Hans Gebhardt und Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Stadt - Land - Frau. Interdisziplinäre Genderforschung in Kulturwissenschaft und Geographie. Heidelberg 2003 (Heidelberger Geographische Arbeiten 117). 278 S.

"Stadt - Land - Fluss": das Spiel (einschließlich der bei "C" wie Celle und "X" wie Xanten ausbrechenden Alphabethnotstände) kennen wir alle. Und auch den Buchtitel: "Stadt - Land - Frau" gibt es schon: als Band 4 der Reihe Forum Frauenforschung, herausgegeben von KERSTIN DÖRHÖFER (1990). Nach 25 Jahren Frauenforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften sind die Gender Studies als "frauenbezogene Forschung" nun auch in der Geographie angekommen: Die Erdkunde erlebt ihre Feuertaufe als emanzipatorische Wissenschaft. Die Soziologie, die in diesem Band konzeptionell, methodisch und begrifflich manifest und mehr noch latent, "under cover" gewissermaßen, und - im Bilde bleibend - mehr oder weniger unsichtbar im Raume steht, hatte dieses disziplinäre Selbstverständnis als Tochter der Aufklärung von Anfang an.
Der Band, in den auch Dissertationen sowie Diplom- und Magisterarbeiten Eingang fanden, veröffentlicht Ergebnisse aus zwei Forschungsprojekten, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in der Stadt und Region Stuttgart als "Interdisziplinäre Genderforschung in Kulturwissenschaft und Geographie" durchgeführt wurden. In ihnen ging es um geschlechtsspezifische Aspekte von Raumwahrnehmung und Raumaneignung, um Männerorte und Frauenorte, Aktionsräume und Aktionsradien und um Orientierungsschwierigkeiten - nicht nur im Straßenverkehr. Der Aufbau des Buches folgt - zwischen einem (pardon!) etwas an die Schullandkarten des Erdkundeunterrichts der 1960er Jahre erinnernden Cover - den traditionellen Einteilungen nach Stadt und Land, wie sie sich u.a. auch in den Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS): Stadt- und Regionalsoziologie resp. Land- und Agrarsoziologie widerspiegeln. Teil II handelt von Frauenleben in der Stadt, Teil III von Frauenleben auf dem Land. Davor findet sich in Teil I ein von den Projektleitern verfasster theoretischer Bezugsrahmen und der Methodenteil, der in der fast lehrbuchhaften Beschreibung von Untersuchungsdesign und Methoden auch anderen Forschungsprojekten als Anleitung dienen kann.
Der Sammelband, dem man das Textgenre der beiden zugrunde liegenden Forschungsberichte vor allem im ersten Teil anmerkt, löst in einer in vielerlei Hinsichten beispielhaften und beispielgebenden Weise das Interdisziplinaritätsversprechen der Frauenforschung ein. Sie hatte sich selbst nie als Bindestrich-Disziplin, sondern immer schon als Querschnittwissenschaft verstanden. Innerhalb der Soziologie beanspruchte sie "A Room Of One's Own", wollte sich aber nicht in ein Frauenzimmer einsperren oder auf Frauenthemen beschränken lassen. Mit dem Konzept des weiblichen Lebenszusammenhangs wird dieser ganzheitliche Ansatz in der gelungenen Kombination von quantitativer und qualitativer empirischer Forschung, welche die Einnahme subjektiver Perspektiven mit der Erhebung objektiver Daten verknüpft und außer mit Repräsentativerhebungen und standardisierten Zeitbudgetanalysen auch mit Interviews, Tagebuchaufzeichnungen, erzählten Biographien, der "oral history", arbeitet und sich der teilnehmenden Beobachtung bedient, auch in methodischer Hinsicht realisiert.
Besonders hervorzuheben ist, dass bei der Nachzeichnung von Berufsbiographien und Mobilitätsverläufen, subjektiv erlebten Tagesabläufen und zurückgelegten Wegzeiten neben dem Raum auch die Zeit als Sozialkategorie in die Analysen einbezogen wird. Beide fügen sich nahtlos zu der Triade: Raum - Zeit - Geschlecht und brechen der genuin soziologischen Einsicht Bahn, dass wir nicht in einem immer schon vorhandenen Raum und einer vorgegebenen Zeit leben, sondern durch unser Handeln Raum und Zeit überhaupt erst schaffen, so wie auch Geschlecht in einem Prozess des "Doing Gender" permanent neu konstituiert und interaktiv hergestellt wird: Frauen- (und Männer-)leben haben nicht nur eine Biographie, sondern auch eine Geographie. Diese lassen sich als Topographie und als Soziographie, d.h. als Verbindung aus Lebenslagen, Lebensräumen, Lebensstilen und Lebensläufen, beschreiben und interpretieren.
Im Wege einer vielfach unbemerkten Versozialwissenschaftlichung und Soziologisierung fachfremder Diskurse, bei denen die Soziologie auch auf vermeintlich unsoziologische Gegenstände und nicht-soziale Phänomene angewandt wird, gewinnt die Einsicht in die gesellschaftliche Konstituiertheit und kulturelle Konstruiertheit scheinbarer Naturkonstanten und wissenschaftlich tabuisierter - und damit weiterer Forschung entzogener - Antecedens-Bedingungen über das Fach hinaus Raum. Bestanden frühere Berührungspunkte zwischen GeographInnen und SoziologInnen allenfalls in der VertreterInnen beider Fächer gleichermaßen geläufigen Chicagoer Schule und den über die Namen PARK, BURGESS, LYND etc. in den Fachgemeinschaften beider Disziplinen verbürgten "Community Studies", so zeigt sich an dem Band in mustergültiger Weise der Ertrag einer anhand der Gender-Thematik exemplifizierten fachübergreifenden Forschungskooperation. Mit ihr werden die Grenzen der jeweiligen Fächer ohne wechselseitige Berührungsängste und Kompetenzstreitigkeiten überschritten und deren Sicht- und Herangehensweisen nicht nur mit einem verschämten Seitenblick wechselseitig rezipiert. Vielmehr werden diese transdisziplinär, wie die in dem Band enthaltenen Beiträge eindrucksvoll belegen, mit beiderweitigem Gewinn angewandt und dabei die Fachgrenzen zum Verschwimmen gebracht. Wer waren die SoziologInnen, wer - was nur teilweise deutlich wird - die GeographInnen in dem Projekt? Wer weiß was? Wer beobachtet was wie? Und wie lauten die Beschreibungen und Interpretationen des Beobachteten im Fokus des jeweiligen disziplinären Horizonts? Auch das wäre, wie "Stadt - Land - Fluss", ein schönes Wissensspiel!
Der mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen versehene Band steht - anschaulich, aber in der Kapitelanordnung und der auf individuelle Zurechenbarkeit bedachten AutorInnennennung bei den einzelnen Textteilen etwas unübersichtlich - paradigmatisch für eine Annäherung wissenschaftlicher Disziplinen: die eine, die Geographie, besinnt sich auf die
Sozialität des Räumlichen, die andere, die Soziologie, auf die Räumlichkeit des Sozialen. Zur selben Zeit werden beide zunehmend gendersensibel und erkennen auch scheinbar geschlechtsneutrale Phänomene als "gendered" und "(wo)man made" und erheben sie damit zum legitimen Gegenstand weiterführender Forschung. Dass dies just zu einer Zeit allgemeiner Dekonstruktionen und Entgrenzungen geschieht, wie er als Trend neuerdings etwa unter dem Stichwort: "Spaces statt Places" beschrieben wird, in der sich dipolare Geschlechterverhältnisse immer mehr auflösen, mehrere Räume an einem Ort und viele Wirklichkeiten in der einen Welt vorstellbar werden und in Zeiten fortschreitender Pluralisierung und Virtualisierung auch die Zeit nur noch als spezifizierte Ortszeit oder Echtzeit eindeutig identifizierbar ist, wäre - nebenbei bemerkt - eine spannende wissens- und wissenschaftssoziologische Frage!
Ein neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und den durch praktizierte Transdisziplinarität erweiterten Erkenntnismöglichkeiten nicht zu unterschätzendes Verdienst des Bandes besteht darin, ein Publikationsforum auch für Forschungsarbeiten geschaffen zu haben, denen sonst vermutlich das Schicksal der systematischen Nichtzurkenntnisse anderer lesenswerter Qualifikationsschriften beschieden gewesen wäre. Der Band ist somit auch und nicht zuletzt ein Beitrag zur Förderung des - in diesem Fall überwiegend weiblichen - wissenschaftlichen Nachwuchses. Es ist zu wünschen, dass die im Selbstverlag erschienene Buchpublikation nicht im Bereich der Grauen Literatur verbleibt und der Intention der ihr zugrunde liegenden Forschungsvorhaben entsprechend über den engeren Einzugsbereich und die Fächergrenzen hinweg - vor allem auch von NachwuchswissenschaftlerInnen - rezipiert wird.    
Autorin: Doris Lucke

Quelle: Erdkunde, 59. Jahrgang, 2005, Heft 1, S. 77-78