Von einem neuerdings erhobenen konfessionellen Ton in der Geographie
1 Die Sorgen eines Präsidenten
In einem Text mit dem Titel "Die Disziplin der Weißwäscher" habe ich (1979) versucht, einige epistemische und soziale Merkwürdigkeiten der Disziplin "Geographie" zu beschreiben und verständlich zu machen1 . Der Text wurde, soweit ich sehe, durchweg als ein zynisches Overstatement empfunden. Was das Urteil "zynisch" angeht, so muß ich es akzeptieren, wenn es im Sinne der Definition von Ambrose Bierce gemeint ist: Zyniker, der: Schuft, dessen mangelhafte Wahrnehmung die Dinge sieht, wie sie sind, statt wie sie sein sollten. Hierher gehört die skythische Gepflogenheit, eines Zynikers Augen auszureißen, um seine Wahrnehmung zu verbessern. (Ambrose Bierce: Die gesammelten Geschichten und des Teufels Wörterbuch. Frankfurt a. M. 2000, S. 1038)Was dann den Vorwurf der Übertreibung betrifft: Erstens hat das sog. Übertreiben auch in der Wissenschaft (neben bedenklicheren) auch zahlreiche positive - heuristische, verständnisfördernde und ästhetische - Funktionen2 . Und schließlich: Fast jede Nummer des "Rundbriefs Geographie", also des offiziellen Organs des "Verbandes der Geographen an Deutschen Hochschulen (VGDH)", überbietet inzwischen meine damaligen Übertreibungen und liefert neue Belege zu meinen alten Hypothesen. Zur Illustration sei das jüngste "Editorial" des Präsidenten Meusburger im Rundbrief 181, 2003, S. 1 f., herausgegriffen.
Diese präsidentielle Ansprache von Peter Meusburger an alle Hochschulgeographen hat den Titel "Stärkung des Verbandes der Geographen an deutschen Hochschulen" und beginnt mit der "herzlichen Einladung", "Mitglied beim 'Verband der Geographen an deutschen Hochschulen'" zu werden. Wie sich im Verlauf der Ansprache dann zeigt, hat diese Herzlichkeit aber etwas von der "fürchterlichen Jovialität" von Ernst Jüngers berühmtem Oberförster an sich.
Er hat beobachtet, "daß weniger als die Hälfte der deutschen Referenten beim Berner Geographentag Mitglied beim VGDH sind", daß "Nachwuchswissenschaftler" sich nicht einmal ins "Geographische Taschenbuch" eintragen ließen und - Höhepunkt dieser Dreistigkeiten - sogar geographische Bewerber für geographische Professuren beobachtet wurden, die weder seinem Verband (bzw. der DGfG) angehörten, noch überhaupt im Geographischen Taschenbuch eingetragen waren.
Demgegenüber zählt der Präsident die "guten Gründe" auf, Mitglied seines Verbandes zu werden. Zunächst nennt er zwei "ideelle Gründe". Erstens brauche der Verband "zusätzliche finanzielle Ressourcen" für "eine schlagkräftige Interessenvertretung", "Lobbyarbeit" und "Werbeaktionen". Dann folgt der zweite dieser "ideellen" Gründe, und dieser verdient, als geographiehistorisches Dokument unverkürzt zitiert zu werden:
"Zweitens haben die etablierten Professoren aber auch die Verantwortung, ihre jüngeren Mitarbeiter darauf hinzuweisen, daß bei einer akademischen Karriere [im Fach Geographie] neben wissenschaftlicher Exzellenz in Forschung und Lehre Kriterien wie z. B. das Bekenntnis und Engagement für das eigene Fach eine Rolle spielen. Wir erleben es nicht selten, daß sich [geographische] Nachwuchswissenschaftler bis zu ihrer Habilitation als GIS-Experten oder als Ökologen etc. [!] ausgeben und ihre Zugehörigkeit erst entdecken, wenn sie sich auf eine Professur für Geographie bewerben. Dann werden aus Leuten, deren Herz bisher für andere Fächer schlug, über Nacht plötzlich Geographen, und nach erfolgter Berufung nimmt die Distanz zur Geographie leider wieder zu. Diese Nachwuchswissenschaftler sollten bedenken, daß nicht wenige Gutachter [...] auch das bisherige Engagement für und das Bekenntnis zur Geographie als eines von mehreren Kriterien ihrer Beurteilung heranziehen. Wenn ein Bewerber nicht Mitglied eines der DGfG-Teilverbände ist oder nicht einmal im Geographischen Taschenbuch aufscheint (auch solche Fälle gibt es), stellt sich manchem [!] Gutachter unwillkürlich [!] die Frage: Wie wird sich solch ein/e Kollege/in für das Institut oder das eigene Fach einsetzen? Identifiziert er oder sie sich überhaupt mit der Geographie? [...] Wie solidarisch wird er oder sie gegenüber den Interessen der Geographie sein? Holen wir uns da einen Fremdkörper ins Institut, der dafür sorgen wird, daß die Stelle bei der nächsten Berufung für die Geographie verloren gehen wird?
Je mehr qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber auf eine freie Stelle entfallen, umso mehr werden solche Fragen und Argumente bei der Begutachtung und Reihung der Kandidaten eine Rolle spielen. Denn in der heutigen Zeit kann es sich kein [geographisches] Institut mehr leisten, Kolleginnen und Kollegen zu berufen, die sich nicht mit der Geographie voll identifizieren." (Meusburger 2003, S. 1 f.)
Dergleichen kann ein geographischer "Nachwuchswissenschaftler" wohl nur als Drohung verstehen: Bekenne/identifizere dich, oder Du fliegst raus. Angesichts der schönen Ungebrochenheit und Authentizität, mit denen unser Präsident seine geographische Vereins- und Stammesmoral (anders gesagt: sein Insistieren auf einer distanzlosen, also dummen geographischen Identität) hier vorträgt, nimmt man ihm auch gerne ab, dass er sich im Interesse seiner eigenen Karriere selber immer strikt daran gehalten hat.
2 Wie man sich bekennen sollte
Gehen wir die Sache pragmatisch an: Wie sollte ein "Nachwuchswissenschaftler" sich bekennen, womit identifizieren, um ungeschoren davon zu kommen? Für die allfälligen Bekenntnisrituale und Bekenntnisformeln könnte man ihm empfehlen, auf die (Vereinsloyalität signalisierenden) differenzlosen All- und Ganzheitsformeln zurückgreifen, wie sie typischerweise von verflossenen, amtierenden und künftigen Vereinspräsidenten (und anderen bekennenden Geographen) in Ansprachen, Homepages und Geographischen Lexika produziert werden, z. B. auf der Homepage 2001 der Deutschen Gesellschaft für Geographie 2001:"Geographie befaßt sich mit der Erdoberfläche, mit Landschaften, mit den Menschen, mit Standorten sowie mit den materiellen und geistigen Umwelten der Menschen. In der Geographie geht es, sehr allgemein ausgedrückt, um die Welt, in der wir leben."
- und eben daraus folgt messerscharf: "Die Geographie vermittelt Bildung für das Leben [...] essentiell für das 21. Jahrhundert." (ebd.)3
Dieses Bekenntnis unserer Vereinsoberen sollte der bekennende Neophyt vielleicht in methodischer Hinsicht doch noch ein wenig ergänzen, nämlich durch den "Schlüsselsatz der Geographie", der im Lehrbuch "Humangeographie" von P.L. Knox und S.A. Marston (genauer: in dessen deutscher Bearbeitung durch Hans Gebhardt, Peter Meusburger und Doris Wastl-Walter von 2001) dem zitierten Geographiebekenntnis unserer Vereinsoberen direkt gegenübersteht und graphisch noch besonders hervorgehoben wird:
"Eine Grundregel der Geographie besagt, dass fast alle Dinge miteinander in Beziehung stehen."
So ist man in alter und konsequenter Weise vom Alles auf den Allzusammenhang gekommen: aber immerhin deutet sich in dem (nicht weiter erläuterten) Wörtchen "fast" ein gewisser Erkenntnisfortschritt (um nicht zu sagen: ein Paradigmenwechsel) an - zumindest gegenüber der irdisch-kosmischen connexio rerum und Allsympathie der Magier und Hexer, Alchemisten und Astrologen.4 Und weil verworrene holistische Hirngespinste dieser Art zu ihrer Plausibilisierung schließlich immer nach anschaulich-ganzheitlichen Bildern schreien, taucht in der Homepage unserer Vereinsoberen prompt auch die "Landschaft" auf - als eine noch "viel tiefere Erfahrung" bei "Ausflügen in naturnahe ländliche Räume", und wegen alledem wiederum "kommt den Geographinnen und Geographen [im 21. Jahrhundert] eine Schlüsselrolle zu" - für "Respekt" und "Verantwortung", "Nachhaltigkeit" und "Frieden", "Gerechtigkeit" und "kulturelle Toleranz", überhaupt alles Gute und Schöne in der Welt.
Man sage nicht, das seien eben exoterische Texte, gedacht für einfältige junge Leute, die mental so fürs Geographiestudium präpariert werden sollen, daß (um mit dem Präsidenten zu reden) ihr "Herz" nie mehr "für andere Fächer schlägt": Unsere Vereinsoberen reden und schreiben solche Sottisen über die Geographie auch dann, wenn sie ganz Wissenschaftler sind. Ihre unsäglichsten Texte allerdings produzieren sie gemeinhin doch als Präsidenten.
Alle ihre Verlautbarungen laufen jedenfalls darauf hinaus (und je bekenntnishafter sie werden, umso mehr), dass die Geographie die Wissenschaft von Allem ist, und zwar die Wissenschaft von Allem in alltäglicher Perspektive - vulgo eben "die [ganze] Welt, in der wir [alle] leben" (besonders schön z. B. wieder: Blotevogel 2002). Wenn das auch nicht die real existierende Geographie sein mag, so ist es doch die Geographie, zu der die tonangebenden Vereinsgeographen sich bekennen und folglich wohl auch ihre "Nachwuchswissenschaftler" sich bekennen hören wollen.
3 Verwunderliches
Sicherlich gab es in der Geographie immer schon Bekenntniszwänge und Zwangsbekenntnisse, Vereinszwänge und Zwangsvereine dieser und ähnlicher Art (z. B. 1933 ff.); in liberaleren Zeiten (meistens Krisenzeiten, in denen sogar die Bischöfe zu ahnen begannen, daß sie sich mit dergleichen intellektuell disqualifizierten) wurden die einschlägigen Rituale jedoch oft mit mehr Zurückhaltung, ja zuweilen sogar mit Ironie inszeniert.5Kurz, ein Geographiebekenntnis sensu Meusburger ist die Schwund- bis Nullstufe einer Geographiereflexion. Von einem Geographiestudenten z. B. erwartet man doch wohl, daß er bis zu einem gewissen Grade über die Geographie und das Geographische an seinen Themen zu reflektieren vermag; aber man erwartet doch wohl nicht, daß er sich im Examen (oder gar schon vorher) zur Geographie bekennt, seiner "vollen Identifikation" mit der Geographie glaubwürdig Ausdruck verleiht und zudem noch glaubt, daß seine Mitgliedsbeiträge zu einem geographischen Verein bei der Gesamtnote ins Gewicht fallen werden. Dergleichen würde doch wohl von jedem Hochschullehrer der Geographie günstigstenfalls als Tumbheit, jedenfalls aber als "intellektuell unterm Strich" gewertet. Ganz anders bei Nachwuchswissenschaftlern im geographischen Berufungsexamen: Was beim Studenten "intellektuell unterm Strich" wäre, wird nun "bei sonst gleicher Qualifikation" zum entscheidenen Berufungskriterium - und jedes Räsonnieren, gar Theoretisieren außerhalb der Verbandsphilosophie wird zu einem unkalkulierbaren Risiko. Die Berufung von "voll Identifizierten" und Bekennenden (bzw. zu Identifikation, Bekenntnis und Vereinsinteressenkonformität gepressten) "Nachwuchswissenschaftlern" soll diese dann (wie ausdrücklich gesagt wird) dazu verpflichten, auch ihrerseits keine "Fremdkörper" mehr, sondern nur noch voll Identifizierte und Bekennende (bzw. dazu Erpreßte) zu berufen. Gelingendenfalls wird der Verein dann vor allem durch den (neo)feudalen Tausch "Amt und Privilegien gegen Treue" sowie durch gegenseitige Erpressung zusammengehalten. 6
Ist es nicht überhaupt eine etwas merkwürdige Disziplin, wo man die fachliche Identität, Ausrichtung und Tauglichkeit nach Meinung ihres Präsidenten nicht (wie in normalen Wissenschaften) hinreichend daran erkennen kann und soll, was und wie einer geforscht und publiziert hat und was seine wissenschaftlichen Themen, Theorien und Forschungsräume sind, sondern eher daran, in welchem Verein er klüngelt; wo künftig eine entscheidende, oft sogar die entscheidende Qualifikation für eine Professur ausdrücklich in (wissenschaftlich leeren) Bekenntnissen, Identitätsinszenierungen und "(Vereins)Solidaritäten" (sensu Meusburger) bestehen soll - und wo die Vereins-Repräsentanten gar nicht mehr auf die Idee kommen, daß Qualifikationen dieser Art eher für religiöse Gemeinschaften (und, in etwas anderer Art, für mafiose Vereinigungen) charakteristisch und funktional sind? In dem alten Text über die "Disziplin der Weißwäscher" hatte ich meine Vermutungen über die disziplinäre Situation in ein (entlehntes) Bild gebracht:
"Diese Geographen gleichen einer Gruppe von Zechbrüdern, die sich an einen Laternenpfahl lehnen und in ihrer Euphorie glauben, sie hielten das ewige Licht der Geographie aufrecht. In Wirklichkeit halten sie aber nur sich selber aufrecht, und auch das nur, weil die Laterne sie aufrechterhält. Die Institution selbst als solche ist ihr Halt, und so geistesabwesend sind sie auch wieder nicht, um es nicht wenigstens dunkel zu ahnen."
Nun möchte der Präsident aber (um im Bilde zu bleiben), daß diese Brüder zusätzlich und bei jeder wichtigen Gelegenheit auch noch die Hand aufs Herz legen und zu singen anfangen: "Die Geographie..." (oder "Der VGDH..."), und wer nicht mitsingt, fliegt raus. Der VGDH sollte bei solchen Projekten aber "Hirschman's Law" bedenken: Wo die Querköpfe rausfliegen, verrottet die Firma (vgl. Hirschmann, A.O.: Exit, Voice, and Loyalty, Cambridge, Mass., 1970).
4 Identitätsprobleme, oder: Die diskrete Scham, ein Geograph zu sein
Wozu bekennt sich einer, der sich nach dem Willen und im Sinne des Präsidenten "zur Geographie bekennt"; womit identifiziert sich einer, wenn er sich auf die gewünschte Art "mit der Geographie voll identifiziert"? Die Antwort unserer Vereinsgeographen lautete, wie wir gesehen haben, richtig verstanden so: Er bekennt sich zu allem und nichts, und er identifiziert sich mit allem und nichts. Das war ja schon immer der entlastende Charme dieser differenzlosen All-, Ganzheits- und Leerformeln, in denen unsere Vereinsoberen noch immer so gerne schwelgen: Was immer man tun mag, es ist, richtig ausgelegt, jedenfalls immer Geographie.7Der professorable "Nachwuchswissenschaftler" könnte mit den Blotevogelschen und Meusburgerschen Bekenntnissen trotzdem ein Problem haben: Bekennt er sich auf diese Weise, dann bekennt er sich zwar inhaltlich zu nichts, aber er bekennt sich per definitionem zugleich auch zur Nicht-Wissenschaft und als Nicht-Wissenschaftler - und wenn er nicht ziemlich einfältig oder sehr verdrängungsstark ist, dann merkt er es auch. Was das bloße "Bekennen" angeht, so müsste er sich bloß ein bisschen korrumpieren; ein Ding der Unmöglichkeit aber dürfte es für ihn sein, sich damit "voll zu identifizieren". Kein Wunder deshalb, dass der "Nachwuchsgeograph" zumindest heimlich von dieser Geographie (und von denen, die mit ihr "voll identifiziert" sind) nicht viel hält und gerne etwas anderes wäre (oder heimlich sogar schon etwas anderes ist): z. B. "GIS-Experte oder Ökologe etc."
Das Rekonfessionalisierungskonzept des Präsidenten soll auch diesen Mißstand abstellen: Daß jüngere Geographen, bevor der Bekenntniszwang greift, sich so oft nicht als Geographen bekennen, sondern als irgend etwas anderes. Warum aber outet ein junger Geograph sich z. B. als "Ökologe etc."? Wohl kaum z. B., weil er glaubt, damit Ökologen - oder gar "wirklichen" Naturwissenschaftlern - imponieren zu können; er tut es z. B., um seinen (Mit)Geographen zu imponieren, und er imponiert ihnen auch, macht sie indessen, wie es scheint, auch rachsüchtig. Hätte der Präsident sonst Anlaß, diesen in seinen Augen schon endemisch werdenden falschen Herzensneigungen und (Teil)Identitäten junger Geographen - in mafiosen Zusammenhängen auch "Verrat", in religiösen "Konversion" genannt - existenzbedrohende Maßnahmen anzukündigen?
Die strukturelle Basis des Phänomens liegt auf der Hand. Um nur eines zu nennen: Jeder ambitionierte junge Geograph, der auf irgendeinem Gebiet wissenschaftlich arbeiten will und sich einen Rest von intellektuellem Anspruch und Schamgefühl bewahrt hat, der landet mit sozusagen disziplinhistorischer Notwendigkeit irgendwo außerhalb der Geographie - am besten und in der Regel bei ein bis mehreren etablierten nichtgeographischen Wissenschaften, und wenn er dann z. B. ernsthaft ökologisch arbeitet, ist er von einem "richtigen" Ökologen bald nicht mehr (oder höchstens noch an ein paar Idiosynkrasien) zu unterscheiden.8 So drängt sich in einer diffusen folk science (oder Alltagskosmographie) wie der Geographie jedem nicht allzu tumben jungen Wissenschaftler die Strategie auf, nicht institutionell, aber inhaltlich das Fach zu wechseln: Sobald er etwas Geographisches anspruchsvoll betreibt, landet er ja inhaltlich ohnehin in einer Nicht-Geographie. Meine Uralt-Prognose war, daß solche Fälle sich mehren würden, jedenfalls solange unter jungen Geographen sich überhaupt noch intellektuelle Potenz regt. Dies ist offensichtlich eingetreten. Darunter hat die von mir damals - im Interesse der Geographie wie ihrer Individuen empfohlende - Unauffälligkeit des Vorgangs gelitten, und eben dies hat den Präsidenten alarmiert.9
Kurz, den vom Präsidenten beobachteten Opportunismus seiner "Nachwuchswissenschaftler" habe ich seinerzeit als einen der vielen Symptome eines folk science- und diffuse Disziplin-Syndroms beschrieben, zu dem (neben der geographietypischen latenten Selbstverachtung, einem konsolidierten Opportunismus und zumindest einem Hauch von Korruption) eben auch die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit gehört, sich mit einer solchen Disziplin zu identifizieren, gar "voll zu identifizieren" (wie es der Präsident nun von jedermann verlangt).
Daß Geographen ihre geographische Identität gerade auch außerhalb der Geographie gerne "verschämt verschweigen" (vgl. Rundbrief 182, S. 1), das ist anekdotisch gut belegt und geradezu ein Teil der geographischen Folklore geworden; der Grund liegt aber, wie meine alte, empirisch gut untermauerte Hypothese lautet, nicht oder doch nicht so sehr darin, dass "die Wahrnehmung [der Geographie] von außen [...] nicht selten diffus, antiquiert und dementsprechend negativ ist"10 . Der Grund liegt eher darin, dass die Geographie auch und vor allem von innen so wahrgenommen wird - z. B. von den zitierten geographischen Nachwuchswissenschaftlern, aber auch schon von unseren Anfängerstudenten.
Auch gibt es schwierige Grenzfälle dieser Geographieverleugnung bzw. "diskreten Scham, ein Geograph zu sein". Bruno Latour beschreibt z. B. ein Forscherteam an der Savannen-Urwald-Grenze in Brasilien:
"Edileusa Setta-Silva [...] lehrt Botanik [...]. Armand Chauvel ist [...] Pedologe. [...] Héloîse Filizola, die dritte im Bunde [...] ist Geographin oder vielmehr, wie sie betont [!], Geomorphologin".11
Eine Geographin, die "betont" nicht als "Geographin", sondern als "Geomorphologin" etikettiert sein will: Ist die Dame in ihrem "Herzen" (Meusburger) schon nicht mehr "voll identifiziert" (und infolgedessen schon unberufbar), oder könnte man hier - im Vergleich mit den Geographen, die sich unsolidarischerweise Ökologen, GIS-Experten "etc." nennen - noch ein Auge zudrücken?
Das Projekt des Präsidenten wird schließlich noch dadurch erschwert, dass es in solchen diffusen und heterogenen folk sciences und Alltagskosmographien keine auch nur halbwegs legitimen Sanktionen für Abweichler, Nicht-Identifizierte und Nicht-Bekennende mehr geben kann: Folglich kann Konformität hier nur noch auf illegitime Weise erzwungen werden, z. B. (wie es unserem Präsidenten konsequenterweise vorschwebt) mittels Bekenntnis-, Identifikations- und Vereinszwang unter Androhung des Verlusts der beruflichen Existenz. Ohne Zweifel sind unsere Präsidenten an und für sich tolerante Menschen, aber wenn diese Art von Toleranz etwas sichtet, was sie für intolerabel hält, dann wird sie erfahrungsgemäß besonders grausam.
5 Habitusprobleme
Mit seiner schon angesprochenen Jovialität gibt der Präsident dem gutwilligen Nachwuchs aber noch eine echte Chance:"Ich möchte den Nachwuchswissenschaftlern keinen Vorwurf machen, wenn sie diese Aspekte [ihrer Karriere in der Universitätsgeographie] noch nicht berücksichtigt haben. Aber ihre Betreuer, Doktorväter und Mentoren können ihre Verantwortung, über verschiedene Mechanismen und Regeln einer akademischen Karriere aufzuklären, nicht von sich schieben. Deshalb bitte ich alle Professoren, ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu motivieren, dem VGDH beizutreten." (P. Meusburger, a.a.O., S. 2)
Er empfiehlt also einen intimen Nachhilfeunterricht für solche "Nachwuchswissenschaftler", die es immer noch nicht begriffen haben, welches Maß an Opportunismus man von ihnen erwartet. Ich glaube aber, hier überschätzt der Präsident deren Einfalt. Diese "Mechanismen und Regeln" einer geographischen Universitätskarriere, die der Präsident dem Nachwuchs endlich beigebracht sehen will, sind vermutlich oft so ziemlich das erste, was ein junger Mann oder eine junge Frau bemerken (sei es mit karrieregerechtem meusburgerschem Wohlbehagen, sei es mit potentiell karriereschädlichem Widerwillen), wenn sie den sozialen Raum der deutschen Geographie betreten (ja oft schon dann, wenn sie ein deutsches geographisches Institut zum ersten Mal von innen erleben). Meusburgers Maximen und Reflexionen - man riecht sie dort förmlich, und diese penetrante Essenz der geographischen Vereinsmoral habe ich, obwohl ich in mehreren Fächern herumgekommen bin, außerhalb der Geographie in solcher Penetranz nie mehr wahrnehmen können. Daß junge Leute mit Verstand und Geschmack (um von der Moral gar nicht zu reden) sich mit einem solchen Verein weder "voll identifizieren" mögen noch ohne weiteres mit ihm "voll identifiziert" werden wollen, das kann man doch wohl nicht nur verstehen; man möchte es sogar erwarten dürfen.
Der Leser möge sich auch durch eigene Lektüre des "Rundbriefs" überzeugen, daß der von unserem Präsidenten projektierte Neue Geographische Sozialisationstyp (NGS) in wesentlichen Stücken wohl nur die verbandsmäßig durchgestylte und von Ausreißern bereinigte Ausgabe eines empirisch wohlbekannten geographischen Habitus wäre, den ich seinerzeit als typisches Produkt einer Disziplin vom Typ "Geographie" beschrieben habe.
Die Folge der vom Präsidenten angedrohten Auslesepraxis - ein strukturell erzwungener Opportunismus mit entsprechendem Habitus - gilt in der Politikwissenschaft z. B. als ein Typikum totalitärer Regime und ist hierzulande auch aus der empirischen Sozialforschung gut bekannt, z. B. aus Untersuchungen zur Einstellungspraxis von Wohlfahrtsverbänden (die ja mehr oder weniger zu Sozial- und Gesinnungskonzernen geworden sind): Die erfolgreichen Bewerber sind diejenigen, die sich darauf eingerichtet haben, daß sie im wesentlichen daraufhin abgeklopft werden, ob und inwieweit sie verläßlich als RepräsentantInnen des Verbandes und seiner corporate identity funktionieren werden. "Erfolgreiche BewerberInnen orientieren [folglich] ihre Selbstdarstellung an der jeweiligen Verbandsphilosophie und nicht z. B. an einem theoretischen Entwurf", an ihrem Wissen und ihrer eigenen Erfahrung; diese Orientierung am Geist des Verbandes wiederum werde am besten "durch eine kontinuierliche Sozialisation [d. h. Anpassung] im Verband erworben, und wenn dies der Fall ist, verläuft die Statuspassage typischerweise ohne Aufenthalt durch Arbeitslosigkeit und Stellensuche".12
Unser Präsident wünscht offenbar - vielleicht mit Blick auf seine eigene geographische Sozialisation - auch unter Nachwuchswissenschaftlern eine solche "Auswahl [von Bewerbern] unter dem Primat der Funktionsfähigkeit des Verbandes oder des Konzerns" zu organisieren. Der dabei geförderte Habitus liegt auf der Hand, aber "man muß auch", wie ich 1979 formuliert habe, "die Institution im Auge behalten, um gegenüber dem Individuum gerecht zu bleiben".
Andererseits braucht man die Folgen auch nicht zu dramatisieren; auch ein "Nachwuchswissenschaftler", der, um eine Geographieprofessur zu ergattern, dem Bekenntnis-, Habitus- und Vereinszwang hinreichenden Tribut gezollt hat, kann unter günstigen Umständen durchaus eine gewisse Unabhängigkeit und sogar Integrität bewahren - vorausgesetzt, er ist sich seiner Lage nicht (oder nur schattenhaft) bewusst, oder er hat ein gewisses Talent zur doppelten Moral, und/oder er ist intelligent genug, im Sinne von Ambrose Bierce ein guter Zyniker zu sein.
Spätestens an dieser Stelle wird man mich dafür kritisieren, dass ich den Präsidenten zu wörtlich genommen habe: Was dieser wirklich einfordere, sei nicht etwa eine Identifikation mit der Geographie, sondern mit seinem Verein; er fordere deshalb auch keine Aussagen ein, sondern einen Habitus, der dafür bürge, dass der betreffende Kandidat sich in diesem Verein niemals (wie er sagt) als ein "Fremdkörper" erweisen werde. Kurzum, es komme dem Präsidenten (und, nach seinem Vorbild, auch den geographischen Berufungskommissionen) auf gar nichts Diskursives an, sondern auf habituelle Ähnlichkeit mit dem Präsidenten und den Seinen. Das scheint in der Tat inzwischen auch mir der eigentliche Kern des präsidentiellen Anliegens zu sein.13
6 Alternative Lesarten
Heute und zumal postmodern wird allenthalben angemahnt, beim Lesen aller Texte (sogar der schlechtesten und eindeutigsten) deren Lesarten und Interpretationen immer nach Kräften zu vermehren. Vielleicht ist es deshalb auch beim Blick auf die Drohbotschaft unseres Präsidenten nützlich, noch zwei Lesarten nachzutragen, erstens eine (wissenschafts) psychologische, zweitens eine (evolutions)geschichtliche.Die präsidentielle Identifikation von Wissenschaft und Konfession ist in psychischer Hinsicht vielleicht am besten zu verstehen als die vergleichsweise seltene Extremform eines Symptoms, das Georg Christoph Lichtenberg (unter anderem) so beschrieben und gedeutet hat:
"Die hitzigsten Verteidiger einer Wissenschaft, die nicht [den] geringsten scheelen Seitenblick auf dieselbe vertragen können, sind gemeiniglich solche Personen, die es nicht sehr weit in derselben gebracht haben, und sich dieses Mangels heimlich bewusst sind." (G. Chr. Lichtenberg: Schriften und Briefe, 1. Bd., Frankfurt a.M. 1994, S. 467; Sudelbücher 1776-79).
Demgegenüber ist Peter Meusburger ein noch viel "hitzigerer Verteidiger" seiner Wissenschaft und seines Vereins: Er verlangt nicht nur, dass der "Nachwuchswissenschaftler" solche scheelen Seitenblicke unterlasse; er verlangt darüber hinaus von jedem Kandidaten die Sicherheit, dass er niemals solche Seitenblicke werfen wird (was könnte mit "voll identifiziert" sonst gemeint sein?). Das Selbstsubversive solcher Nachwuchsförderung liegt leider auf der Hand: Die real existierende Geographie ist nun einmal so konstituiert, dass man, um es mit und in ihr wenn schon nicht weit, so doch ein wenig weiter zu bringen, diese Geographie immer auch "mit scheelem Seitenblick" auf andere Möglichkeiten hin (seriöser terminologisiert: als Dekonstruktivist oder als Beobachter 2. Ordnung) betrachten muß, z. B. die (Geo)Ökologie der Geographen von der "richtigen" Ökologie, die Sozialgeographie von den Sozial- und die Wirtschaftsgeographie von den Wirtschaftswissenschaften her (usw. usf.).14
Interessanter noch als eine (disziplin)psychologische scheint mir jedoch eine evolutionäre Perspektive auf unseren Präsidenten und seinen Geographenverein zu sein:
"Das menschliche Gehirn (auch heutiger seignoraler, berufender Wissenschaftler) hat sich in seiner Grundstruktur seit 10 000 Jahren nicht verändert. Es ist basal durch die sapientale Stammesgeschichte geprägt: Im Überlebenskampf der Jäger- und Sammlerhorden zählten primär nicht abweichende Ideen, sondern Präsenz und Bereitschaft der bedingungslosen Unterstützung der eigenen Kleingruppe. Dieses Wahlmuster ist anthropologisch tief in uns verankert und mag für die empirischen Tatsachen von Vetternwirtschaft und Hausberufungen anstelle der Prämierung von Selbständigkeit mitverantwortlich sein." (Peukert, H. in: Forschung und Lehre 12, 2003, S. 659)
Mehr noch als die Beispiele des eben zitierten Autors erinnern die geographiepolitischen Visionen unseres Präsidenten an die Gepflogenheiten einer Menschenhorde im urzeitlichen Überlebenskampf: Wenn es nach dem Präsidenten ginge, würde bald jede Berufung zu einer Art Hausberufung seines Vereins - mittels eines Initiationsschwurs auf bedingungslose Unterstützung der eigenen Kleingruppe und einer Art archaischer Verschmelzung (volle Identifikation!) des Neophyten mit der Kollektivseele dieses Vereins. Kurzum, der Präsident regrediert ins Paläolithikum; offenbar sieht er seiner Geographie das Wasser so bis zum Halse stehen, dass es sich (wie er sagt) "in der heutigen Zeit kein geographisches Institut mehr leisten kann", zivilisatorisch höher entwickelte Verfahren der Nachwuchsrekrutierung und Selbstergänzung anzuwenden.
Insofern steckt in der Tiefe seines Textes auch ein respektables Anliegen: das Anliegen, die Geographie zu retten. Wenn die deutsche Universitätsgeographie denn unbedingt gerettet werden muß: Erstens ist die Rettungsidee des Präsidenten (wie angedeutet) tendenziell ein selbstsubversiver Versuch des Unmöglichen, und zweitens: Rettung oder Untergang der Geographie (was immer das sein mag) werden sich (wie so vieles) nach aller Wahrscheinlichkeit hinter dem Rücken der Phantasmen und Mätzchen unserer Vereinsoberen ereignen. Realistischer als die Meusburgersche Rettungsidee scheint mir demgegenüber eine presidential address auf dem "Kongress der Weißwäscher" gewesen zu sein:
"Meine Freunde, ich bin aufgewachsen in der besten Tuischule des Landes, ich beherrsche die tuistische Literatur, ich diskutiere seit zwanzig Jahren mit den bedeutendsten Tuis alle Ideen, die China retten könnten. Meine Freunde, es gibt keine." (B. Brecht, Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher)
7 Alternative Methoden, die Geographie zu retten
Das mag manchem zu defaitistisch klingen. Dann sollte er z. B. über folgendes nachdenken: Wie müssten die Rahmenbedingungen aussehen, unter denen geographische Berufungskommissionen und Vereinspräsidenten gezwungen wären, ein vitales Interesse daran zu entwickeln, jeweils den besten auszusuchen (statt vor allem ihren geographischen Habitus fortzupflanzen)? Diese Frage führt hier aber auf ein zu weites hochschulpolitisches Feld, und die mir bekannt gewordenen Vorschläge klingen hierzulande utopisch. Deshalb liegt es nahe, auf eine zweitbeste Lösung auszuweichen.Während der Präsident im großen und ganzen nur zum System erhebt, was in der Geographie so ähnlich ohnehin schon läuft, hat z. B. folgende alternative Rettungsidee (die ich wieder aus "Forschung und Lehre" entleihe) zumindest den Charme des Neuen: Statt einer Meusburgerschen Rettung der Geographie durch systematische Produktion von intellektuellen Monokulturen (Monokulturen aus voll identifizierten bekennenden Geographen) eine Rettung der Geographie durch systematisches Einschleusen einer Anzahl von Nicht-Identifizierten und Heterodoxen.
In den üblichen geographischen Berufungsverfahren sind die wesentlichen Merkmale eines aussichtsreichen Kandidaten bekanntlich: auf der "persönlichen" Ebene eine wohldosierte Nettigkeit und Fähigkeit zu strategischem Opportunismus (wie könnte er sonst z. B. glaubwürdig bekennen?), auf der "intellektuellen" Ebene eine gewisse, freilich auch nicht zu penetrant aufgetragene Harmlosigkeit, zumindest Unkompliziertheit und gute Vorhersagbarkeit seiner Gedanken (als prognostisches Zeichen seiner künftigen Linien-, Paradigmen- und Vereinstreue).
Bekanntlich ist der Zugang zu privilegierten Positionen gegenüber den offiziellen (Leistungs)Kriterien umso stärker verzerrt, je geschlossener der Kreis der Entscheidenden und je informeller die wirklich entscheidenden Kriterien sind. Im Konzept des Präsidenten ist für beides strikt gesorgt: die Auswahlgremien bestehen für ihn ausdrücklich aus "voll identifizierten Kollegen" und sein Hauptkriterium ist, wie wir interpretativ erschlossen haben, schlechthin informell: metaphorisch gesprochen, ein habitueller Geruch.15 Das garantiert der Hochschulgeographie zumindest in relativ ruhigen Zeiten mit übersichtlichen Verhältnissen die Geschlossenheit einer Ehrenwerten Gesellschaft.
Zumindest produziert es tendenziell intellektuelle Milieus, die unrettbar sklerotisiert sind. Wie aber schleust man hier systematisch ein rettendes Element von Überraschung und Irritation, Innovation und wirklicher Konkurrenz ein, überhaupt all das, was man im Wissenschaftsprozeß zumindest in abstracto so viel höher schätzt als die genannten Meusburgerschen Leitsterne geographischer Berufungskommissionen: also z. B. diskursive Unabhängig-, ja Widerspenstigkeit, die Freude am Dissens sowie den Spaß an der Falsifikation und Vermehrung bestehender Meinungen? Indem man (wie Peukert a.a.O. nach dem Vorbild der attischen Demokratie anregt) zumindest bei einer bestimmten Anzahl, sagen wir, bei einem Drittel der Berufungsfälle, nicht nach Meusburgerschen und verwandten Kriterien eine oder einen auswählt, sondern (z. B. unter den habilitierten Bewerbern) eine oder einen auslost.16 Dadurch käme vermutlich eine evolutionär fruchtbare, mutationsanaloge Zufallskomponente in die Evolution der Geographie hinein, die das nach Meusburgerschen Kriterien homogenisierte geographische Milieu durch ungewohnte (und sonst schon im Vorfeld der Verfahren eliminierte) Elemente, Sicht- und Denkweisen aufmischen würde, und der Effekt wäre vermutlich ein ungeahnter, vielleicht sogar rettender Aufschwung der geographischen Wissenschaft.17
Dieses Losverfahren könnte zumindest informell eingeführt werden. Wie auch immer das Los fiele: Im Rahmen der geographieüblichen Begründungsstandards ließen sich auch solche ausgelosten Berufungsvorschläge mühelos als die bestmögliche Wahl begründen, in der Regel überzeugender und mit reinerem Gewissen als die meisten geographischen Berufungen.
Zweifellos gibt es funktionale Äquivalente für das Losverfahren, z. B. unerwartete disziplinhistorische Turbulenzen mit entsprechenden berufungspolitischen Kontrollverlusten des Geographenvereins. Diesen Fall scheint Dietrich Bartels im Auge gehabt haben, als er meine verwunderte Frage, wieso gelegentlich sogar Typen wie er auf einem geographischen Lehrstuhl gelandet seien, so beantwortete: "Ein paar Mal haben die nicht aufgepasst". Damit muß aber jetzt endgültig Schluß sein, sagt der Präsident.
8 Ein (ein!) Leserbrief
Als Merkmal der Disziplinen vom Typ "Geographie" habe ich seinerzeit (1979 und 1982) auch das Absenken der intellektuellen und moralischen Schamschwellen genannt; meine soziale Phantasie reichte aber damals noch nicht bis zu dem geistigen Ort, von dem her der Präsident im Rundbrief 181 über die künftige Kontrolle der geographischen "Nachwuchswissenschaftler" räsonniert. Ich hielt dergleichen durchaus für eine Latenz und Tendenz in solchen Disziplinen, glaubte aber (irrtümlich, wie sich jetzt zeigt), daß es in der Disziplinöffentlichkeit nicht kommunikabel sei oder höchstens hie und da informell und face to face mitkommuniziert werden könnte. Insofern fühle ich mich durch das Editorial des Präsidenten nicht nur im großen und ganzen bestätigt, sondern auch in einem wesentlichen Punkt widerlegt (um nicht zu sagen: überboten). Danke, Herr Präsident!In meinem geographischen und außergeographischen Bekanntenkreis fand sich niemand, der die Ansprache unseres Präsidenten im Rundbrief 181 nicht "unsäglich" oder "unterm Strich" gefunden hätte. Das war natürlich eine schmale und selektive Stichprobe. Kritische Leserbriefe konnte man nicht erwarten, am wenigsten von "Nachwuchswissenschaftlern". Überraschend fand sich im Rundbrief 183 dann doch eine Stellungnahme:
"Dieses Editorial [des Präsidenten Meusburger] ist eine bodenlose Unverfrorenheit. Jetzt werden uns die Augen geöffnet für das, was wir immer schon geahnt hatten: Wer nicht im Klüngel mitklüngelt (Zentralkomitee der Deutschen Geographen), ist ein Verräter an der Sache und wird einfach nicht berufen. Die Reihen werden damit fest geschlossen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß auf Lehrstühlen für Geographie in Deutschland zunehmend die Regionalliga spielt [...]. Übrigens darf die deutsche Geographie nicht die Beute eines Verbandes werden." (Apl. Prof. Dr. H. Strunk, Regensburg)
In meinem Text habe ich versucht, den Klartext der Regensburger Kollegen (und vor allem die "bodenlose Unverfrorenheit" unseres Präsidenten) ein wenig zu entfalten, d. h. als eine geographiehistorische Normalität zu verstehen. Dabei habe ich mich (wie schon 1979) wieder strikt gehütet, einen ökologischen Fehlschluß zu riskieren und z. B. vom VGDH und seinen Präsidenten (und überhaupt von der Institution) auf die Eigenschaften irgendeiner Person zu schließen. Vor solchen Schlüssen warnt schon eine schöne alte Sentenz: Senatores romani boni viri, senatus romanus mala bestia. Oder, um noch einmal Georg Christoph Lichtenberg zu zitieren: Wenn Betbrüder Betschwestern heiraten, dann werden daraus nicht allemal betende Ehepaare.
9 Schlussbemerkung
Soweit mein interpretierender Kommentar zu einer presidential address (eine bisher von Geographiehistorikern noch kaum ausgeschöpfte Quellengattung). Selbstverständlich wird der Interpretierte sich falsch interpretiert fühlen. Eine Interpretation wird aber keinesfalls durch ein Veto des Autors widerlegt, sondern nur durch eine bessere, interessantere, reichere und (für kompetente und unparteiische Interpreten) intersubjektiv überzeugende Interpretation. Belanglos wäre es schließlich auch, meinen Kommentar "polemisch" zu nennen (gleichgültig, ob er es nun ist oder nicht); damit würde weder etwas über seinen Inhalt, noch etwas über seinen Wahrheitswert gesagt. "Polemik" ist der Name für eine stilistische oder rhetorische Option, die seit der Antike empfohlen und gebraucht wird, um das Interesse bestimmter Adressaten zu wecken oder deren Desinteresse unglaubwürdig werden zu lassen. Kurz, man betrachte eine polemische Wendung als einen stilistischen Kunstgriff im Rahmen einer literarischen Aufmerksamkeitsökonomie.Anmerkungen:
1 In: Sedlacek, P. (Hg.): Zur Situtation der deutschen Geographie 10 Jahre nach Kiel, Osnabrück 1979, S. 11-44, korrigiert und ergänzt in Hard, G.: Dimensionen geographischen Denkens, Göttingen 2003, S. 133-172, vgl. auch "Studium in einer diffusen Disziplin", ebd. S. 173-230, zuerst 1982.
2 Läßt sich ein Sachverhalt ohne Übertreibung überhaupt klar denken - fragt z. B. A. G. Düttmann (Philosophie der Übertreibung, Frankfurt a.M. 2004).
3 Fast deckungsgleich bekennt und identifiziert sich auch der Blotevogelsche Artikel "Geographie" (2002, S. 14) im neuesten Lexikon der Geographie. In beiden Fällen befasst sich die Humangeographie "mit der Struktur und Dynamik von Kulturen, Gesellschaften und Ökonomien", die Physische Geographie "mit der Struktur und Dynamik der physischen Umwelt" dieser Kulturen, Gesellschaften und Ökonomien; beide Geographien zusammen befassen sich also mit allem, aber auch das ist noch nicht alles, denn dazu kommt auch noch, sogar als "fachlicher Kern der Geographie", "die übergreifende ökologische Betrachtungsweise des Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisses". Unbegreiflich, wozu man - außer dieser Geographie - noch irgend etwas anderes (oder gar noch irgendwelche anderen Wissenschaften) benötigen könnte. Diese ebenso typische wie altehrwürdige Geographierhetorik habe ich 1979 unter der Rubrik "argumentatives overkilling" behandelt; früher war es allerdings eher ein Topos in Texten von bildungspolitisch in die Enge getriebenen Schulgeographen und Geographiedidaktikern.
4 Eine akzeptable forschungslogische Interpretation dieses monströsen "Schlüsselsatzes der Geographie" wäre z. B. die Aussage, dass die Geographie (nicht nur keine disziplineigenen Relevanz- und Gegenstandskonstitutionen, sondern auch) keine disziplinären (Orientierungs-)Theorien besitzt, deren heuristische Funktion es sein könnte, zumindest im großen und groben zu umreißen, was (im Rahmen dieses Wissenstyps) denn überhaupt womit verknüpft werden sollte oder könnte. Die übrigen "Schlüsselsätze" sind vom gleichen Kaliber.
5 z. B., als mir um 1970 am geographischen Institut in Marburg nach einem Vortrag (ohne jeden inhaltlichen Zusammenhang) die Gretchenfrage gestellt wurde, ob ich mich denn "überhaupt noch als Geograph betrachte". Ich antwortete: "Ja, wenn Ihnen das weiterhilft", und aus meiner prompten Reaktion schließe ich, daß mir die Frage nicht ganz neu war. Weil ich unter den Studenten Unruhe und unter den Kollegen eine gewisse Heiterkeit zu bemerken glaubte, fühlte ich mich sogar animiert, etwa so anzuschließen: "Außerdem ist es nach den üblichen Geographiedefinitionen fast unmöglich, kein Geograph zu sein; eben deshalb bin ja auch ich Geograph geworden."
6 Man kann das auch "die Wiederkehr der geographischen Bischöfe" nennen, und das heißt hier: Die Wiederkehr der geographieöffentlichen Geographiebekenner und Reflexionsverweigerer, die dann ihrerseits dafür sorgen wollen, dass nur der gesalbt wird, der auch seinerseits wieder zuverlässig ein Bischof zu werden verspricht.
7 Eben deshalb greifen auf diese Formeln (teils augenzwinkernd, teils treuherzig) ja auch solche Geographen gerne zurück, die nach dem, was sie tatsächlich treiben, längst schon das Fach gewechselt haben.
8 Um sich die damit verbundenen intellektuellen Unkosten zu ersparen, landen viele Geographen neuerdings statt bei außergeographischen Wissenschaften lieber bei einer (und zwar fast immer derselben) Corona poststrukturalistisch-postmoderner und verwandter Starautoren und Modeartikel, mit denen sie dann umgehen wie mit frühen Geographiepropheten (schöne Beispiele z. B. in P. Meusburger und Th. Schwan, Humanökologie, Wiesbaden 2003); das ist aber eine andere Geschichte.
9 Die unheimlichen Fachwechsler, denen es jetzt an den Kragen gehen soll, können sich übrigens nicht auf meinen scheinbar subversiven, tatsächlich aber sehr geographiefreundlich ausgedachten Uralt-Ratschlag berufen, "das Fach heimlich, d. h. intellektuell, nicht institutionell, zu wechseln." Dieser Vorschlag zur Außenorientierung sollte natürlich - durch die damit verbundenen Kontakte, Importe und Exporte - das Potential der Geographie erhöhen und war jedenfalls nicht als Aufforderung zu einem innergeographischen Imponiergehabe gedacht, das man dann später karrieregerechtopportunistisch wieder zurücknehmen und wieder aufnehmen kann. Außerdem habe ich damals auch noch anspruchsvollere alternative Strategien vorgeschlagen
10 Vgl. Leser, H. und Ehlers, E. in: Dies. (Hg.): Geographie heute - für die Welt von morgen, Stuttgart 2002, S. 166, Hervorhebung G. H.
11 Latour, B.: Der Pedologenfaden von Boa Vista, in: Rheinberger, H.-J. u.a. (Hg.): Räume des Wissens, Berlin 1997, S. 213-263, Zitat S. 214; Hervorhebung G. H.
12 Vgl. dazu zusammenfassend und mit Literaturhinweisen z. B. M. Meuser und U. Nagel, ExpertInneninterviews, in: Garz, D. und Kraimer, K (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung, Opladen 1991, 463 f. sowie Rabe-Kleberg, U. u. a. in Dressel, W., Hg., Lebenslauf, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Nürnberg 1990, 101 ff.
13 Dieser geographische Habitus kann in der Tat ebenso verlässlich wie valide identifiziert werden, nicht nur vom Präsidenten und von geographischen Berufungskommissionen, sondern z. B. auch von mir; in volkstümlicher Metaphorik: auch ich rieche diesen "Stallgeruch", spüre die zugehörige "richtige Chemie" und habe bei der Begegnung mit diesem Habitus ein untrügliches "Gefühl im Bauch".
14 Wenn wir schließlich die Meusburgersche Einforderung einer öffentlich deklarierten distanzlosen, also dummen Geographieidentität zusammensehen mit der empirisch nachweisbaren diskreten Schamkultur und Selbstverachtung der Geographen, dann können wir das Lichtenberg-Theorem leicht mit dem Theorem der kognitiven Dissonanz (bzw. kognitiven Distanzbewältigung) verbinden; der Inhalt der präsidentiellen Botschaft bekommt dann sogar eine gewisse psychische (hier: geographiepsychologische) Zwangsläufigkeit - als eine "Wiederkehr des Verdrängten als sein Gegenteil".
15 Jedenfalls soll, wie der Präsident ausdrücklich mitteilt, "wissenschaftliche Exzellenz in Forschung und Lehre" keinesfalls ausreichen, um in der Geographie eine Berufungschance zu bekommen, und auch schon über diese "Exzellenz" sollen die gleichen "voll identifizierten" Geographiebekenner befinden, die dann auch über die "volle Identifikation" und das "Herz" des Kandidaten urteilen. Man sage also nicht, dass das habitusbezogene Kriterium der "vollen Identifikation (mit dem Geographenverein)" doch nur bei "sonst gleicher Qualifikation" oder (wie der Präsident sagt) "Exzellenz" greifen solle; jedermann weiß, dass die Frage "gleicher Qualifikation" oder "Exzellenz" "in der Praxis kaum justiziabel ist" und in der Regel zum Spielball anderer Kriterien wird (so z. B. die Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft in: Forschung & Lehre 12, 2003, S. 42).
16 Die attische Demokratie pflegte bekanntlich mit durchweg gutem Erfolg fast alle öffentlichen Ämter auf eben diese Weise auf Zeit zu vergeben; Voraussetzung war im wesentlichen nur "das volle Bürgerrecht" der Bewerber. Das könnte man in unserem Fall z. B. mit "Promotion und Habilitation" übersetzen, sogar mit "wissenschaftlicher Exzellenz in Forschung und Lehre" (Peter Meusburger), vorausgesetzt natürlich, die Interpretation dieses Kriteriums wird der Willkür entzogen, was aber, wie ich 1979 und 1982 gezeigt habe, gerade innerhalb der Geographie fast unmöglich ist. - Man vgl. zum Losverfahren z. B. auch die Glosse eines FAZ-Journalisten (10.12.2003, S. 33), die im Namen des gesunden Menschenverstandes allerdings fast alle Pointen des Vorschlags verpatzt.
17 Der zitierte Autor treibt die evolutionäre Metaphorik noch weiter: "Es hätte sicher keine nennenswerte Evolution stattgefunden, wenn bestehende Populationen darüber zu entscheiden gehabt hätten, ob ihre Rivalen [...] zugelassen werden sollen oder nicht. Im Wissenschaftsbetrieb ist dem allerdings so: Etablierte Wissenschaftler [und Ideen-] Populationen entscheiden über ihre potentielle Konkurrenz. Dies fördert die Stabilisierung des Alten zu Lasten des Neuen." (Peukert a.a.O., S. 659).
Autor: Gerhard Hard