Matthias Krings and Editha Platte (eds.): Living with the Lake. Perspectives on Cultures, Economies and Histories of Lake Chad. Köln 2004 (Studien zur Kulturkunde 121). 293 S.

Das Werk fasst Ergebnisse zusammen, die aus dem Sonderforschungsbereich (SFB) 268 der DFG an der Universität Frankfurt hervorgegangen sind ("Kulturentwicklung und Sprachgeschichte im Naturraum Westafrikanische Savanne").
Einige allgemeine kritische Anmerkungen vorweg: Zunächst trifft der Titel insofern nicht exakt, als der Fokus der meisten der insgesamt 13 Beiträge auf dem nigerianischen SW-Teil der Tschadsee-Region liegt und insbesondere der tschadische Anteil, der ja fast 50% ausmacht, dabei etwas stiefmütterlich wegkommt. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb man trotz ausführlich zitierter Literatur manche durchaus gehaltvolle Publikationen zum Thema von Autoren vermisst, um nur etwa Y. COPPENS, H. HAGEDORN, D. JÄKEL, J.-P. LEBEUF, A. N'GABA-WAYE, T. TILLET oder F. TREINEN-CLAUSTRE zu nennen.
Ein weiterer Punkt wäre die Kartographie: Fast jeder Beitrag hat - trotz SFB - seine individuelle Karte, und viele davon sind kartographisch unausgegoren: bisweilen ohne Quellenangabe, ohne Maßstab, ohne ausreichende Legende oder z.T. unleserlich stark verkleinert und in ungenügender Grauton-Flächendifferenzierung. Die Autoren wiederholen sich, wenn es etwa um die Entwicklung des Tschadsees seit 10.000 BP oder um die Entdeckungsgeschichte geht. Man kann erraten, dass jeweils dasselbe bei alternativen Schreibweisen im gleichen Beitrag gemeint ist (z.B. Abeji/Ebeji River oder Awlad Suleyman/Sliman). Und schließlich sei noch die Frage gestattet: Warum in Englisch? Für DFG und Universitätskarrieren wäre Deutsch angebracht, und für den Tschadsee-Raum als Ganzes wäre Französisch zumindest ebenbürtig. Also vor allem für den englischsprachigen nigerianischen Counterpart?
Genug der kritischen Anmerkungen! Insgesamt ist das Werk nämlich eine hervorragende Aufarbeitung und Zusammenfassung bisheriger Forschungen und Kenntnisse über
den Tschadsee, eine informative Darstellung neuester Forschungsergebnisse des SFB 268 zur Geschichte und Vorgeschichte des Raumes und eine sehr lebendige und gehaltvolle Schilderung der ökologischen und sozio-ökonomischen Entwicklungen der Gegenwart.
Aufgrund der geringen Tiefe des Beckens sowie der Klima-Oszillationen im Einzugsbereich und neuerdings auch wegen umfangreicher Bewässerungsprojekte schwankte die Größe des Sees beträchtlich: über 300.000 km2 um ca. 7000 v. Chr. (= Mega-Tschad oder Paläo-Tschadmeer), noch fast 25.000 km2 um 1960, dann nach den Sahel-Dürrekatastrophen minimal 1.500 km2 (= Mikro-Tschad) und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun wieder um 9.000 km2. (Die Angaben sind allerdings etwas uneinheitlich, vgl. z.B. THIEMEYER S. 41 und S. 47).
Dieser ökologischen Instabilität mussten die Menschen sich anpassen, was als Stimulans dafür gelten kann, dass die Region innerhalb Afrikas als dynamisches Aktions- und Innovationszentrum in historischer und prähistorischer Zeit zu sehen ist (BREUNIG), als hydrologisch-kulturelles Phänomen vergleichbar dem Nil und Mesopotamien. Salzhandel, Fischreichtum - besonders leicht in Regressionszeiten zugänglich - und die dann freiwerdenden fruchtbaren Ackerflächen am Tschadsee zogen und ziehen noch heute immer wieder Volksgruppen aus unterschiedlichen Richtungen an. In mehreren Untersuchungen werden die speziellen Hintergründe und Probleme für eine Reihe solcher Immigranten detailliert und sachkundig aufgezeigt: für die Araber (BRAU-KÄMPER), die Hausa (KRINGS), die Woodabe (SCHAREIKA, mit sehr instruktiven Analysen über die Mentalität dieses friedfertigen Rinderhirten-Volkes) oder die Igbo (FREYER).
Es ist geradezu spannend (und bisweilen amüsant!) zu lesen, welche politisch-administrativen, ökonomischen, kulturellen, sozialen, religiösen und anderen Arten von Konflikten und Situationen sich daraus ergeben, dass innerhalb der letzten 25 Jahre auf dem trockengefallenen Seeboden mehrere 100 Siedlungen entstanden sind (allein etwa 80 im SW-Teil), manche mit mehr als 5.000 Einwohnern, wobei z.B. in dem Ort Jibrillaram 1998 bei ca. 4.000 Einwohnern 11 ethnische Gruppen mit 14 unterschiedlichen Sprachen registriert wurden (PLATTE). Man wird bisweilen an die mittelalterliche Ostkolonisation in Mitteleuropa erinnert, wo Feudalherren zur Machterweiterung Siedler anwarben, oder an die "Frontier" der Pioniere im Wilden Westen Amerikas, wo man genauso zu schnellem Glück und Reichtum zu kommen hoffte - mit recht ähnlichen negativen Begleiterscheinungen.
Die Kulturgeschichte des Tschadsee-Raumes lässt sich allerdings sehr weit zurückverfolgen. Aus der Zeit des Tier-Mensch-Übergangsfeldes sind erst jüngst Australopithecinen-Reste entdeckt worden. (Dabei blieb hier der umstrittene Tchadanthropus uxoris unerwähnt, der sogar auf staatlichen Briefmarken verewigt ist.) Schwerpunkte der prähistorischen Untersuchungen liegen aber zum einen in den Entwicklungen in der Zeit des sich wandelnden Mega-Tschad, in der bei Trockenphasen neolithische Rinderhirten aus der Sahara einwanderten (BREUNIG). Ursprünglich Nomaden, ließen sie sich in der Gajiganna-Kultur (1800-400 v. Chr.) in festen Siedlungen nieder, gingen zum Ackerbau und zur sozialen Differenzierung (mit Herrschaftsstrukturen) in einer arbeitsteiligen Gesellschaft über (MAGNAVITA).
Nach einem deutlichen Hiatus folgt ab 600-500 v. Chr. die Eisenzeit mit quasi urbanen Siedlungen. Es wird diskutiert, ob nicht die Fähigkeit, mit diesem revolutionär-innovativen Werkstoff umgehen zu können, ein Grund für das Erreichen individueller Machtpositionen, d.h. die Entwicklung von Herrscherpersönlichkeiten, gewesen sei. Doch erscheint dies fraglich, wenn man sich die gesellschaftliche Stellung und das Ansehen der Schmiede in den zentral- und nordafrikanischen Kulturen vor Augen führt: Sie gelten als "outcasts", wie Zigeuner, gefürchtet und verachtet zugleich, eher dienend als herrschend.
Um 870 n. Chr. trat mit der Expansion des Islam die Region in das Geschichtsbewusstsein (vgl. SEIDENSTICKER-BRIKAY mit ausführlichen wörtlichen Literaturzitaten). Es bildeten sich - mit wechselnden, meist undeutlichen Herrschaftsgrenzen - einzelne Königreiche, die z.T. bis in die Kolonialepoche überdauerten. Nachwirkungen des alten Feudalsystems stehen oftmals noch im Widerspruch zum modernen Staats- und Rechtsverständnis.
Die Klima- und Seespiegelschwankungen haben das historische Geschehen im Tschadsee-Raum in starkem Maße mitbestimmt. Sie können allerdings nicht alle Entwicklungen verständlich machen (BRUNK u. GRONENBORN). Wie sehr sich natürliche und kulturelle Faktoren verzahnen, kommt z.B. recht anschaulich und nachvollziehbar in den Beiträgen über die Misere des nigerianischen "South Chad Irrigation Project" (ADAM) oder über den Wandel der Fischereiwirtschaft (KRINGS) zum Ausdruck. Die heutige Situation mit erheblicher ethnischer Diversität und kultureller Vielfalt, mit Hausa als Verkehrssprache und Islam als dominierende Religion, ist gewiss nur eine Übergangsphase in einem extrem instabilen Ökosystem. Das gegenwärtige Stadium aber in seinen Grundzügen eingehend analysiert und auch in seinem geschichtlichen Werdegang recht lebendig dargestellt zu haben, ist das große Verdienst dieser Gemeinschaftsarbeit.
COPPENS, Y. (1966): Le Tchadanthropus. In : L'Anthropologie 70 (1-2), 5-16.
-    (1969): De l'archéologie à la paléogéographie. In: Bull. Inst. Fr. d'Afrique Noire A, 31 (1), 263-269.
HAGEDORN, H. (1972): Die Polder am Tschadsee. In: BRAUN, G. (Hg.): Räumliche und zeitliche Bewegungen. Würzburger Geogr. Arbeiten 37. Würzburg, 403-428.
JÄKEL, D. (1984): Rainfall patterns and lake level variations
at Lake Chad. In: MÖRNER, N. A. u. KARLÉN, W. (Hg.): Climatic Changes on a Yearly to Millennial Basis.
Dordrecht, 191-200.
LEBEUF, J. P. (1962): Archéologie tchadienne. Les Sao du
Cameroun et du Tchad. Paris.
LEBEUF, J. P. u. MASSON DETOURBET, A. (1950): La civilisation du Tchad. Paris.
N'GABA-WAYE, A. (1994): Environnement et peuplement au pléistocène dans le bassin du Lac-Tchad et les régions
adjacentes: Cameroun, Niger, Nigeria, RCA, Tchad. Europäische Hochschulschriften: Serie 38. Archäologie 47. Frankfurt a.M.
TILLET, T. (1983): Le paléolithique du bassin tchadien
septentrional (Niger - Tchad). Paris.
TREINEN-CLAUSTRE, F. (1982): Sahara et Sahel à l'âge du fer: Borkou, Tchad. Mémoires de la Société des Africanistes 7. Paris.    
Autor: Baldur Gabriel

Quelle: Erdkunde, 59. Jahrgang, 2005, Heft 1, S. 84-85