Vivien Lo: Wissensbasierte Netzwerke im Finanzsektor. Das Beispiel des Mergers & Acquisitions-Geschäfts. Wiesbaden 2003. 280 S.
Mit ihrer Dissertation zu wissensbasierten Netzwerken im Finanzsektor legt Vivien Lo eine Arbeit vor, die ein wirtschaftsgeographisch äußerst aktuelles Thema anspricht. Sie fragt nach der Koordination des zwischenbetrieblichen Wettbewerbs und seiner Bedeutung für die Leitungserstellung in einem Segment, das aus zweierlei Gründen für unsere Ökonomie als paradigmatisch gelten kann: Erstens rücken mit Finanz- und finanznahen Dienstleistern unternehmensorientierte Dienstleistungen in den Mittelpunkt, ein Wirtschaftsbereich, dem bei der Formation globaler Stadtregionen eine Schlüsselrolle zukommt. Und zweitens handelt es sich um wissensintensive Dienstleister, einer nicht immer leicht abgrenzbaren Gruppe von Unternehmen, die als Symbol für den Übergang zu einer "Wissensökonomie" schlechthin gilt.
Vivien Lo betrachtet diesen Wirtschaftsbereich aus einer wirtschaftsgeographischen Optik und stellt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der sozialen Eingebundenheit von zwischenbetrieblichen Beziehungen und "räumlicher Nähe". Kurzum, sie geht der These nach, "dass die räumliche Verteilung und die Organisation des wissensintensiven Dienstleistungssektors abhängig sind von den Zugangsmöglichkeiten zu Wissen" (S. 22). Im Anschluss an ein einführendes Kapitel zur Bedeutung wissensintensiver Dienstleister, beschäftigt sich die Autorin zunächst ausführlich mit den theoretischen und konzeptionellen Grundlagen ihrer Arbeit - dem Wissensbegriff (Kap. 2), Ansätzen zur Erklärung von Unternehmensnetzwerken (Kap. 3), der besonderen Rolle von Vertrauen in Netzwerken (Kap. 4) und der Bedeutung unterschiedlicher Formen von Nähe (Kap. 5). Die Brücke zwischen konzeptionellem und empirischem Teil des Buches bildet Kapitel 6, das den Wissensaustausch in Netzwerken von Finanzdienstleistern thematisiert, im Dialog mit der theoretischen Diskussion Forschungsthesen ableitet und schließlich die eigene empirische Vorgehensweise darlegt und rechtfertigt. Nach einem informativen Exkurs in den deutschen M&A Markt in Kapitel 7, stellt die Autorin ihre eigenen Forschungsergebnisse vor (Kap. 8) und konfrontiert diese abschließend in einem zusammenfassenden Fazit mit den eingangs formulierten Forschungsthesen (Kap. 9).
Die Ergebnisse der Untersuchungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) M&A-Netzwerke weisen gerade mit Blick auf die Mobilisierung von Wissen Besonderheiten auf. Sie sind in der Regel nicht vom Kunden, sondern von einem der beteiligten Dienstleister gesteuert und stellen aufgrund der Komplexität der Netzwerkstrukturen hohe organisatorische Anforderungen; (2) Wissensmobilisierung erfolgt überwiegend nicht durch Kodifizierung, sondern über persönlichen Austausch im internen Wissensmanagement; (3) aufgrund der sich ständig verändernden Rahmenbedingungen sind Flexibilität und kontinuierliche Anpassungsleistungen notwendig; (4) die beteiligten Unternehmen versuchen der dadurch entstehenden Unsicherheit durch die Etablierung von Vertrauensbeziehungen zu begegnen, Vertrauen in Personen und Institutionen sind für die Funktionsfähigkeit der Netzwerke deshalb unverzichtbar; (5) dauerhafte geographische Nähe spielt für den Wissensaustausch in M&A-Netzwerken eine weniger wichtige Rolle, entscheidend ist vielmehr die Ermöglichung zeitlich begrenzter Kopräsenz, d. h. eine hohe Mobilität der Dienstleister und ein Standort, der diese Mobilität sicherstellt. Die Autorin ergänzt deshalb den klassisch geographisch kodierten Nähebegriff um weitere in der wissenschaftlichen Literatur angebotene Näheformen und kommt zu dem Schluss, dass insbesondere "professionelle Nähe" und auch "kulturelle Nähe" den personengebundenen Austausch von kontextgebundenem Wissen auch über größere räumliche Entfernungen sicherstellen kann.
Auch wenn ein Großteil dieser Punkte nicht wirklich überrascht, so bietet aus meiner Sicht insbesondere die Relativierung der Rolle räumlicher Nähe im Innovationsprozess und beim Transfer von Wissen interessante Anknüpfungspunkte für eine theoretisch informierte Auseinandersetzung mit wissensbasierten Netzwerken im Finanzsektor. Für ein derartiges Unterfangen warf die Lektüre des anregenden Buches allerdings einige Fragen auf, die im Folgenden kurz diskutiert werden sollen.
Die Autorin erhebt den Anspruch theoretische Überlegungen empirisch zu überprüfen. Hier ist zunächst kritisch anzumerken, dass theoretisch-konzeptionelle Reflexion und Empirie sehr ungleich verteilt sind. Die empirische Arbeit beginnt mit einem Exkurs in den deutschen M&A-Markt in Kapitel 7, die eigentliche empirische Untersuchung erst im Anschluss auf Seite 169 von insgesamt 239 Seiten Text. Darüber hinaus beschlichen mich beim Lesen des empirischen Teils Zweifel, ob der Weg der Erkenntnisgewinnung mit den gewählten methodischen Instrumenten übereinstimmte. Auf den ersten Blick scheint sich Lo für eine qualitativ-interpretative Vorgehensweise entschieden zu haben (Expertengespräche, Leitfadeninterviews). Die qualitative Sozialforschung ist für die Fragestellung (persönliche Beziehungen, Vertrauen, embeddedness) in der Tat besser geeignet. Allerdings setzt die Autorin ihren Anspruch diesbezüglich nicht immer um. Mit dem Interviewmaterial wird z. B. eher oberflächlich umgegangen, es fehlt v. a. an der Kontextualisierung der zitierten Interviewpassagen. So werden zwar die Interviewpartner mit Kodes versehen, eine Liste der Interviews mit zusätzlichen Informationen zur Person und der Interviewsituation sucht man dagegen vergeblich. Darüber hinaus fehlt es im zitierten Interviewmaterial über die üblichen Floskeln hinaus an konkreten Beispielen dafür, dass "informelle Kontakte" wirklich zu Informations- und Wissenstransfer für die Interviewpartner führten. Der im Anhang beigefügte "Leitfaden" lässt vermuten, dass in solchen Fällen nicht näher nachgefragt wurde. Er erinnert eher an einen standardisierten Fragebogen (z. B. geschlossene Fragen wie "Welche Einschätzung vertreten Sie: Wird im M&A-Bereich in jedem Projekt eine neue Lösung für den Kunden geschaffen oder handelt es sich eher um standardisiertes Wissen?" [S. 245]). Hier stellt sich die Frage, wie auf diese Weise implizitem Wissen nachgespürt werden kann.
Eine zweite kritische Anmerkung bezieht sich auf den in der Arbeit verwendeten Wissensbegriff. Vivien Lo unterscheidet mit Verweis auf die einschlägige Literatur implizites (nicht-kodifiziertes) und explizites (kodifiziertes) Wissen. Ersteres ist in "soziale Beziehungen eingebettet" und daher weniger einfach transferierbar, letzteres ist dekontextualisiert und deshalb mobiler. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Andererseits machen derartige Aussagen skeptisch und fordern zu Gegenfragen heraus. Ist kodifiziertes Wissen nicht ebenfalls in soziale Beziehungen eingebettet und bestimmten Akteuren nur in bestimmten Kontexten zugänglich? Vielleicht wäre es überhaupt an der Zeit mit dieser klassischen Unterscheidung kritischer umzugehen. Nachdenklich macht auch die Definition von Vertrauen als "Mechanismus sozialer Komplexität" (S. 76). Von außen betrachtet können abgeschottete soziale Netze durchaus unübersichtlich wirken. Für beteiligte Akteure reduziert Vertrauen in Personen oder in abstrakte Expertensysteme soziale Komplexität. Sonst müsste man sich bei jeder Bezahlung mit der Kreditkarte fragen, was denn der jeweilige Gegenüber mit der Unterschrift anfängt oder ob auch wirklich nur der Betrag belastet wird, den man bezahlen möchte. Vertrauen reduziert als "blindes Vertrauen" Komplexität sogar in einer Weise, die kontraproduktiv wird. Und hier lässt sich der Bogen zu M&A und zu kodifiziertem Wissen schlagen. Es gibt in Teilen der sozialwissenschaftlichen Literatur ein zunehmendes Interesse daran, wie theoretische Marktmodelle und Abstraktionen (kodifiziertes Wissen) die alltäglichen Entscheidungen ökonomischer Akteure beeinflussen. So wie in anderen Bereichen wissensintensiver Dienstleistungen dürften auch die Architekten ausgefeilter M&A-Deals und Netze nach Schablonen und Blaupausen verfahren. In solchen Fällen wird alles das, was nicht ins Bild passt, z. B. Branchenunterschiede, schwer miteinander zu vereinbarende Organisationsstrukturen, frühere Beispiele misslungener Mergers, zugunsten der im jeweiligen Augenblick vorherrschenden Blaupause ausgeklammert, mit dem meist unbeabsichtigten Effekt, dass nicht selten Werte vernichtet, Arbeitsbeziehungen aus dem Gleichgewicht gebracht und gewachsene Unternehmen zerstört werden. Das Scheitern dieser Modelle und Blaupausen selbst ist natürlich wiederum ein Beleg dafür, dass die Konstruktion sozialer Netze zur Abwicklung von M&A-Deals nie ungestört verläuft und immer unbeabsichtigte Verwicklungen entstehen. Auch wenn eine vertiefende Diskussion dieser Punkte den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte, sie hätte durchaus von einem etwas kritischeren Zugang profitieren können.
Die dritte Anmerkung betrifft den Umgang mit dem Thema (räumliche) Nähe. Eines der wichtigsten Ergebnisse des Buches ist wie bereits erwähnt die Relativierung der Rolle räumlicher Nähe im Innovationsprozess und beim Transfer von Wissen. Lo erkennt die Bedeutung von Face-to-Face-Kommunikation beim Austausch impliziten Wissens ausdrücklich an, weist aber richtigerweise darauf hin, dass nicht nur im M&A-Bereich körperliche Nähe auch temporär hergestellt werden kann, d. h. durch Mobilität der beteiligten Akteure und temporäre Formen des globalen Mitarbeiterkontakts. Global agierende Unternehmen stehen vor der Herausforderung, kontextgebundenes Wissen in anderen Organisationsteilen und an anderen Orten verfügbar zu machen, ohne dass dieses allzu einfach von anderen Unternehmen aufgegriffen werden kann. Deshalb wird kontextgebundenes Wissen nicht nur durch Kodifizierung mobilisiert, sondern auch durch Personalisierungsstrategien, die von der Bildung globaler Projektgruppen, virtueller Teams, der Organisation globaler Trainings und Konferenzen bis zu dauerhafteren Formen wie der Entsendung von Mitarbeitern ins Ausland reichen. Auch wenn man sich vom Buch diesbezüglich ausführlichere Angaben gewünscht hätte, Vivien Lo zeigt, dass M&A-Akteure physische Nähe auf diese Weise temporär herstellen können. Zu Recht weist die Autorin deshalb darauf hin, dass "nicht-räumlichen" Formen der Nähe eine entscheidende Bedeutung zukommt. Eigentlich versteckt sich dahinter nichts anderes als das "embeddedness-Argument", d. h. die Anerkenntnis, dass ökonomischer Austausch in soziale Beziehungen eingelassen ist und persönliches Vertrauen auf gemeinsam anerkannten Regeln, Konventionen und Routinen beruht, ob das nun die gleiche Sprache, eine bestimmte gemeinsam vertretene Unternehmensphilosophie, informelle Geschäftspraktiken oder professioneller Ethos sind. Aus meiner Sicht würde es deshalb mehr Sinn machen von "sozialer Nähe" zu sprechen. Die von der Autorin aus der Literatur entliehenen Nähebegriffe (kulturelle, organisationale und professionelle Nähe) stiften mehr Verwirrung, als dass sie zur Klärung beitragen könnten. Das insbesondere auch deswegen, weil "Kultur" im Text immer wieder sehr traditionell kulturalisierend verwendet und darüber hinaus auch territorialisiert wird (Nationalstaat, abgegrenzte Region). Der hier durchscheinende Dualismus zwischen Ort und Raum, zwischen Lokalem und Globalem verkennt, dass wir es im globalen Zeitalter zunehmend mit "räumlich hybriden" Organisationsformen zu tun haben: neben lokale Cluster und globale virtuelle Netze treten verstärkt translokale Gemeinschaften (epistemic cultures, communities of practice, transnationale Diasporas, hypermobile Wissensnomaden etc.).
Diese Anmerkungen sind ausdrücklich als konstruktive Kritik gedacht. Vivien Los anregendes Buch ist all denjenigen zu empfehlen, die sich über die wissenschaftlichen Disziplingrenzen hinweg mit dem Thema "wissensintensive Dienstleistungen" beschäftigen. Die Leserin/der Leser erhält eine fundierte Aufarbeitung der wichtigsten theoretischen Grundlagen und zumindest eine erste empirische Überprüfung zentraler Konzepte. Damit legt das Buch eine Basis für die weitere wirtschaftsgeographische Auseinandersetzung mit einer zunehmend globalisierten Wissensökonomie.
Autor: Christian Berndt