Robert Rudolph: Stadtzentren russischer Großstädte in der Transformation - St. Petersburg und Jekaterinburg. Leipzig 2001. 184 S.
Zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation Russlands gibt es eine geradezu ausufernde Literatur. Deutlich seltener wurde die Stadtentwicklung seit Ende des Sowjetreiches untersucht, und soweit dies der Fall war, ging es meist um Moskau. Teils wird es als kommende Global City gesehen, ganz in der Perspektive der Transformationstheorie einer nachholenden Modernisierung, wonach die 1992 freigelassenen Marktmechanismen binnen kurzem eine sich selbst regulierende Marktwirtschaft und entsprechende Institutionen entstehen lassen.
Moskau wird in dieser Perspektive ein gewisser Entwicklungsrückstand gegenüber New York oder London zuerkannt, doch bald werde es dieselben räumlichen Strukturen annehmen: moderne Dienstleistungen entstünden im Zentrum, soziale Segregation durchzöge die Wohnviertel, der die Stadt umgebende Industriekranz würde entweder restrukturiert oder obsolet. Teils wird, im Sinne der Perspektive pfadabhängiger Entwicklung, das Eigenartige betont: das wachsende politische Gewicht der Moskauer Machtclique in Russland; die Transformation der städtischen Bürokratie zu einem großen wirtschaftlichen und sozialen Akteur; und es wird hervorgehoben, dass die Stadtentwicklung weitgehend in der Hand der Moskauer politisierenden Geschäftsleute und kapitalistischen Politiker bliebe, von der Gewerbeansiedlung im Zentrum oder an der Peripherie über die produzierenden und versorgenden Eigenbetriebe bis zum nach wie vor riesigen kommunalen Wohnungsbestand.
Es ist das Verdienst des Autors, einen weiter reichenden Blick auf das Geschehen geworfen zu haben, und zwar in zweierlei Hinsicht: Er richtet sich auf zwei Städte, die zwar hinter Moskau eine Spitzenstellung einnehmen, aber weit weniger von nationalen Großunternehmen und westlichen Konzernen begünstigt wurden. Und er lässt sich nicht von den zwei Haupt-Denkansätzen zur post-sowjetischen Transformation einengen. Er konzentriert sich auf die Entwicklung der Stadtzentren. Ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen werden in zwei spannenden Kapiteln auf den Punkt gebracht. In zwei weiteren Kapiteln wird das vorrevolutionäre und das sowjetische Erbe beider Städte konfrontiert mit einer näheren Beschreibung ihrer Zentrumsentwicklung seit 1992. Leider wird abschließend keine Synthese hergestellt zwischen den Beschreibungen der Stadtentwicklung und den vorweg vorgestellten Einsichten über ihre Determinanten - es ist, als wäre dem Autor für seine Zusammenfassung die Puste ausgegangen.
Etwas blass bleibt die einleitende Darstellung allgemeinerer Ansätze v.a. aus der westlichen Forschung - Raummodelle, Globalisierungs- und Postfordismus-Theorien, sowie eine Charakterisierung der funktionellen Merkmale sozialistischer Stadtentwicklung und die Einsicht in die Persistenz vorrevolutionärer stadträumlicher Elemente. Der eigene Ansatz des Autors wird nicht geklärt. Gelungen und hochinteressant sind hingegen die zwei Kapitel über die wirtschaftlichen und politischen Transformationsbedingungen für Städte in Russland. Alle drei Städte sind Zentren wirtschaftsstarker Regionen, gegen die andere Regionen weit abfallen. Hier haben einzelne 'Regionalfürsten' mit eigenen Apparaten eine fast unumschränkte Machtposition gewonnen - die Bürgermeister von Moskau und St. Petersburg sind hierfür ein Beispiel. Diesen steht ein schwacher Zentralstaat gegenüber. Sehr deutlich wird die absolute Besonderheit Moskaus, in wirtschaftlicher Hinsicht und im russischen Machtgefüge. Bedenkenswert ist demgegenüber der Hinweis, es gebe bis heute auch in Moskau praktisch keine transnationalen 'Global Player'; leider verrät Rudolph nicht, was daraus zu schließen ist (wird auch Moskau nie den Status einer Global City erringen?). Wegen der weit reichenden De-Industrialisierung fallen die meisten anderen Städte und Regionen dagegen weit ab. Die spezifischen Stadtentwicklungs- Bedingungen hätten vielleicht weniger dürr (Wirtschaftsdaten, juristische Fakten) dargestellt werden können - das Interessanteste und Anschauliche wird in den Fußnoten versteckt.
Deutlich wird jedenfalls: Kommunalpolitik reduziert sich in Russland auf den Nachvollzug von Wünschen wirtschaftlicher Akteure, die sich um die 'Regionalfürsten' und ihre Administrationen scharen. Es gibt eine rasche Tertiärisierung, aber in ungewöhnlichen Formen: Kleinhandel und kleine Dienstleistungen haben sich rasch verbreitet - nicht als Ergebnis eines normalen Strukturwandels, sondern weil große Bevölkerungsteile davon leben müssen. Unternehmens-Dienstleistungen entstehen meist aus noch tragfähigen Abteilungen maroder Großunternehmen oder stagnierender staatlicher Dienste - und sind insofern noch an das sowjetische Erbe gebunden. Private Dienstleistungsunternehmen in einem westlichen Sinne entstehen nur im Umfeld internationaler Firmen und Gremien. Letztlich beginnt die ganze Wirtschaft sich zu informalisieren. Der Staat bzw. die Kommunen haben noch den gesamten Grundbesitz in der Hand - von ihnen, nicht von den Immobilien-Investoren hängt die Entwicklung im Bauwesen ab. Die Investoren müssen sich auf dem schmalen Markt des Handels mit Pachtrechten drängeln, und solange sie keine (Besitz-)Sicherheiten bekommen, gibt es auch keine Entwicklungsdynamik.
Instruktiv, aber weitgehend beschreibend sind die zwei Kapitel über Zentrumsentwicklung vor und nach der 'Wende' 1992. St. Petersburg und Jekaterinburg durchliefen dieselben Arten von Städte-Gestaltung und Bauaktivitäten: große Achsen bildeten das Gerüst für den Städtebau seit den 20er Jahren, und ab den 60er Jahren war Bautätigkeit gleichbedeutend mit dem Wuchern immer neuer Großsiedlungen. Durchweg blieb die Bautätigkeit weit hinter dem Bedarf der sehr rasch wachsenden Bewohnerschaft zurück. Trotz völlig gewandelter Entwicklungsbedingungen blieb der vorrevolutionäre Kern von St. Petersburg durch die Jahre das Zentrum. In Jekaterinburg, das v.a. in der Stalinzeit rasch wuchs auf heute 1,3 Mio. EW, entspricht das Durcheinander von Gebäuden und Einrichtungen aller Epochen keineswegs westlichen Vorstellungen eines Stadtzentrums.
Die Untersuchungen über Wohnentwicklung, Handelseinrichtungen und Unternehmensdienstleistungen in den drei Stadtzentren sind eigentlich ein originärer Beitrag auf Basis eigener Erhebungen, ergänzt um ein paar russische Untersuchungen. In Moskau und Teilen des Petersburger Zentrums hat sich 'elitäres' Wohnen nur an einigen Stellen flächenhaft entwickelt - in Jekaterinburg ist dies nicht erkennbar. Insgesamt gibt es wenig soziale Segregation. Die vorrevolutionären russischen Großstädte kannten Arm und Reich - aber nur innerhalb eines Hauses, nicht nach Vierteln getrennt, und dieses Muster hat sich bis heute gehalten. Man hätte gerne ein Erklärung, warum dem so ist - warum es praktisch keine 'nachholende Segregation' gibt. Stattdessen wird man mit vielen genauen Beschreibungen von Lagen und Baustrukturen, Preisen und Qualitätsmerkmalen hingehalten. Darunter gehen die originellen Einsichten über die (Einzel-)Handelsentwicklung fast unter: die Massenversorgung läuft über Hunderte kleiner Kioske und über Straßenhändler - nur für einzelne Hochpreissegmente gibt es kleine Ladenkonzentrationen des 'westlichen' Stils an ein paar Straßen. Als Standorte fallen vorrevolutionäre Prestigelagen und stalinzeitliche Plätze auf. Unternehmens-Dienstleistungen gelten bei uns als besonders durchsetzungskräftig - aber selbst in Moskau kriechen sie meist unter in sanierten Teilen von alten Gebäuden der ehemals staatlichen Großverwaltungen, oder in Teilen von ein paar günstige gelegenen Wohnhäusern.
Es fehlt am Schluss an Erklärungen für diese in westlichen Augen absonderlichen Entwicklungen. Rudolph lehnt die anfangs charakterisierte Modernisierungstheorie ab als unbrauchbar zum Verständnis der Entwicklung russischer Stadtzentren. Er fasst sorgfältig die einzelnen Abschnitte zusammen, aber in recht blassen Formeln ("stabile zentrierte Muster"). Dabei ist die Untersuchung voll von interessanten Informationen und bietet gute Denkansätze - bloß wird beides nicht zusammengebracht. Letztlich spricht sein ganzes Material doch für den Ansatz der pfadabhängigen Entwicklung. Wenn schon die Transformation der zweit- und drittstärksten Stadt in Russland so tief von Bau-, Regelungs- und Wirtschaftsstrukturen der sowjetischen Zeit geprägt ist, und wenn Lage, Baustrukturen und Attraktivität der Stadtzentren durch zwei Revolutionen hindurch 'Persistenz' gezeigt haben - ist dann überhaupt zu erwarten, dass sich die zehn weiteren russischen Millionenstädte, von Wolgograd bis Nowosibirsk, jemals in ein modernes westliches Muster fügen?
Autor: Rainer Neef