Marc Boeckler: Geographien kultureller Praxis. Syrische Unternehmer und die globale Moderne. Bielefeld 2005. 338 S.
Die Studie "Geographien kultureller Praxis" von MARC BOECKLER versucht, mit einer "entterritorialisierten" Sicht auf Syrien und die hier wirkenden Unternehmer, eine neue Art der Kulturgeographie zu rechtfertigen. Hierfür wird zunächst ein theoretisches Konzept, mit raum-zeit-philosophischen Anklängen, als Träger einer neuen Art der Forschung dargestellt. Im Zentrum stehen hierbei die neue Definition des Kulturbegriffs und die Auflösung bisheriger starrer Grenzen zugunsten bezugsbezogener Grenzen.
BOECKLERs Verständnis einer neuen Kultur fasst er mit einem Wechsel von der "Rede von Kultur" hin zum "cultural turn" zusammen. Dieses besagt, dass allen Kulturen bisher eine feste räumliche Einheit zugrunde lag, eine stabile Verbindung zwischen Kultur und Territorium bestand. Die Grundlage für dieses bisherige Verständnis liegt im übertriebenen Ordnungsbewusstsein der Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts, in deren Zuge auch die Schaffung von fixierten Staatsgrenzen stattfand (Nationalismus). Laut BOECKLER sind hiermit konkrete Ein-, Aus- und Abgrenzungen verbunden, mit der Folge, dass auch die Wissenschaft die wahren Verbindungen und Zusammenhänge übersieht. Grenzziehungen sind jedoch abhängig von räumlichen Bezügen und sozialen Beziehungen und müssen je nach Fragestellung und Ebene neu aufgedeckt werden. Der cultural turn ist somit gekennzeichnet durch "Reflexivität, Konstruktivismus und Relationalität". Dabei erkennt die Theorie des cultural turn im Untersuchungsgegenstand den Prozess statt eines Zustands. So richten sich Strukturen und Akteure nicht an festen kulturellen Vorgaben aus, sondern erschaffen diese Kultur.
Eine weitere These von BOECKLER lautet, dass jeder Ort zugleich lokal als auch global ist. Lokale Praktiken werden global beeinflusst und umgekehrt. Hierüber lenkt der Autor den Blick auf die bisherigen Abhandlungen über einen "orientalischen Wirtschaftsgeist", der einer westlichen Sichtweise entstammt und westlichen Tugenden wie Fleiß, Mobilität und Innovativität gegenübersteht. Dieses ablehnend, konstruiert BOECKLER die Zugehörigkeit der orientalischen Unternehmer als eine zweite Hälfte zur westlichen Unternehmerwelt. In der Gleichstellung von orientalischen und okzidentalen Unternehmern wird gar ein Schlüssel zum besseren Verständnis beider Seiten erkannt.
Nach einer allgemeinen Beschreibung des Unternehmerseins, wendet BOECKLER im zweiten Teil seiner Abhandlung seinen Blick nach Syrien. Eine weit ausholende Beschreibung der syrischen Geschichte mit einem Fokus auf die wirtschaftliche Liberalisierung der 1990er Jahre dient als Basis für die folgende, umfangreiche Beschreibung der allgemeinen und durch viele Beispiele verdeutlichten Alltagswelt von "neuen syrischen Unternehmern".
Den Gegenstand der syrischen Unternehmer benutzt BOECKLER als Beispiel für seine neue vorurteilsfreie, unbegrenzte und zieloffene Forschung, die auf der vorangegangenen Theoriebildung basiert. Die Forderung zur offenen Auseinandersetzung mit Details steht dabei im Mittelpunkt. Erst durch ein wirkliches Eintauchen in den Untersuchungsgegenstand (sprich die syrische Unternehmerwelt) entsteht laut BOECKLER wirkliche Forschung, die detailliertere und hierdurch neue Zusammenhänge aufdeckt.
Die Studie hinterlässt ein zwiespältiges Bild. Inhaltlich greift BOECKLER ein sehr interessantes Thema auf und steuert einen wichtigen Beitrag zur Revidierung allgemeiner, auch von Wissenschaftlern bewahrten Vorurteilen zur typischen orientalischen Charakteristika bei. Allerdings ist die Forderung, die Wissenschaft von alten Sichtweisen zu orientalischen Unternehmerattributen zu befreien, nicht neu. Mit dem Widerlegen dieser Betrachtungsweisen objektiviert BOECKLER die Leistung der Unternehmer und hilft der Wissenschaft diesbezüglich zukünftig vorurteilsfrei zu agieren. Gleiches gilt auch für die Aufhebung fixierter Grenzen, welche den Blick auf wahre Beziehungsgeflechte oft begrenzen und somit eine objektive Sichtweise versperren. Das Problem hierbei liegt jedoch in der Umsetzung dieser theoriebasierten Forderungen. So schreibt BOECKLER selbst, dass Prozesse und nicht Zustände im Blickpunkt des cultural turn stehen, diese jedoch nur durch die Zusammenfassung in einem Zustand zu fixieren und zu verdeutlichen sind. Hier muss BOECKLER Kompromisse eingehen, welche die gesamte Arbeit durchziehen.
Der Hauptkritikpunkt betrifft die Art und Struktur der Arbeit insgesamt wie auch den Schreibstil, der geprägt ist von Fremdwörtern und Begriffsneuschöpfungen ("Konnektivitätstopos" / "reflexartig reflektierende Reflexivität"). Es stellt sich die Frage, für wen BOECKLER die Studie verfasst hat. Studierende, Themen- und Fachfremde werden nicht zuletzt hierdurch Verständnisschwierigkeiten haben. Gewisse Kennt-
nisse in Latein, Philosophie und geographischer Theoriebildung sind notwendig. Somit begrenzt sich die Leserschaft auf eine thematisch vorgebildete Leserschaft, auf Wissenschaftler der theoretischen Geographie und ähnlichen Wissenschaften wie der Kulturanthropologie.
Der Stil der Arbeit enthält noch einen zweiten Kritikpunkt. Die Meinung BOECKLERs versteckt sich hinter ewigen Zitaten, bleibt oft im Konjunktiv und stets unkonkret. Es entsteht der Eindruck, der Autor sträubt sich vor Klarheit und vor festen Aussagen. Vorabrechtfertigungen und viele Klarstellungen untermauern dieses Bild zusätzlich. Vielleicht bringt die äußerst komplizierte Thematik diese Herangehensweise mit sich. Verständlicher wird diese hierdurch nicht.
Auch sonst wirkt die Arbeit nicht wie aus einem Guss. Mal scheint es sich um eine theoretische Abhandlung zu handeln, mal erscheint der Schreibstil fast essayistisch gar theatralisch, zum Teil handelt es sich auch um persönliche Erlebnisberichte aus der Ich-Form. Dabei ist der gesamte Studienaufbau unstrukturiert und unübersichtlich. Es gibt lediglich im Inhaltsverzeichnis eine relativ klare Ebenenstruktur der einzelnen Kapitel. Im Text verliert man die Übersicht. Dies mag auch an den fast schon kreativen, aber auch unverständlichen Kapitel-/Abschnittsbezeichnungen liegen ("Gibt's was Neues?"/"Lady Di und Ich"), mit denen zumindest im Vorfeld nur selten Informationen über den anstehenden Inhalt gegeben werden. Ein kurzer, informativer Blick in das Buch ist somit unmöglich, eine tief greifende Auseinandersetzung zum Verständnis hingegen notwendig. Leider hat BOECKLER hierdurch, und durch die Art seines Schreibens, den Zugang zum Inhalt mit seinen interessanten Themen Kultur, Grenzziehungen und Beendigung von Stereotypen stark erschwert.
Autor: Kai Zander