Karlfried von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum. Hg. von Jürgen Hasse. Frankfurt a.M. 2005 (Natur-Raum-Gesellschaft 4). 171 S.

Der Raum ist ein zentraler Begriff in der Geographie, wenn nicht sogar der zentrale Begriff schlechthin. Es ist daher merkwürdig - wie BLOTEVOGEL (1999) schon vor geraumer Zeit bemerkte - wie wenig Gedanken sich die Geographen um diesen Begriff machen, der doch oft sogar als Bezeichnung ihres genuinen Gegenstandes gilt. Das kann nun einem strukturellen Mangel an Reflexivität in dieser Disziplin entspringen oder seine Ursache darin haben, dass er so einfach und klar ist, dass er gleichsam unhintergehbar erscheint.

Letzteres wird zum einen seit der Dekonstruktion des Landschaftsbegriffs durch GERHARD HARD unwahrscheinlich, zum anderen durch die in letzter Zeit zu beobachtenden Anstrengungen von Nachbardisziplinen, sich mit dem Raum auseinander zusetzen (z.B. KRÄMER-BADONI, LÖW) konterkariert. Vor allem aber gibt es eine detailliert ausgearbeitete Phänomenologie des Raumes, die mit bekannten Namen wie OTTO BOLLNOW, HANS-PAUL BAHRDT, BERNHARD WALDENFELS und HERMANN SCHMITZ, aber auch mit Soziologen wie GERHARD SIMMEL oder der Sozialpsychologin LENELIS KRUSE in Deutschland verbunden wird. Ahnherr der Raumphänomenologen aber ist Graf KARLFRIED VON DÜRCKHEIM (nicht zu verwechseln mit dem französischen Soziologen EMILE DURKHEIM), der 1932 seine systematischen phäno-menologischen "Untersuchungen zum gelebten Raum" veröffentlicht hat.
JÜRGEN HASSE hat sich das große Verdienst erworben, dieses grundlegende Werk, das nur schwer zugänglich ist, neu aufzulegen. Er hat damit eine wichtige Grundlage für den
paradigmatischen Diskurs der Geographie bereitgestellt. Besonderes Gewicht erhält die Wiederveröffentlichung dadurch, dass JÜRGEN HASSE eine Reihe von erhellenden Co-Beiträgen eingeworben hat, die die Bedeutung des mehr als 70 Jahre alten Werkes für die heutige Zeit in verschiedenen Disziplinen, soweit sie einen Zugang zur Phänomenologie haben, ausleuchten wollen. Zuvorderst ist hier die Kommentierung durch den Nestor der deutschen Phänomenologie, HERMANN SCHMITZ, der dem Raum Zeit seines Lebens seine besondere Aufmerksamkeit schenkte, zu nennen. Dabei ist es naheliegend, dass SCHMITZ vor allem auf seine eigenen umfangreichen Ausarbeitungen in der Nachfolge DÜRCKHEIMs verweist. Daneben konzentriert sich HASSE auf die ästhetische Komponente und die Bedeutung des Gefühls beim DÜRCKHEIMschen Raumbegriff. KLAUDIA SCHULTHEIS greift dahingegen die Erlebniskomponente und den pädagogischen Bezug auf. ALBAN JANSON geht besonders auf das Raumerleben der (Innen-)Architektur ein. Diese Beiträge machen deutlich, dass die grundlegende Abfassung von Graf DÜRCKHEIM keineswegs schon in all ihren Dimensionen ausgeschöpft worden ist. Neben den im Band 4 der Reihe "Natur - Raum - Gesellschaft" niedergelegten Beiträgen könnte man sich noch viele weitere vorstellen.
Es macht nun keinen Sinn, in dieser Rezension auf Details des Werkes einzugehen. Wer mit phänomenologischen Studien ein wenig vertraut ist, der weiß, dass hier ein Sich-Einlassen auf den Text nötig ist, um seine Evidenz zu gewinnen. Schlagworte aus der Gliederung wie Raumerlebnis, Selbstraum, persönlicher Raum, Zweckraum, Wesensraum, Welt-Raum müssen hier genügen, um die Grundrichtung anzudeuten. Wie so viele phänomenologische Studien ist sie in der lebenswissenschaftlichen Tradition verankert, einer Position, die dem immer noch gebräuchlichen kritisch-rationalen Denken, mehr noch aber dem faktisch überwiegenden Empirismus ziemlich fern steht.
Die Phänomenologie ist aus den verschiedensten Gründen und nicht zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten, aber gerade die Geographie täte gut daran, sie auf brauchbare Befunde abzuklopfen. Sofern ein Geograph sich um den Gegenstand des Faches - um nicht zu sagen: sein Wesen - Gedanken macht und dabei die introspektiven Befunde der phänomenlogischen Methodologie nicht aus grundsätzlichen Erwägungen beiseite schiebt, sollte er sich das Büchlein aus dem Frankfurter Institut für Didaktik der Geographie zulegen (und lesen). Denn möglicherweise muss man nach der dekonstruktivistischen Welle noch (zu lange) warten, bis diese Herangehensweise vielleicht aus dem Angelsächsischen re-importiert und damit salonfähig wird.
Literatur:
BLOTEVOGEL, H.-H. (1999): Sozialgeographischer Paradigmenwechsel? Eine Kritik des Projekts der handlungszentrierten Sozialgeographie von Benno Werlen. In: MEUSBURGER, P. (Hg.): Handlungszentrierte Sozialgeographie. Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion. Erdkundliches Wissen 130. Stuttgart, 1-33.
KRÄMER-BADONI, T. u. KUHM, K. (Hg.) (2003): Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen.
LÖW, M. (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M.
Autor: Jürgen Pohl

Quelle: Erdkunde, 60. Jahrgang, 2006, Heft 1, S. 77