Georg Glasze: Die fragmentierte Stadt. Ursachen und Folgen bewachter Wohnkomplexe im Libanon. Opladen 2003.

Diese Doktorarbeit beginnt in luftigen Höhen. Als der Autor 1998 während eines Fluges im Bordmagazin der libanesischen Fluggesellschaft Werbung für Villenkomplexe und Apartmentanlagen in den Vororten von Beirut sah, "reifte der Entschluss, die Ursachen und Folgen dieser Siedlungsentwicklung (...) zu analysieren" (S. 15).

Georg Glasze ist überzeugt, dass bewachte Wohnanlagen oder Gated Communities zu einem der in den Medien am meisten beachteten städtebaulichen Phänomene der 1990er Jahre gehören. Die mediale Bedeutung wird im einleitenden Kapital (I. 1) gezeigt anhand dreier beispielhafter Zitate von Zeitungsartikeln. Das wissenschaftliche Schwergewicht des Themas sucht der Verfasser zu unterstreichen, indem er anführt, dass Gated Communities inzwischen auch zum Stoffgebiet einzelner stadtgeographischer Lehrbücher gehören (S. 17). Damit ist die Präsenz des Themas in den Printmedien und sein Eingang in die Lehrbücher eingangs dargestellt, was diese Vorhandenheit jedoch mit seiner Qualität als Forschungsgegenstand zu tun hat, bleibt ungesagt. Georg Glasze führt schon in der Einleitung seiner Arbeit den Leser sprachlich elegant auf sein Terrain. Jedoch fehlt eine inhaltliche Stringenz und vor allem Strenge der Gedankenführung im Buch von Anbeginn. Es bleiben - und das scheint mir für eine Dissertation überraschend nachlässig - der Forschungsansatz und vor allem die Forschungsfrage lange Zeit unbenannt. Zwar erfahren wir, dass Gated Communities in den USA ein viel und gut untersuchtes Phänomen sind. Warum dies aber mit welcher Zielrichtung nun eine Untersuchung im Libanon als wissenschaftlich zwingend und sinnvoll erscheinen lässt, verrät uns Georg Glasze am Beginn seiner Untersuchung nicht.
In Kapitel I und II wird erläutert, was ein Ghetto, eine Enklave, eine Immigranten- Enklave und eine Zitadelle im Vergleich sind. Hierfür wird der Stand der Literatur zu bewachten Wohnanlagen vor allem in den USA diskutiert. Anschließend erfolgt ein Überblick über die für das vorliegende Werk wesentliche "Fallstudie Libanon" (S. 31ff). Die gegebene Begründung, warum der Libanon als Untersuchungsregion gewählt wird, ist knapp. Da man unter der "Libanisierung" eines Staates den Prozess des Zerfalls der staatlichen Einheitlichkeit und des Gewaltmonopols verstehe, so führt Glasze aus, sei der Libanon ein guter Untersuchungsraum um die Entstehung und gesellschaftliche Funktion bewachter Wohnanlagen unter den Bedingungen der Fragmentierung zu untersuchen. Kapitel II möchte dem Leser mögliche "Erklärungsansätze zur Entstehung bewachter Wohnkomplexe" näher bringen. Dies geschieht nach dem Strohmann-Prinzip: einzelne denkbare Erklärungsansätze werden nacheinander vorgestellt und der Reihe nach verworfen. Diese Art des intellektuellen Aufbaus und Abbaus von Argumentationen ist ein durchsichtiges Manöver. Vor allem führt es in dieser Arbeit zu wenig. Im Ergebnis stellt Georg Glasze nach seinem Vorbeigang an bestehenden Erklärungsansätzen für die Entstehung von Gated Communities (z. B. ökonomische Ursachen in Global Cities/Dual Cities, veränderte Wohnpräferenzen, territoriale ClubÖkonomien, Staatsversagen) ein eigenes "forschungsleitendes Modell" vor, das so blass ist, dass es hier nur mit Mühe nachgezeichnet werden kann. Der Urban-Governance-Ansatz des Autors reduziert sich auf die inhaltliche Aussage, wonach "Akteure der Nachfrage", "Akteure des Angebots" mit "staatlichen/parastaatlichen Akteuren" bei der Herstellung von überwachten Wohnanlagen in Wechselbeziehungen stehen. Gated Communities entstehen also aufgrund des Zusammenspiels von Nachfrage, Angebot und Staat. Hierbei definiert der Verfasser ‚Governance' wie folgt: "Im forschungsleitenden Modell wird als governance das Muster von (individuellen und kollektiven) Akteuren und deren Interaktionen bezeichnet, wie es sich in einer spezifischen historischen Situation in einer spezifischen Region darstellt" (S. 48f). Mit dieser sicherlich nicht falschen, jedoch auch nicht sehr überzeugenden Definition von Governance und der Bestimmung seines "forschungsleitenden Modells" wird Georg Glasze nun folgende beiden Fragestellungen untersuchen: 1. Was sind die Ursachen der Entstehung von bewachten Wohnkomplexen im Libanon? 2. Was sind die Folgen der Separation bestimmter gesellschaftlicher Gruppen für individuelle Lebenschancen und die Verwirklichung eines demokratischen und sozial gerechten Gemeinwesens? Während die erste Frage auf Analytisches zielt, ist die zweite Frage auf Normatives gerichtet. Sie nimmt sich explizit die Bewertung von Gated Communities unter dem Blickwinkel der sozialen Gerechtigkeit und politischen Teilhabe vor.
Die empirischen Untersuchungsmethoden sind ausgesprochen vielfältig. Der Verfasser unternimmt das anspruchsvolle Vorhaben einer Triangulation sozialwissenschaftlicher (Befragung, Beobachtung) und geowissenschaftlicher (Kartierung, Luftbildauswertung) Methoden. Hierfür hat er während seines insgesamt zehnmonatigen Aufenthalts im Libanon 42 qualitative Experteninterviews mit Architekten, Bauträgern, Journalisten und Behörden geführt, 25 qualitative Bewohnerinterviews in 18 bewachten Wohnanlagen des Libanons, vereinzelt Gruppendiskussionen, Beobachtungen und Dokumentenanalysen erstellt. Zudem wurden in 15 bewachten Wohnkomplexen 653 standardisierte Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern durchgeführt. Georg Glasze hat also eine mehr als reichhaltige Empirie produziert. Das gesammelte Daten-, Karten- und Interviewmaterial ist im Detail eindrucksvoll.
Glasze schildert denn auch auf ca. 180 Seiten (Kapitel IV und V) eindrucksvoll und elegant die Entstehung und Struktur bewachter Wohnkomplexe im Libanon. Hierbei wird deutlich, dass es vorwiegend zwei chronologische Phasen mit je eigenen Ursachengefügen der Verbreitung dieser Wohnform im Libanon gibt. Von 1976 bis 1990 in den Zeiten des Bürgerkriegs ist die Diffusion bewachter Wohnformen ganz der Sondersituation militärischer Unruhen geschuldet. Aufgrund der Zerstörung Beiruts, der Kämpfe religiös motivierter Milizen etc. flüchten sich viele Libanesen der gehobenen Mittelschicht - wenn sie nicht den Weg ins Exil wählen - in das Refugium einer privat errichteten und bewachten Wohnanlage. Dort finden die Zuziehenden nicht nur relative Sicherheit vor Überfällen und Kriminalität, sondern auch aufgrund privat finanzierter Notstromgeneratoren und eigens gebohrter Brunnen eine halbwegs regelmäßige Wasser- und Stromversorgung vor. Es ist die Sondersituation des militärischen Krisengebietes Libanon, die in den späten 1970er und 1980er Jahren zu der Verbreitung von bewachten Wohnkomplexen im Lande führt. Diese haben ursprünglich mit dem US-amerikanischen Diskurs zu Gated Communities wenig gemein. Erst in den 1990er Jahren, mit dem Ende des Bürgerkrieges, treten im Libanon Verhältnisse ein, die eine internationale Vergleichbarkeit der Entwicklung zumindest tendenziell überhaupt erst als möglich erscheinen lassen. Als eine zweite Phase der Verbreitung bewachter Wohnanlagen im Libanon identifiziert Georg Glasze deshalb die 1990er Jahre, die nun nicht mehr unter dem Vorzeichen der Notgemeinschaften des Bürgerkrieges stehen, sondern sich zu Lifestyle-Oasen einer gebildeten, wohlhabenden, international orientierten Mittelschicht des Landes entwickeln. Bewachte Wohngebiete entstehen im befriedeten Libanon vorwiegend als private Vororte im Umland von Beirut und Trablous. Sie sind Träger der Suburbanisierung und verdanken ihre Entstehung den nun gehobenen Wohnansprüchen an Versorgung, Infrastrukturausstattung und Sicherheit von Remigranten, Ausländern und wohlhabenden Suburbaniten. In beiden Fällen und Phasen, sowohl den 16 Jahren des Bürgerkrieges wie auch der Dekade danach, sind solche privaten Wohnanlagen im Libanon jedoch nur möglich, weil die laisser-faire-Politik des libanesischen Staates strenge Formen des Planungsrechts weder kennt noch umsetzt. Als segmentäre, klientelistisch organisierte Gesellschaft verfügt der Libanon - so führt der Verfasser überzeugend aus - kaum über eine stark einschränkende öffentliche Hand, die privaten Initiativen enge Grenzen setzt. Diese wirtschaftsliberale Haltung war einst auch ein Grundstein für die Blüte des Libanon als vormaliger Schweiz des Orients; sie könnte und soll auch wieder eine Leitlinie für die ökonomische Erneuerung und den Wiederaufbau des Libanon zu einem Tourismuszentrum der vorderarabischen Welt sein.
Georg Glasze ist ein wunderbarer Kenner des Landes. Wunderbar sind auch seine erzählerischen Fähigkeiten, die er einsetzt, um die Grundzüge des Libanon in Bezug auf die Wohnbau- und Siedlungsentwicklung zu erläutern. Deshalb ist das Lesen der empirischen Teile der Doktorarbeit zu Teilen ein großer Genuss. Gleichzeitig jedoch ist es streckenweise unbefriedigend, der Narration des Autors zu folgen. Denn analytisch bleibt in dieser Arbeit manches im Dunkeln. So fehlt der chronologischen Darstellung des Ausbreitungsprozesses von bewachten Wohnkomplexen im Libanon oftmals der gedankliche rote Faden. Die Beschreibung des Diffusionsprozesses folgt nicht wirklich einem "forschungsleitenden Modell", wie Glasze eingangs verspricht. Stattdessen erfolgt eine am Fortgang der Zeit orientierte Erzählung, die nicht immer eine dichte Beschreibung ist. Seitenweise wirkt die Darstellung des überbordenden empirischen Materials auch ungeordnet, weil die Systematik der gewählten Darstellung sich nicht immer erschließt. Vor allem die Tiefe der Auswertung gerade der qualitativen Interviews ist oftmals nicht zu erkennen. Zu oft beschränkt sich der Autor darauf, die Inhalte und Zitate der Interviews zu paraphrasieren. Eine wirkliche Interpretation, die darüber hinausreicht, ist selten sichtbar. Dies wird ebenfalls deutlich in der Darstellung des Werbematerials und der Prospekte der Bauträger. Geradezu oberflächlich erscheinen manche Aussagen zur Wiedergabe der Inhalte der Werbeprospekte neuer Wohnanlagen an der Peripherie von Beirut (S. 162 ff). Ebenso sind die Passagen zu den vermeintlichen Sozialisationseffekten, die das Aufwachsen in bewachten Wohnanlagen für Kinder und Jugendliche mit sich bringen kann, blasse Beschreibungen. Hier, wo es um mögliche individuelle und gesellschaftliche Folgen bewachter Wohnanlagen geht, findet eine reine Darstellung des von den Interviewten Gesagten statt. So journalistisch gekonnt die Passagen hierzu sind, leicht zu erkennen ist die Auswertung, die eigene analytische Leistung des Autors nicht.
Diesen Schwächen der Arbeit stehen auch deutliche Stärken gegenüber. Mit Umsicht schildert der Verfasser Wohnbiographien einzelner befragter Haushalte. Planungsrechtliche und -institutionelle Gründe und Grundlagen der Siedlungsentwicklung im Libanon der 1990er Jahre beschreibt Georg Glasze ausführlich und eindrücklich (S. 190 ff). Es ist so eine leichtgängige Erzählung, die ein anregendes Bild, assoziativ, vom Libanon entwirft. Vielfältig und im Detail interessant ist die Empirie. Und dieser Fähigkeit zur Leichtigkeit der Beschreibung und geschickten Zusammenstellung des Materials gilt großer Respekt. Ein theoriegeleiteter roter Faden wird jedoch nicht stringent genug geknüpft in dieses breite Gewebe aus 25 Jahren Siedlungsgeschichte im Libanon.
Insgesamt liegt eine materialreiche Doktorarbeit vor, keine nachdenkliche Forscherarbeit. Die Dissertation zeigt einmal mehr: Eine umfassende Empirie ist nicht nur - als aufwändig produzierte - eine Leistung, sondern auch eine Versuchung. Die Verlockung der Daten und Details, der Zahlen und Interviewzitate, bauen sich nur allzu leicht auf zu einer Flut der Information. Das Wissen, mehr noch, die Erkenntnis wächst nicht notwendig im Gleichschritt mit der Empirieflut. Aufgehäuftes Informationsmaterial, Sequenzen von Beispielen für Fallstudien und Interviews, Zahlen, Auswertungsmethoden und -schritten verschütten die Fragestellung nur zu leicht. Am Ende wurde vieles präsentiert. Zu befürchten ist jedoch, dass davon dem Leser nur Weniges als wissenschaftliche Neuerung im Gedächtnis bleiben könnte. Denn Georg Glaszes wissenschaftliche Fragestellung steht in der Gefahr, in Schönheit zu sterben in der eigenen Datenflut.
Und ein letzter Gedanke noch zum allerersten der Arbeit: Der Titel des Buches ist irreführend. Denn um "Die fragmentierte Stadt" geht es in dieser Untersuchung nicht. Weder Städte noch eine Stadt werden untersucht, sondern ein ganz spezielles räumliches und soziales Segment des Wohnungsmarktes, das im Libanon ca. ein Prozent des Wohnungsbestandes ausmacht. Es ist schlicht eine Überhöhung und verzerrte Ankündigung des klar eingegrenzten Themas, wenn dieses im Obertitel als allgemeine stadtgeographische Arbeit ausgewiesen wird. Das Buch sagt hingegen treffend im Untertitel, worum es geht: um bewachte Wohnkomplexe im Libanon.
Autorin: Ilse Helbrecht

Quelle: geographische revue, 7. Jahrgang, 2005, Heft 1/2, S. 116-120