Reinhard Nachtigal: Rußland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914-1918). Remshalden 2003. 391 S.
Das Interesse an der Durchdringung der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (GEORGE F. KENNAN) hält unvermindert an. Während sich das Spektrum der Forschungsfelder über den ersten Weltkrieg (1914-1918) maßgeblich durch neue kulturgeschichtliche Ansätze erweitert hat, gelten Diplomatie- und Militärgeschichte als weitgehend erforscht. Aufgrund der bis in die jüngere Vergangenheit vorherrschenden Aktenlage ließen sich Einzelaspekte jedoch nicht hinreichend bearbeiten. Indem REINHARD NACHTIGAL in seiner Dissertation Fragen der "Struktur- und Organisationsgeschichte des Gefangenenwesens in Russland" aufgreift, widmet er sich einer dieser Fragestellungen. Ihm geht es dabei speziell um das Schicksal der österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen zwischen 1914 und 1918 in einem total geführten Krieg, unter Berücksichtigung der Systemkrise des späten russischen Zarenreiches. Grundlage hierfür sind breit angelegte Recherchen in russischen, österreichischen und deutschen Archiven. Gerade die russischen Militärarchive, die bis 1992 der wissenschaftlichen Forschung weitgehend unzugänglich waren, erwiesen sich für die hier zu rezensierende Arbeit als besonders ertragreich.NACHTIGAL gliedert seine Dissertation in fünf Kapitel. Nach einer Einführung in die Fragestellung, Bemerkungen zur Quellenlage und zum Forschungsstand behandelt er die logistischen Probleme, denen sich die zaristischen Zivil- und Militärbehörden angesichts des erstmalig auftretenden Massenphänomens der unerwartet hohen Zahl Gefangener der k. u. k. Armee ausgesetzt sahen. Das anschließende Kapitel beschreibt u.a. am Beispiel des Schicksals der 120.000 österreichisch-ungarischen Gefangenen in der Festung Przemysl logistische Probleme der Verlegung der Gefangenen in umliegende Militärbezirke, die prekäre Versorgungslage sowie das Auftreten und die Ausbreitung von Typhus und Cholera. Ein wesentlicher Umstand für die Missstände des russischen Gefangenenwesens war neben der Überforderung die unklare Kompetenzregelung, die dazu führte, dass mehrere Stellen für Angelegenheiten der Kriegsgefangenschaft zuständig waren. Folge war, dass die Regierung nur unzulängliche Kenntnisse über die Zustände im Gefangenenwesen erlangte. Ausführlich werden die nationalen und internationalen Reaktionen nach bekannt werden der Missstände erläutert, die letztlich zu einem Betreuungsmandat durch das Rote Kreuz der neutralen skandinavischen Staaten Dänemark und Schweden führten. Dieses führte in Zusammenarbeit mit den Mittelmächten Inspektionsreisen durch, auf deren Grundlage umfangreiche Hilfsaktionen zur Verbesserung der Versorgungslage der vielfach von Krankheit, Verwahrlosung und Unterernährung betroffenen Gefangenen koordiniert werden konnten. Der Name ELSA BRÄNDSTRÖMs ist zum Synonym für den Erfolg dieser neutralen Fürsorge geworden.
Es folgen zwei weitere Abschnitte über den Arbeitseinsatz der österreichisch-ungarischen Gefangenen in der russischen Kriegswirtschaft sowie zu einem in dieser Form ebenfalls neuartigen Phänomen, der gezielten Selektierung der österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen nach slawischer bzw. deutscher Volkszugehörigkeit. Die systematische Heranziehung der Gefangenen zu Arbeitseinsätzen erfolgte in Russland erst ab 1916. Der Bedarf an Arbeitskräften entwickelte sich parallel zu den russischen Verlusten. In deren Folge und als Konsequenz der verstärkten Rüstungsbemühungen seit Jahresbeginn 1916, war das Arbeitskräftepotential, das mit einer Million Kriegsgefangener zusätzlich zur Verfügung stand, nicht ausreichend. Der Einsatz der Gefangenen erfolgte aufgrund von Vereinbarungen zwischen den russischen Staatsministerien, die die meisten Arbeitskräfte absorbierten, dem zemstvo-Bund (landständisches Selbstverwaltungsorgan) und der Kriegswirtschaft im weitesten Sinne. Bis 1917 kletterte der Anteil der Gefangenen auf ein Drittel der gesamten Belegschaft in der russischen Montanindustrie. Hier herrschten extreme Arbeitsbedingungen ebenso wie bei den kriegswichtigen Kanal- bzw. Bahnbauprojekten des Staates, die ganzjährig betrieben wurden, zumeist in militärischen Sperrzonen lagen und daher auch nicht durch das Rote Kreuz inspiziert werden konnten. So etwa die Murmanbahn im Nordwesten Russlands, die wesentlich das Schreckbild von der russischen Kriegsgefangenschaft begründete. Ab 1917 schwand die Bedeutung der Kriegsgefangenenarbeit aufgrund der revolutionären Umwälzungen, die mit dem Sturz der Zarenherrschaft und dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg einhergingen. Viele der Gefangenen sahen die Möglichkeit zur Flucht bzw. wurden von den rasch vorrückenden Truppen der Mittelmächte befreit.
Von Beginn des Krieges an verfolgte die russische Regierung im Zeichen des Panslawismus eine Nationalitätenpolitik unter den Gefangenen der Mittelmächte. In der Frühphase gab die militärische Führung den völkerrechtswidrigen Befehl aus, Reichsdeutsche und ethnisch deutsche Österreicher sowie Magyaren in Sibirien zu internieren, während Slawen und Romanen aber auch Italiener und Elsässer nicht weiter nach Osten als in den Omsker Militärbezirk zu verbringen seien. Ziel dieser Selektierung, die verbunden war mit einer Privilegierung der Gefangenen bei Unterbringung, Verpflegung und Heranziehung zu Arbeiten betraf, war die Nutzbarmachung der gefangenen Slawen für politische und militärische Zwecke. So sollten sie zu russischen Untertanen erzogen werden, die russische Sprache erlernen und im Falle eines russischen Sieges in ihre Heimatländer zurückgesandt werden, um dort als Multiplikatoren für die Idee des Panslawismus zu wirken. Das russische Interesse konzentrierte sich vorrangig auf Serben und Tschechen (mit gewissen Abstrichen auch Bulgaren und Rumänen), da beide aus unterschiedlichen Motiven besonders häufig zu den Russen überliefen.
Das fünfte Kapitel untersucht die Rückführung der Kriegsgefangenen bei Kriegsende. Von russischer Seite war die Unterstützung für die Heimführung der Gefangenen gering bzw. wurde sie sogar behindert. Daher halfen auch hier wieder das Dänische und Schwedische Rote Kreuz und richteten entsprechende Anlaufstellen ein, wo die Heimkehrer zunächst mit dem Nötigsten versorgt und mit Papieren ausgestattet wurden, bevor sie mit Zügen zur Überstellung an die Mittelmächte weitertransportiert wurden. Eine endgültige Regelung der Repatriierung Kriegsgefangener aus den Reihen der Mittelmächte bzw. Russlands wurde erst im Friedensvertrag von Brest-Litowsk getroffen.
Die Arbeit wird von einer Schlussbetrachtung über "Kriegsgefangene in der Systemkrise" abgeschlossen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Kriegsbeginn 1914 bis zum Frieden von Brest-Litowsk im März 1918, der das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg bedeutete. In geographischer Hinsicht bleibt die Untersuchung auf den europäischen Teil Russlands begrenzt, da die österreichisch-ungarischen Gefangenen weitestgehend dort interniert waren, während der asiatische Teil Russlands für das Thema nur geringe Bedeutung hat.
Die umfangreiche Dissertation REINHARD NACHTIGALs ist zweifelsohne eine wichtige Detailstudie zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Mit großer Akribie hat der Autor eine beeindruckende Materialfülle bearbeitet und ein genaues Bild von den Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft 1914-1918 gezeichnet. Doch liegt auch gerade hierin eine gewisse Problematik, da die Lesbarkeit der Arbeit über weite Strecken aufgrund der vielfach in den Text eingebrachten Zahlen und Diagramme leidet. Letztere sind leider nur unzureichend beschriftet, so dass sich deren Aussage, selbst nach Lektüre des Textes, nur schwer erschließen lässt. Positiv zu vermerken sind das Personenregister und die schematischen Übersichtskarten im Anhang des Bandes, die durchaus um weitere zu den Inspektionsreisen der Rot-Kreuz-Delegationen hätten ergänzt werden dürfen.
Autor: Christoph Spieker