Joachim Becker, Andrea Komlosy (Hg.): Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien 2004 (Beiträge zur Historischen Sozialkunde/Internationalen Entwicklung 23/2004, auch Journal für Entwicklungspolitik, Ergänzungsband 15). 234 S.

Wie bereits die Bezeichnung der Schriftenreihe und der Titel des Sammelbandes besagen, ist dieses Werk ein geistes- bzw. zum Teil sozialwissenschaftlich angelegter Beitrag zur Erforschung von Grenzen, wobei historische, politische, kulturelle und - wenn auch bedingt bzw. recht speziell - ökonomische Aspekte im Vordergrund des Interesses stehen. Während es sich bei den HerausgeberInnen der vom Verein für Geschichte und Sozialkunde mit Sitz in Wien herausgegebenen Schriftenreihe um österreichische Wissenschaftlicher verschiedener Disziplinen handelt, haben in diesem Sammelband auch einige Autoren mitgewirkt, die in Deutschland oder in anderen Ländern tätig sind.

In ihrem Vorwort skizzieren die beiden Herausgeber den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, gehen auf grundlegende Inhalte ein und geben einen Überblick über die Konzeption dieses Sammelbandes. Dabei vertreten sie völlig zu Recht die These, dass die trennende Funktion der Grenzen innerhalb Europas nach der politischen Wende zwar erheblich an Bedeutung verloren hat, dass sie jedoch in zahlreichen Ländern nach wie vor existiert und ihr Stellenwert weltweit eher gestiegen ist. Der Auswahl der Beiträge liegt der Anspruch zu Grunde, die Komplexität von Grenzen und die daraus resultierenden Fragestellungen zu untersuchen, was sich unter anderem aus folgendem Zitat ableiten lässt: "Die Perspektive der Grenzziehung ... fasst Grenze in vielfältiger Form: als Staatsgrenzen, als innerstaatliche Grenzen und als Regionalblockgrenzen; als ökonomische Grenzen zwischen unterschiedlichen regionalen Wirtschafts- und Integrationsräumen sowie als regionale Wohlstandsgefälle, und schließlich als Grenzen in sozio-kultureller, ethnischer oder religiöser Hinsicht." (S. 9)
In diesem Zusammenhang erfolgt gleichermaßen die Formulierung der übergeordneten Zielsetzung, nämlich "diese Grenzen in ihren unterschiedlichen Erscheinungs- und Entwicklungsformen und in ihrem gegenseitigen Spannungsverhältnis" darzustellen und zu interpretieren. Darunter subsumieren die beiden Herausgeber folgende Facetten der Betrachtung (S. 9):
– "Formalität oder Informalität der Grenze
- Verlauf und Form der Grenze, Grenzverlaufskonflikte
- Grenzmarkierung, Befestigung, Grenzregime
- Durchlässigkeit - in Bezug auf was, auf wen, in welche Richtung (Politik der Grenze)
- Grenzerfahrungen"
In Ergänzung dazu wird näher auf die Themenbereiche "Grenze und Staat", "Staatsgrenze und Minderheiten", "Nationalstaat und supranationale Integration" sowie auf die Einzelbeiträge des Sammelbandes eingegangen. Auf diese Weise erfolgt eine sinnvolle inhaltliche Einführung und Vorstellung der folgenden Kapitel.
Unter der Überschrift "Grenzen und Räume - Formen und Wandel" untersuchen Joachim Becker und Andrea Komlosy verschiedene Grenztypen von der Stadtmauer bis zum "Eisernen Vorhang". Dabei werden unterschiedliche Arten von Grenzen (Grenzsteine und Stadtmauern, ökonomische, soziale und kulturelle Grenzen, Wohlstandsgrenzen, politische Grenzen, Block- und Systemgrenzen, der "Eiserne Vorhang" als Besonderheit sowie Blockgrenzen nach der politischen Wende) sowie verschiedene Formen von Raum und Staatlichkeit (vorkapitalistische Buntscheckigkeit, Herausbildung des absolutistischen Staates und der Grenzlinie, bürgerlicher Staat und territoriale Homogenisierung, postkoloniale Kontinuitäten, Wandel von Räumen und Grenzen) dargestellt.
Am Beispiel der deutschen Ostgrenze, der russischen Südgrenze und der amerikanischen Westgrenze beschäftigt sich der Historiker Hans-Heinrich Nolte mit der Radikalisierung der Grenzen in der Neuzeit. In diesem Zusammenhang geht er auf die deutsche Grenze zu den Slawen, der Grenze Russlands gegen die Tataren sowie die frontier in den USA ein.
Der Beitrag von Joachim Becker und Ash E. Odman bewegt sich gedanklich "von den inneren zu äußeren Grenzen" und vergleicht dabei die Auflösung der Habsburgermonarchie mit der des Osmanischen Reichs. Im Einzelnen kommen die Autoren auf die territoriale Ordnung der Reiche zu sprechen, ebenso wie auf deren ökonomische Situation und innerstaatliche Trennlinien.
Eine vergleichende Analyse zwischen der Habsburgermonarchie und der Europäischen Union nimmt auch Andrea Komlosy vor, wenn sie "Migration und Freizügigkeit" thematisiert. Inhaltlich setzt sie sich mit den Außen- und Binnengrenzen auseinander und skizziert einige wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Abschließend stellt sie die Frage, ob die Habsburgermonarchie unter Umständen zu einem Modellfall für die erweiterte EU werden könnte.
Zu den "Grenzen des (post-)kolonialen Staates" äußert sich Henning Melber am Beispiel "von Deutsch-Südwest nach Namibia". Einleitend befasst er sich zunächst einmal allgemein mit der Ausbreitung Europas auf die übrige Welt und erörtert speziell die Folgen der kolonialen Grenzziehung in Gesellschaften Afrikas. Im Rahmen seines Exkurses in siedlerkoloniales Grenzland untersucht er die frontier im Südlichen Afrika und geht im Rahmen eines Unterkapitels auf die "Grenzen einer Befreiung: das Fallsbeispiel Namibia" ein.
Aus der Sicht der Raumordnung und -planung beleuchtet Viktoria Waltz den Siedlerstaat "Israel - Palästina". Unterpunkte dabei sind Fragestellungen wie "Homeland oder unabhängiger Staat?", Raumentwicklung und -planung in Palästina vom 19. Jahrhundert bis zur Staatsgründung Israels 1948, Grenzziehungen für einen möglichen Staat Israel unter der britischen Mandatsregierung, Raumordnung und -planung für jüdische Mehrheiten im Staat Israel 1948 bis 1967 sowie unter der Besatzung, d. h. Ghettoisierung von Westbank, Gazastreifen und Ost-Jerusalem.
Einen sehr interessanten Beitrag mit einer Vielzahl aktueller Bezüge liefert Helga Schultz zum Thema "Geteilte Städte oder Zwillingsstädte?", dem sie den provokanten Untertitel "Konjunkturen von Trennung und Kooperation" zuordnet. Dabei beschäftigt sie sich mit Typen und Gruppen von Städtepaaren, deren Tradition und Kommunikation, deren Barrieren und Passagen sowie deren Institutionalisierung.
Stärker historisch ausgerichtet sind die Überlegungen von Hannes Hofbauer zu den jugoslawischen Zerfallslinien, wobei er im Wesentlichen "aktuelle Grenzen in historischer Perspektive" aufzeigt. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen Erkenntnisse über die vier Kriege zur Zerstörung Jugoslawiens, die ökonomische Desintegration des Landes sowie die historischen Grundlagen für eine Neuordnung auf dem Balkan.
Zwei Beiträge zu Süd- und Mittelamerika runden den Sammelband ab. Unter der Überschrift "Dollars, Pesos, Patacones" setzen sich Joachim Becker und Paola Visca mit den Grenzen des Geldes in Argentinien auseinander, während sich Karen Imhof am Beispiel von Mexiko und NAFTA zum Thema "Grenzenlose Ökonomie - begrenzte Migration" äußert.
Insgesamt gesehen wird in diesem Sammelband ein aktuelles Thema aufgegriffen und differenziert bearbeitet. Von besonderem Wert erscheint die großräumige Betrachtungsweise im internationalen Kontext. Das heißt, dass die Erforschung von Grenzen weltweit vorgenommen wird und dadurch zumindest ein gewisser Vergleich möglich ist, obwohl dieser nicht explizit erfolgt. Als ebenso positiv wird der interdisziplinäre Ansatz erachtet, was die Einbeziehung eines breiten Themenspektrums begünstigt. Allerdings beschränkt sich dessen Komplexität auf geistes- und teilweise sozialwissenschaftlich ausgerichtete Überlegungen, so dass doch eine gewisse Konzentration auf diese spezifischen Sichtweisen festzustellen ist.
Was die thematische Breite anbelangt, so wird diese sicherlich konsequenter verfolgt als bei Veröffentlichungen, die von wenigen Disziplinen bzw. nur einem Fachgebiet gestaltet werden. Dennoch erscheint die Auswahl der Einzelbeiträge etwas zufällig und orientiert sich nicht unbedingt am eingangs artikulierten konzeptionellen Anspruch.
Daher wäre es von Vorteil gewesen, wenn die Herausgeber noch ein abschließendes Kapitel formuliert hätten, in dem sie sowohl die Erkenntnisse zusammengefasst als auch einen Ausblick auf künftige Forschungsfelder gegeben hätten. Ohnehin stellt sich bei dem einen oder anderen Beitrag die Frage, wem die ermittelten Ergebnisse eigentlich nützen: alleine den Grenzraumforschern für deren fachwissenschaftliche Erörterungen oder ggf. auch in der Praxis tätigen Entscheidungsträgern (z. B. Politikern, Entwicklungshelfern, Raumplanern), um diese im Rahmen ihrer Alltagsarbeit zu unterstützen? In Abwägung aller Vorzüge und Nachteile dieser Publikation dürften deren Inhalte vorrangig bei solchen Fachwissenschaftlern und ggf. besonders engagierten Praktikern auf Interesse stoßen, die sich vorzugsweise aus geistes- bzw. sozialwissenschaftlicher Sicht und primär im internationalen Kontext mit Fragestellungen zu Grenzräumen und speziell zu Grenzen beschäftigen. Für diese Zielgruppe stellt das Werk zweifellos eine große Bereicherung dar.
Autor: Peter Jurczek

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 2, S. 94-96