Rudolf Ortner: Der wiedergefundene Raum. Perspektiven der naturwissenschaftlichen Methode in der Geographie. Aachen 1999. 317 S.

Rudolf Ortners Buch - der Manuskriptdruck seiner 1992 erschienenen Dissertation - besticht durch einen Titel, der eine Fortsetzung des immer noch aktuellen Diskurses um die wissenschaftstheoretische Verortung der Geographie verspricht. Erklärtes Ziel des Autors ist es, ausgehend von der Methodologie Rudolf Steiners eine argumentativ gesicherte Perspektive zu eröffnen, die mittels einer gesamtheitlichen Wesensschau i. S. Goethes die Schwächen der bestehenden geographischen Positionen aufzulösen vermag: "Nicht eine Ideologie oder eine fixierte Weltanschauung soll hier der Geographie unterlegt werden, sondern in der freien Auseinandersetzung der Geister um die zukünftige Gestalt der Wissenschaft zählt letztendlich nur der Weg der besseren Argumentation" (S. 20).

Bezüglich der argumentativen Erarbeitung wird der Leser früh mit einer deutlichen Ambivalenz konfrontiert: einerseits gelingt es Ortner überzeugend, viele der bestehenden wissenschaftstheoretischen Probleme der Geographie darzulegen und ihr Entstehen im disziplinhistorischen Kontext zu hinterfragen, andererseits stellt der Autor seine Kritikfähigkeit deutlich in Frage, sobald es darum geht, seine eigene Konzeption zu begründen: Bei dem Versuch, Goethes Naturphilosophie vor dem Gericht der wissenschaftlichen Theorieproduktion zu rehabilitieren, verwandelt sich die Beweisführung des Verfassers dabei zunehmend in ein Plädoyer für die Steiner'sche Anthroposophie.
Anhand von vier forschungsleitender Fragestellungen stellt Ortner die problembelasteten herkömmlichen Positionen innerhalb der (Sozial-)Geographie dem von ihm verfochtenen, an der Naturphilosophie Goethes orientierten Ansatz gegenüber:
1) Welche Implikationen ergeben sich aus dem naturwissenschaftlichen Reduktionismus für die Geographie?
2) Welche Probleme ergeben sich aus den (gängigen) erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geographie?
2a) Ist der Begriffsnominalismus haltbar?
2b) Welche ethischen Implikationen ergeben sich?
3) Wie ist der andauernde Paradigmenwechsel in der Disziplingeschichte erklär- und in heutiger Sicht lösbar?
4) Lässt sich die (holistische) Methode Goethes in der Geographie reetablieren, bzw. welche Lösungen für die Krise in der Wissenschaft wären hieraus herleitbar?
Im Mittelpunkt der Argumentation Ortners steht die Kritik am "Begriffsnominalismus", den er als Folge der Überlegenheit der aristotelisch orientierten und islamisch beeinflussten Nominalisten im Universalienstreit sieht. Aus der konträren Position, der von Steiner vertretenen Auffassung, dass Begriffe als "vor der Erkenntnis Gegebenes" (vgl. S. 92 f.) zum Ausgang für die Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus gesetzt werden können, leitet der Autor im Folgenden die Grundlage für die Rechtfertigung einer Wissenschaftlichkeit im ganzheitlichen Denken her.
Augenfälligerweise reflektiert Ortner - trotz eines weitreichenden philosophischen Rückblicks - weder die Revision, die der Nominalismus durch Wilhelm von Ockham erfahren hat, noch den hieraus entstandenen Disput zwischen Theologie und Naturwissenschaft, der auf eine begründete Loslösung letzterer in Richtung auf die von Roger Bacon vertretene Auffassung der äußeren Erfahrung als Ausgang jeder Wissenschaft verweist und in der Ablehnung jeglicher abstrakter Idee bei George Berkeley (1710) mündet. Lediglich die "Krise der Naturwissenschaften" in der Gegenwart wird betont.
Erst losgelöst aus dem Zusammenhang der verschiedenen in der Neuzeit entstandenen Argumentationslinien besticht dann die Behauptung Ortners: "Die Begriffe überwinden die Kluft, die zwischen dem menschlichen Subjekt und dem 'unmittelbar Gegebenen' besteht, weil sie einerseits vom Subjekt hervorgebracht wurden, aber andererseits dem 'unmittelbar Gegebenen' erst Identität und Zusammenhang verleihen" (S. 95). Erkenntnis wird demnach in der Verknüpfung eines "unmittelbar Gegebenen" mit dem menschlich vor der Erfahrung hervorgebrachten Begriff gesehen. Auf diese Weise verleihen Begriffe Identität. Wissenschaft zielt dabei auf das Auffinden der Ideen, die den Begriffen zu Grunde liegen, in der ganzheitlichen Betrachtung der Natur.
In der 3-Welten-Ontologie Poppers findet sich eine ähnliche, letztendlich nicht begründbare idealistische Position, die Begrifflichkeit im Zusammenhang mit Kultur ihre eigene Daseinssphäre zuordnet. Auf diese nimmt die Handlungszentrierte Sozialgeographie Werlens (1987, S. 33 ff.) relativ unreflektiert Bezug.
Ausgehend von der Auffassung der Unhaltbarkeit des Nominalismus fordert der Autor einen neuen Wissenschaftsbegriff. Diesem nähert sich die Wissenschaft in drei "Tiefenschichten", wie auf Seite 95 f. dargelegt:
1) Identitätserkenntnis: Auf dieser Stufe ist Wissenschaft noch nicht von den Alltagsbemühungen des Menschen zu unterscheiden. Die Dinge der Welt werden mit ihren Begriffen benannt.
2) Stufe Beziehungserkenntnis: Diese Stufe kennzeichnet vor allem das wissenschaftliche Bemühen seit Beginn der Neuzeit. Hier hinein gehören z. B. die Fragen der Kausalität und der Erklärung von Versuchsergebnissen.
3) Stufe Wesenserkenntnis: Hier liegt noch ein langer zukünftiger Weg vor uns.Auf dieser Stufe werden die 'Was ist?'-Fragen beantwortet: Was ist Denken?, Was ist Leben?, Was ist Wissenschaft?
Die Auseinandersetzung Ortners mit den Inhalten geographischer Positionen führt von den Klassikern Humboldt und Ritter über Darwin, Ratzel, Hettner, La Blanche, Sauer und anderen bis in die Moderne des Faches zu Bartels, Hard, Sedlacek, Pohl, Werlen und Boesch. Die Kritikpunkte sind häufig bekannt, teilweise originell, grundsätzlich aber für eine fachtheoretische Auseinandersetzung zu erwägen. Obwohl die Darstellung der Probleme in den Paradigmen zumeist dem Versuch der Begründung der Goetheschen Alternative folgt, ist die Kritik sehr umfassend und weitestgehend gut fundiert.
Die Auseinandersetzung mit den geographischen Paradigmen bezweckt aber nicht einzig die kritische Erörterung der genannten Fragen innerhalb der einzelnen Paradigmen, sie soll gleichzeitig klären, ob und in welcher Form es bisher gelungen ist, die vierstufige Hierarchie von Kosmologie, Ontologie, Epistemologie und Methodologie (vgl. S. 26 ff.) innerhalb des Faches zu erarbeiten, da ein jeder Rekonstruktionsversuch ohne ihre Berücksichtigung nicht teifgreifend genug sein kann. Für die von Boesch (1989) geforderte "metatheoretische Mitsprache-Kompetenz" und die Entwicklung einer "gemeinsamen Sprache" (zit. n. Ortner, S. 26) ist die klärende Berücksichtung dieser Hierarchie für den interdisziplinären Diskurs zwingend, denn sie ist "Voraussetzung dafür, dass bei metatheoretischen Fragen nicht aneinander vorbeigeredet wird", und "stets disziplinübergreifend, sodass man mit Vorteil danach Ausschau halten kann, was auf diesem Gebiet von anderen Disziplinen geleistet wurde" (S. 27). Dieser Auffassung ist sicherlich zuzustimmen, auch wenn mehr notwendig sein wird als die Klärung dieser Hierarchie, da wissenschaftliche Begriffsapparate weitestgehend durch den Konsens in der scientific community geprägt werden. Als Vertreter eines Begriffs-Idealismus i. S. Steiners müsste Ortner somit eine Neubegründung der gesamten wissenschaftlichen Begriffssysteme auf der Grundlage der Wesensschau fordern, um Interdisziplinarität zu ermöglichen.
Der Versuch Ortners, die Geographie aus dem Zwang des naturwissenschaftlichen Reduktionismus zu lösen, mutet engagiert an, zumal die gesellschaftlichen und ökologischen Probleme unseres Zeitalters allerorts offenbar werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind bereits verschiedene Versuche unternommen worden, neue geographische Paradigmen zu etablieren, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerechter werden als es die Quantitative Geographie ermöglicht hätte.
Auch einer "ganzheitlichen Geographie", wie sie von Ortner vertreten wird, muss in diesem disziplinhistorischen Kontext grundsätzlich die Bedeutung einer erwägbaren Alternativkonzeption zugesprochen werden, auch wenn sie in ihrer naturphilosophisch-antroposophischen Orientierung auf den ersten Blick abwegig erscheinen mag.
Allerdings erscheint es ebenso notwendig, zu diesem Zweck die Geltungsbedingungen der Konzeption derart herauszuarbeiten, dass zuvorderst ihr - der Naturphilosophie Goethes und der Anthroposophie Steiners entliehener - Begriffskanon in der Übertragung auf die Geographie mehr als metaphorische Qualität erhält. Ohne diese Voraussetzung bleibt die Selbstbegründung des Ansatzes Ortners undurchschaubar. Es gelingt ihm weder, Leitlinien auf der Ebene der Methodologie zu erarbeiten, noch einen Ausblick auf die zu erhoffenden Fortschritte zu eröffnen, und so bleibt die Hoffnung Ortners, eine neue, menschlichere und naturnähere Geographie zu begründen, nicht zuletzt auch wegen des Fehlens eines umfassenden Kunstbegriffs, eine Utopie:
"Auf der hier errungenen Grundlage ist nun keine Frage mehr, wie berechtigt die Methode GOETHEs ist. GOETHEs erkenntnistheoretische Grundhaltung lässt sich als empirischer Idealismus charakterisieren. Darin kommen beide Seiten der Natur, die sinnliche als Empirismus und die geistige als Idealismus zum Zuge. Sein Verfahren will GOETHE der Natur ablauschen und nicht aufzwingen. Da er die Gestalt der Natur als kunstvoll erkennt, muss Wissenschaft notwendig zur Kunst werden" (S. 96).
Der Blick über den Tellerrand des geographischen Konsens lohnt sich allemal, auch wenn er vorwiegend rückwärts gerichtet ist. Von diesem Blickwinkel bleibt Ortners kritische Hinterfragung der disziplinhistorisch verorteten Paradigmen und derer Implikationen für die Gesellschaft aber weitestgehend unberührt; ebenso bleibt  die Lektüre des Buches für die reflektierende Betrachtung etablierter Standpunkte empfehlenswert.
Literatur
Boesch, Martin 1989: Engagierte Geographie - Zur Rekonstruktion der Raumwissenschaft als politik-orientierte Geographie. Stuttgart (Erdkundliches Wissen, Band 98).
Berkeley, George 1710: A treatise concerning the principles of human knowledge. Dublin.
Pohl, Jürgen 1986: Geographie als hermeneutische Wissenschaft. Ein Rekonstruktionsversuch. München (Münchener Geographische Hefte, Band 52) .
Werlen, Benno 1987: Gesellschaft, Handlung und Raum. Stuttgart.
Autor: Holger Priebe

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 1, S. 70-74