Hans Gebhardt, Paul Reuber, Günter Wolkersdorfer (Hg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Heidelberg, Berlin 2003. 300 S.

Mit den Beiträgen dieses Sammelbandes wird eine der zentralen Denkrichtungen heutiger Kulturtheorie mit geographischen Ansätzen und Kategorien in Verbindung gebracht. Dazu werden Themen aus folgenden Bereichen bearbeitet: 1) Neue Konflikte um Raum und Macht, 2) Kultur und Identität, 3) Kultur, Stadt und Ökonomie, 4) Kultur/Natur: eine Neuverhandlung und 5) Rethinking Space and Place. Theorieleitend und paradigmatisch finden sich die meisten Essays unter dem Dach eines postmodernen Konstruktivismus, der so weit geht, dass von einem Spatial Turn in den Sozialwissenschaften geredet wird, der es den Geographen ermögliche, einen relevanten Theorieexport in die Kulturwissenschaften zu leisten.

Gleichzeitig wird Anschluss gesucht an zwei in Soziologie und Sozialphilosophie vorherrschende Trends, die von den Vertretern dieser Strömungen als die derzeit allein gültige Wahrheit dargestellt werden: den sogenannten Linguistic Turn und den Cultural Turn.
Eine Leitthese bezüglich der Gesellschaft der Gegenwart besagt, dass sie durch immer feinere Unterschiede bei gleichzeitig stärker werdender Separation und Segregation gekennzeichnet sei; sie wird auch in der Einleitung der Herausgeber vorgebracht. Empirische oder gegenständliche Belege dafür haben bisher weder postmoderne noch kulturalistische Autoren erbracht. Die Statistiken der sozialen Milieustudien belegen bis heute, dass sich die Einkommensschere zwischen Selbstständigen und allen anderen Gruppen permanent erweitert und dass die größte Gruppe in der Sozialstruktur, die Arbeitnehmer, in sich weiterhin überwiegend Angleichungstendenzen aufweist. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die kulturwissenschaftliche Strömung immer wieder mit plakativen Thesen zu Wort meldet, aber den direkten und machbaren Nachweis meidet. Es ist typisch für die Autoren, die sich mit Konzeptionen wie "Netzwerkgesellschaft", "Entankerung", "Fragmentierung" und "Pluralisierung" ins Licht setzen, dass sie zwar an den aktuellen sozialen Wandel anknüpfen, aber gegenüber der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auf einem formalen Analyseniveau stehen bleiben, das ihnen Formen des Wandels zugänglich macht, den Prozess der Entstehung und Verursachung von Strukturen aber im Dunkeln lässt und die Empirie der Sozialforschung zuweist.
Die hier vorgestellte neue Kulturgeographie steht auf mehreren Beinen und will diese zusammenführen: 1) die Absage an eine vermeintlich objektive Wissenschaft, 2) die Ablösung des Primats der Geschichte bzw. der Zeit über den Raum, 3) der Linguistic Turn, der Raum als Diskurs und Text versteht, und 4) der Semiotic Turn, der Raum als Zeichensystem begreift. Kulturgeographie erscheint als eine spezifische Form von Wissen und Macht, die eine Vielfalt und Pluralität von Gesellschaft ausdrückt und dabei vor allem räumliche Formen und Transformationen betrachtet. Gesellschaft heißt Heterogenität von Lebensformen und Lebensstilen. Folglich hat Wissenschaft die Aufgabe, dieser Heterogenität mit einer ebenfalls vielfältigen Ansammlung von Konzeptionen und Ansätzen zu begegnen; nach Möglichkeit soll dieser Pluralismus von jedem einzelnen Forscher selbst vertreten werden. Dafür hat D. Massey das Schlagwort von der "Multiplicity of Stories" eingeführt; die Differenz der Verhältnisse erfordert eine Differenz des wissenschaftlichen Blicks.
An Masseys Beitrag können die Grundthesen dieser neuen Kulturgeographie exemplarisch gezeigt und diskutiert werden. Sie definiert Raum absichtlich nicht-eindeutig; er gilt als Produkt von Interaktionen, ist durch Vielfalt/Pluralität charakterisiert und kann als fragmentiertes und fraktales Phänomen kein kohärentes System sein. Am Beispiel regionaler Disparitäten erläutert die ehemals zu kritischer Analyse fähige Autorin, wie sie das meint: Man solle doch die Einkommensunterschiede zwischen reichen und weniger reichen Regionen nicht mit wertenden Begriffen belegen, sondern die Disparitäten lieber als Ausdruck von Vielfältigkeit und Differenz verstehen; die schwächeren Gebiete sind nicht irgendwie rückständig oder benachteiligt, wie das von konventionellen und gestrigen Geographen eingeschätzt würde, sondern ihre Lage ist eben ihr zu respektierendes und anerkanntes Anderssein. Echte Pluralität bedeutet, solche Unterschiede zu akzeptieren und als notwendig für die Offenheit und die Vielfalt von Raum anzusehen.
Raumbezogene Politik ist konsequenterweise darauf aus, für verschiedene Räume unterschiedliche Entwicklungspfade zu offerieren. Wenn die Entwicklung und die Zukunft dem Postulat der Kontingenz folgen sollen, bleibt wenig Raum für konkrete Konzeptionen. Präzise Vorstellungen, wie eine Raumentwicklung für ein bestimmtes Gebiet sinnvoll sein könnte, würden in dieser Lesart nur die Aspekte der Vielfältigkeit, Differenz und Veränderung des Räumlichen unterdrücken, sie wären eine lineare, große Erzählung - das Schlimmste, was sich eine postmoderne Theorie vorstellen kann (obwohl sie sich immer wieder selbst als reichlich große Erzählung erweist). So wird letztlich Offenheit zum entscheidenden Merkmal von Raum und damit von Politik - bei Massey wird inzwischen die Politik aus dem Raum regelrecht abgeleitet: Politik hat so offen zu sein wie der Raum. Hier ist schon zu fragen: Wie offen ist der Raum einer World City? Für wen ist er offen? Oder noch deutlicher: Wie offen ist Politik heute, in diesem Land zum Beispiel? Für wen werden die politischen und räumlichen Pforten der Handlungsfreiheit geöffnet, für wen geschlossen? Was bedeutet überhaupt diese totale Offenheit? Soll für alle das gleiche Maß an Offenheit bestehen? Wer kann dann weiter, schneller, besser agieren? Die Antworten sind bekannt, die Ungleichheiten in den Räumen und zwischen den Räumen bleiben und sie nehmen zu, weil die Eliten in den verschiedenen Variationen des Turbokapitalismus Gesellschaft und Raum bestimmen und für sich selbst alle Wege offen halten - für niemand sonst. Tatsächlich bringt die Propagierung vollständiger Offenheit für diejenigen, deren Differenz so stark ist, dass sie einfach nicht mithalten können, notwendigerweise den Ausschluss aus vielen Bereichen: Beruf, Einkommen, Lebensqualität.
Masseys Konzeption endet schließlich im vollen Zynismus. Es gibt für sie keine universalen politischen bzw. räumlichen Regeln. Für mich heißt das schlicht: Sie bestreitet die weltweite Geltung der Menschenrechte.
Explizit äußert sie, wohlwissend um die privilegierte Position von multinationalen Akteuren, dass es für lokale Bevölkerungen keine Rechte außerhalb des Kontexts ihrer speziellen Machtgeometrie und -geographie gibt, in dem sie platziert sind. Hier schließt sich der Kreis einer Idee, die sich als offen und plural interpretiert, gleichzeitig aber mit dem Wissen um die Realität massiver Ungleichheit ausgestattet ist und deshalb auch über die Erkenntnis verfügen muss, dass eine Politik, die nichts als offen für alles und alle ist, die bestehenden Verwerfungen und Antagonismen akzeptiert. So erweist sich die zentrale Maxime des Konzepts als ideologisch; sie verhüllt Macht mit Kategorien, die für diese Ausblendungen seit eh und je eingesetzt werden: die Basisbegriffe des Liberalismus.
Der Beitrag von Reuber und Wolkersdorfer über eine im Entstehen begriffene kritische Geopolitik ist insofern gelungen, als sie mehrere Konzepte des aktuellen Diskurses über die Weltkultur und politik darstellen und einer reflektierten Dekonstruktion unterziehen. Die neuen geoökologischen und geoökonomischen Diskurse wie z. B. Huntingtons Kampf der Kulturen oder Fukuyamas Ende der Geschichte sind auch in der Politischen Geographie zu Leitbildern geworden, denen man nur durch intensive Gegentheorien begegnen kann. Problematisch ist aber die Annahme der Autoren, diesen Hyperkonzepten politischen Handelns könnte man durch eine wissenschaftliche Analyse allein die Kraft nehmen. Hier begehen sie den Grundfehler des konstruktivistisch-postmodernen Paradigmas. Sie betrachten die verschiedenen Theorien und Paradigmen in der Folge von Foucault und eigentlich auch als Spätfolge des krassen Strukturalismus eines Althusser als ein "Etwas", das sich selbst bedingt und in Szene setzt, ohne nach materiellen und sozialökonomischen Interessen und Kräften bzw. Ursachen zu fragen, die außerhalb der Theorien in der Weltgesellschaft wirken. Konkret können aber Betrachtungen geistiger Prozesse und Ansätze erst werden, wenn sie vermittelt werden. Eine Analyse von ideellen Konzepten kann nicht über den eigenen geistigen Tellerrand reichen, egal wie differenziert oder vielfältig sie gemeint sein mag. Hinter Huntingtons Kampf der Weltkulturen stecken massive Bedürfnisse des US-Kapitals, die ökonomische Dominanz dieser geographischen Einheit zu sichern und zu erweitern. Die Verketzerung des Islam symbolisiert einen mit allen Mitteln geführten Kampf um vorhandene und potenzielle Ölquellen, um die Weltressourcen außerhalb Nordamerikas. Fukuyamas Ende der Geschichte zielt auch darauf, den Kapitalismus als das endgültig erreichte und optimale Stadium der Wirtschaftsgeschichte, nicht nur der Politik, darzustellen.
Neue Leitbilder der Politik zeichnen sich nicht einfach ab, sie werden gemacht und sie stehen für handfeste Forderungen der Eliten, am Kuchen der Weltwirtschaft die besten Stücke abzuschneiden und selbst zu verzehren. Es war sicherlich in vergangenen Zeiten ein Fehler der fortschrittlichen Kräfte in der Geographie, Arbeit und Wirtschaft zu stark in den Vordergrund zu stellen. Aber jetzt schlägt das Pendel vollständig in eine ebenfalls verhängnisvolle und ohnmächtig machende Richtung um: zur Reduzierung gesellschaftlicher und geographischer Prozesse auf Kultur, Theorie und Ideologie.
Die Essays von Watts/Bohle und von Belina zeigen allerdings zumindest ansatzweise und als Analysen des Status quo den Weg für einen solchen totalitätsorientierten Kurs. Sie sehen den Kampf um die öffentlichen Räume als Auseinandersetzung um Macht und Profit und stellen, bezogen auf reale Vorgänge, die Frage, was Kultur mit Politischer Ökologie und Politischer Ökonomie zu tun hat. Sie gehen wesentlich weiter als Reflexionen, die immer wieder nur um eigenes und fremdes Denken kreisen und Machtstrukturen nicht mehr entnehmen können, als dass verschiedene Gruppen Räumen unterschiedliche Identitäten und Bedeutungen zuweisen und deshalb differenziert verortet oder platziert sind.
Die kausalen Verhältnisse der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden vollends und bis zur Unkenntlichkeit verdreht, wenn (wie z. B. von Zierhofer) die These aufgestellt wird, dass Natur und Kultur diskursiv konstituiert sind. Dagegen kann dann nur noch gesagt werden, dass die Natur keine Menschen braucht und nie gebraucht hat und dass Kultur schon lange bestand, bevor die Erfinder des Diskurses mit ihrem idealistischen Geschäft der Gedankenspiele (die weitgehend die Wirklichkeit ersetzen, verkleiden und beschönigen sollen) auf den Plan der Theoriegeschichte getreten sind. Der Nichtessentialismus, der sich in dieser Auffassung äußert, ist eine Konsequenz der durch Technologie und High-Tech-Wissenschaft anvisierten und angestrebten Tendenz zum "Verschwinden der Menschheit" - aber leider kommt dieser harte Bereich der postmodernen Wirklichkeit bei den Kulturalisten überhaupt nicht vor.
Sojas abschließender Text verweist auf ein ausgesprochen dringendes Desiderat von Geographie: die Herstellung einer tragfähigen Einheit von gesellschaftlicher, historischer und räumlicher Analyse und Methodologie. Beipielhaft dafür hätte dieser Autor die Arbeiten von Harvey erwähnen können. Er versteigt sich aber in eine hybride Konzeption, in der der Spatialism sehr schnell die Überhand gewinnt und sogar mit der Erwartung einher geht, in naher Zukunft könnten sich größere politische Bewegungen entwickeln, die als ihr Hauptziel die Überwindung spezifisch räumlicher Machtdifferenzen setzen würden. Eine stärkere Selbstüberschätzung geographischer Teile der komplexen Realität erscheint kaum denkbar, ist aber wohl Bestandteil des Spatial Turn, d. h. des Denkens in Raumkategorien.
Bei einer schärferen Sicht auf den Gehalt der neuen Kulturgeographie kann sicherlich der durchaus nicht überraschende Nachweis erbracht werden, dass sie eine theoretische Ergänzung des Neoliberalismus in Ökonomie und Politik bildet. Wie weit ist der Weg von der wirtschaftlichen Deregulierung zur theoretischen Dekonstruktion? Sind Entstrukturalisierung und Fragmentierung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht mit der Entstrukturalisierung und Fragmentierung der Gesellschaftstheorie verknüpft? Spiegeln maximale Offenheitskonzepte der Theorie nicht adäquate Öffnungen im Ökonomischen? Entspricht die Konzentration auf Raumdenken nicht der Abwehr einer weiteren Fortschritts- und Wohlstandsevolution auf ökonomischer Basis? Wenn die Geometrie zum wissenschaftlichen Superaxiom wird, bedeutet das nicht, dass die Soziologie der ökonomischpolitischen Verhältnisse nicht mehr hinterfragt werden soll?
Literatur
Breuer, Stefan 1995: Die Gesellschaft des Verschwindens. Hamburg.
Eagleton, Terry 1993: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar.
Kondylis, Panajotis 1991: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Weinheim.
Sokal, Alan, Jean Bricmont 1999: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen. München.
Autor: Heinz Arnold

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 2, S. 99-103