Jens Kirsch: Geographie des deutschen Verbandswesens. Mobilität und Immobilität der Interessenverbände im Zusammenhang mit dem Regierungsumzug. Münster 2003. 328 S.
Ich darf vorweg betonen, dass ich diese Dissertation als eine originelle, interessante und kenntnisreiche Arbeit ansehe. Sie behandelt ein wichtiges Thema, das in der deutschen Geographie noch kaum untersucht wurde. Die Ergebnisse der Arbeit sind nicht nurwissenschaftlich interessant, sondern auch von praktischer Bedeutung, denn die Tätigkeit von Interessenverbänden hat generell einen großen Einfluss auf die Gestaltung und Ergebnisse des politischen Prozesses. Da für Lobbyisten die Kontakte zu den Inhabern der Macht von entscheidender Bedeutung sind, ist die Frage, wie die deutschen Verbände auf den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin im Jahre 1999 reagierten und wie viele ihren Standort nach Berlin verlagerten, von hohem Interesse.
Die zentralen Themen dieser Dissertation befassen sich mit den Fragen, welche Standortfaktoren für Verbände wichtig sind, welche räumliche Verteilung die Zentralen der Verbände in Deutschland aufweisen, welche Verbände von Bonn nach Berlin umgezogen sind und welche nicht, welche Motive für ein Verbleiben in Bonn im Vordergrund standen, wie die Entscheidungsprozesse für oder gegen einen Umzug innerhalb der Verbände abliefen, welche Standorte in Berlin gewählt wurden und welche Standortverlagerungen innerhalb Berlins stattfanden.
Die weit verbreitete Vorstellung, dass es mit dem Umzug der Regierung nach Berlin auch einen geschlossenen Umzug der Lobbyisten an die Spree geben würde, entsprach nach den Erkenntnissen dieser Arbeit nicht den Tatsachen. Viele einflussreiche Verbände sind nicht nach Berlin umgezogen. Dies hängt einerseits mit der komplexen Organisationsstruktur der Verbände zusammen, die in unterschiedlichem Maße auf direkte Kontakte mit der Regierung angewiesen sind. Einige Verbände hatten ihre Zentrale auch schon vor dem Umzug der Regierung nicht in Bonn, sondern weitab des Regierungsgeschehens. Andererseits führten einige Verbände an, dass für sie die Nähe zu Brüssel wichtiger sei als ein Sitz in Berlin, dass für sie die Umzugskosten nach Berlin zu teuer seien oder dass die für sie wichtigen Ministerien immer noch in Bonn seien. Die Glaubwürdigkeit dieser Begründungen wird vom Verfasser kritisch diskutiert.
Die Arbeit beginnt mit einer Einführung in die Themenstellung, einem Überblick über die theoretische Orientierung der Arbeit, sowie der Klärung verschiedener Begriffe und Klassifikationen. Das zweite Kapitel präsentiert eine fundierte Einführung in die politikwissenschaftliche Diskussion des Verbandswesens und diskutiert u.a. die Strukturen, Funktionen und Strategien im deutschen Verbandswesen sowie die Rechtsstellung und Finanzierung der Verbände. Besonders interessant ist der Abschnitt über die internen und externen Möglichkeiten der Beeinflussung staatlicher Institutionen durch Lobbyisten. Im Einzelnen werden die Beziehungen der Verbände zur Regierung, zur Ministerialbürokratie, zum Parlament, zu den Parteien und zur Öffentlichkeit diskutiert. Nicht zuletzt werden auch die historische Entwicklung des Verbandswesens, sein derzeitiger Strukturwandel und die Internationalisierung des Verbandswesens untersucht. Auf diese verdienstvolle Einführung in das deutsche Verbandswesen, die viel Neues und Interessantes bietet, werden andere Geographen gerne zurückgreifen.
Das dritte Kapitel widmet sich der historischen Genese der Standortstrukturen des deutschen Verbandswesens vor 1933, den Verbändestrukturen im Jahre 1974 (damals erschien in Deutschland die erste Lobbyliste) sowie der Entwicklung der Verbandsstandorte zwischen 1974 und 1997.
In den Kapiteln 4 und 5 wird gezeigt, wie die Zentralen der Verbände in Deutschland räumlich verteilt sind, welche Faktoren dieser Verteilung zugrunde liegen und aus welchen Motiven einzelne Verbände nach Berlin umgezogen oder an ihrem bisherigen Standort verblieben sind.
Das sechste Kapitel geht auf die lokale Konfiguration des Verbandswesens in Berlin ein, wobei u.a. die historischen Strukturen des Berliner Verbandswesens, die Standortwahl der Verbände nach der Verlagerung der Regierung nach Berlin und die Mobilität der Verbände innerhalb Berlins zwischen 2000 und 2002 untersucht werden. Die Unzufriedenheit mit dem ersten Standort resultierte einerseits daraus, dass manche Verbände bis zur Fertigstellung von Neubauten erst mit Zwischenquartieren vorlieb nehmen mussten, andererseits waren die stadtgeographischen Kenntnisse einiger Verbände offensichtlich mangelhaft, so dass beispielsweise die Entfernungen innerhalb Berlins unterschätzt wurden.
Die Ergebnisse der eigenen empirischen Untersuchungen des Verfassers beruhen auf einer deutschlandweit durchgeführten Befragung von 96 ausgewählten Verbandsvertretern (insgesamt gab es 1.760 registrierte Verbände) sowie auf den räumlich-sektoralen Auswertungen von Verbandsregistrierungen des Bundestages aus den Jahren 1997 und 2002.
Der Verfasser dieser Dissertation stellt selbst fest, dass er sich in theoretischer Hinsicht vorwiegend an einem funktionalen Ansatz, einem historisch-genetischen Ansatz, am
Lebenszyklus-Ansatz sowie an aktionsräumlichen und kommunikationsbezogenen Ansätzen orientiert. Darüber hinaus werden noch individuell-subjektive Perspektiven der Entscheidungsträger sowie Konzepte des Neo-Institutionalismus einbezogen. Den einzigen Schwachpunkt der Arbeit sehe ich in der Tatsache, dass der Verfasser zwar auf die Bedeutung der Face-to-face-Kontakte bei der Lobby-Arbeit hinweist, aber die dazu relevanten theoretischen Konzepte leider nicht heranzieht. In der Arbeit wird festgestellt, dass der räumlichen Nähe zur Politik von den Verbänden deshalb "eine so große Bedeutung beigemessen [wurde], da man die persönlichen Kontakte zu den Politikvertretern im Allgemeinen für unverzichtbar hält und sich speziell die Möglichkeit zum spontanen und informellen Kontakt mit Verbandskollegen und politischen Entscheidungsträgern als eine außerordentlich bedeutsame Sphäre verbandlicher Tätigkeiten erwiesen hat" (S. 192). Da dies eigentlich die zentrale Botschaft dieses Buches darstellt, finde ich es etwas schade, dass die umfassende Literatur zu diesem Thema nicht oder nur randlich herangezogen wurde. Auch die Tatsache, dass der Telekommunikation "als mögliches Substitut für persönliche Kontakte" (S. 192) eine sehr geringe Bedeutung zugemessen wurde, hätte den Autor eigentlich nicht überraschen dürfen. Diese Tatsache wurde in der geographischen Bürostandortforschung, in der Geography of Transactions und in der Bildungsgeographie schon vor rund 25-30 Jahren erklärt und auch empirisch untermauert.
Diese Bemerkung ist jedoch weniger eine Kritik am Verfasser, sondern eher am Informationsstand jener deutschen Wirtschaftsgeographen, die sich mit der Bedeutung von Face-to-face-Kontakten oder den Auswirkungen der Telekommunikation auf das Standortverhalten von wichtigen Entscheidungsträgern oder Büroaktivitäten befasst haben und vom Verfasser vermutlich als Vorbild gesehen wurden. Von einer Dissertation kann man nicht verlangen, dass sie mehr leistet als etablierte Vertreter des betreffenden Forschungsbereichs. Leider hat sich die deutsche Wirtschaftsgeographie kaum bzw. erst sehr spät mit den schon in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Arbeiten von GODDARD, GOTTMANN, THORNGREN, TÖRNQVIST oder WESTAWAY etc. zum Kontaktverhalten von hochrangigen Entscheidungsträgern befasst. Anstatt sich mit der verfügbaren geographischen Literatur zu befassen, wurde in Nachbarwissenschaften nach Erklärungen gesucht, obwohl gerade bei diesen Themen die Ökonomie und die Politikwissenschaften aufgrund ihrer "raumblinden" Ansätze weniger zu bieten haben als einige Forschungsbereiche der Humangeographie. Da die vorliegende Arbeit dieser wirtschaftsgeographischen Tradition folgt, werden in ihrem Literaturverzeichnis zwar eine (!) Publikation von GODDARD aus dem Jahr 1967 und eine Publikation von THORNGREN aus dem Jahr 1970 zitiert, aber die neueren wichtigen Arbeiten zu Face-to-face-Kontakten, zur Bürostandortforschung, zur symbolischen Bedeutung von Standorten oder zur räumlichen Konzentration von Wissen und Macht wurden leider nicht berücksichtigt. Alles in allem ist diese Dissertation jedoch zu empfehlen.
Autor: Peter Meusburger