionalen Strukturpolitik. Habilitationsschrift. Gelsenkirchen.
Autor: Fritz Hellmer