Fabian Kessl, Christian Reutlinger, Susanne Maurer, Oliver Frey (Hg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden 2005. 660 S.
Die meisten Handbücher erinnern, vom Umfang her, eher an einen Ausstellungskatalog. Mit 660 großformatigen Seiten stellt auch das hier vorgestellte „Handbuch Sozialraum“ – zumindest in diesem Sinn – keine Besonderheit dar. Denn gerade Handbücher sind – ihrer Bezeichnung scheinbar entgegenstehend – die meist am wenigsten handlichen Formate im Spektrum der gedruckten wissenschaftlichen Publikationen. Vielleicht war auch hier das Handbuchhafte weniger in Betonung des Handlich-haptischen als Nachschlagewerk, sondern anders gemeint: Man kann es zur Hand nehmen, aber nach kurzer Lektüre eines Artikels ebenso auch wieder bei Seite legen. Diese formalen Charakteristika können verallgemeinernd auch für das „Handbuch Sozialraum“ festgestellt werden: Es ist ein anregender Schmöker, ein Nachschlagewerk eben, ohne große inhaltliche Kohärenz, ein Kompendium einzelner Beiträge – nicht unbedingt etwas für die lange Lektüre, ein Bibliotheksband und kein Taschenbuch für den (studentischen) Alltagsgebrauch. Auch bezüglich des Gebrauchswerts und der inhaltlichen Qualität sind die Beiträge äußerst breit gestreut. Da tröstet die Ankündigung wenig, dass „Diskursivität und Heterogenität (...) die beiden Grundprinzipien des Handbuches Sozialraum“ (15) bilden sollen, wie dies die HerausgeberInnen im Vorwort betonen.
Eine kurze Entstehungsgeschichte des hier vorgelegten „Handbuches Sozialraum“ gibt zu Beginn des Bandes darüber Auskunft, dass die Ideen zu diesem Projekt u.a. im Kontext von Stadtentwicklungsdebatten der Bund-Länder-Initiative „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ entstanden sind und somit auch als konkrete Kritik an dem – vor allem wohl in diesen Zusammenhängen – üblichen „Sprechen über Sozialräume“ zu verstehen sei. Diese Debatten seien seit mehreren Jahren nun (wieder) bestimmt von Sozialraumbegriffen, gemeint seien damit aber dort im Wesentlichen fast ausschließlich „lokale Nahräume“, was wiederum – so die These – an der in diesem Bereich herrschenden Orientierung an sozialpolitischen Maßnahmen (Städtebau, Stadtteilentwicklung Quartiersmanagement etc) läge, die sich zumeist auf administrativ identifizierbare Wohnareale und ihre Bewohnergruppen beziehen.
Aufschlussreich über die Motivationen der HerausgeberInnen sind ebenso die der Einleitung des Handbuches eingefügten verschriftlichten Original-Töne von Gesprächen der HerausgeberInnengruppe: So fragt eine/r der Beteiligten, warum in der Sozialraumdebatte wohl „seit einem Jahr oder etwas länger“ ständig raumtheoretische Verweise auf die Raumsoziologie Martina Löws, seltener auch auf die Sozialgeographie Benno Werlens erfolgen würden:
„Alle scheinen sich auf einmal einig, dass das Behälterraum-Modell, das Bild des räumlichen Containers unzureichend sei. Davon scheint man sich distanzieren zu müssen und daher auf entsprechend kritische Bemerkungen der genannten Raumtheorien zu verweisen. Allerdings machts im nächsten Schritt dann häufig ‘Schwupps’, man scheint sich eben mal befreit in die Hände zu klatschen und dann wieder ab ans sozialraumbezogene Tagwerk zu gehen. Es wird wieder fleißig ‘verortet’ und ‘territorial fixiert’ wie eh und je – es stellt sich die Frage, ob es solche Wege, ‘erst mal nicht zu fixieren’“ (16). überhaupt gibt. Diese Situationsbeschreibung wird einem grundsätzlichen Dilemma zwischen theoretischen Ansprüchen und empirischen bzw. sozialpolitischen/sozialpädagogischen und anderen Praxen zugeschrieben. Oder, anders gesagt, dem „‘konzeptionellen Kippen’ von der kritischen raumtheoretischen Ausrichtung zur affirmativen Territorialisierung“ (17).
Unter dem Topos dieser mutmaßlichen „Territorialisierung des Sozialen“ werden im Folgenden von den HerausgeberInnen zunächst die Sackgassen dieser Sozialraumorientierung ausgelotet: In der Einleitung skizzieren diese zunächst ihre Unzufriedenheit mit Sozialraum-Diskussionen in unterschiedlichen Anwendungsbereichen. Ferner beschließen Sie, das hegemoniale Reden über den Sozialraum – nämlich diesen „einmal quer zu denken“ – so einer „kritischen Systematisierung“ unterziehen zu wollen. Als grundsätzlichste Kritik kommt symptomatisch zur Sprache, ob nicht insgesamt der Ansatz „an den Orten“ tätig zu sein, schon als grundfalsch zu betrachten sei:
„Ich glaube, dass genau dann ein nicht unbeträchtlicher Teil hegemonialer Symbolisierungsstrategien realisiert wird, wenn bestimmte abgrenzbare Territorien als ‘Armutsgebiete’ oder ‘sozial benachteiligte Stadtteile’ bestimmt werden“ (13).
Diese „Territorialisierung“ führe zu einer Essentialisierung, ja Homogenisierung sozialer Verhältnisse in einem bestimmten administrativen Raumausschnitt (Stadtteil, Region etc.) und zu einer Blindheit gegenüber einer heterogenen Wohnbevölkerung. Deren materielle Lebensbedingungen würden sich aber mit nahräumlich bezogenen Interventionen nicht verbessern – stattdessen solle es vielmehr doch darum gehen, „(sozial)pädagogisch weitere Handlungsoptionen wieder ans Licht [zu] holen, die die Menschen gerade nicht sehen (können), und (sozial)politisch [zu] handeln, um fehlende Handlungsoptionen möglich zu machen“ (14).
Allerdings – so die HerausgeberInnen – würde sich gegen diese einseitigen Territorialisierungen in „jüngster Zeit“ auch Einspruch regen: Diese Kritik beziehe sich im Wesentlichen auf die zu kurze Reichweite solcher gebietsorientierter, lokalisierter Begriffsbindungen. Dem entgegengesetzt wird postuliert, Sozialräume sozialwissenschaftlich vielmehr als „Felder sozialer Kämpfe“ zu bestimmen. Diese Felder könnten zudem viel besser aus der Perspektive der Beteiligten an Aushandlungs- und Deutungsprozessen beschrieben werden. Unter Bezugnahme auf Erving Goffman, Henri Lefebvre, David Harvey und Doreen Massey wird betont, raumtheoretisch Sozialräume zukünftig als Prozess sozialer Konstruktion räumlicher Zusammenhänge verstehen zu wollen. Nichts Geringerem also als einer inhaltlichen Nachbesserung dieser angemahnten inflationären und redundanten Sozialraumsemantik und Diskussionspraxis hat sich also das Projekt „Handbuch Sozialraum“ verschrieben. Zu diesem Zweck soll mit dem Handbuch Sozialraum ein „virtueller Thematisierungsraum“ (17) aufgespannt werden, um über dieses Medium Debatten um ein „neues“ Raumverständnis zu ermöglichen. Als zentrale Auseinandersetzung wird dafür die Überwindung der Vorstellung des „Sozialraumes als Container“ angesehen. Einig sind sich die Diskutanten in der Feststellung, dass Sozialräume nicht auf territoriale Areale allein reduziert werden dürfen. Für sie stellen Sozialräume vielmehr „(...) immer komplexe Zusammenhänge kultureller, historischer und territorialer Dimensionen“ (17) dar.
Diese oben skizzierten Thesen zum Stand der Sozialraumdebatte waren Leitfrage und Aufforderung zugleich an AutorInnen aus sozialpolitischen, stadtplanerischen, stadtsoziologischen, sozialgeographischen und sozialpädagogischen Debatten, an diesem Veröffentlichungsprojekt zu partizipieren. Von den angesprochenen 100 AutorInnen haben sich immerhin 63 an diesem Handbuch mit Beiträgen beteiligt und liefern damit eine aktuelle Skizze von Diskussionsständen und inhaltlicher Positionierungen.
Dabei ist die Vorgehensweise auf der Gliederungsebene dieses Handbuches eher klassisch bzw. im Vergleich mit anderen Handbüchern auch nicht gerade revolutionär. In vier thematisch unterschiedlichen Kapiteln – die mit „1. Disziplinäre Positionierungen“, „2. Strukturierungen“, „3. „Handlungsfelder“ und „4. Symbolisierungen“ überschrieben sind – werden zunächst im ersten Teil Stimmen aus für diese Debatte relevant betrachteten Wissenschaftsdisziplinen eingeholt. Dabei – so wird explizit betont – wurden bewusst „keine dominierenden Zugänge etablierter Disziplinen“ ausgewählt, sondern Stimmen, die „quer zu den bestehenden disziplinären Strukturen“ formuliert werden. In den folgenden drei Kapiteln („Strukturierungen, „Handlungsfelder“ und „Symbolisierungen“) werden an zwei Stellen zur „Illustration konkreter sozialraumorientierter Vorgehensweisen“ drei sog. Situierungen in Form konkreter Sozialraum-Konzeptionen aus den Bereichen „Soziale Arbeit“, „Sozialberichterstattung“ und „Gemeinwesenarbeit“ in der Bundesrepublik vorgenommen. Zusätzlich werden zwischen den vier Handbuchbereichen drei „internationale Fenster“ geöffnet, die exemplarisch Ausblicke auf sozialraumorientierte empirische Untersuchungen in Indien (Benares), Uruguay (Montevideo) und den USA (Washington/DC) ermöglichen sollen. Allerdings scheinen sämtliche Beispiele aus westeuropäischer Perspektive untersucht worden zu sein.
Das erste Kapitel der „disziplinären Positionierungen“ wurde unter Überschriften wie Raumsoziologie vom Autorinnenduo Löw/Sturm verfasst. Es folgen Aufsätze zur Sozialgeographie (Werlen/Reutlinger), Ökonomie (Hamedinger), Philosophie (Günzel). Ferner werden die aktuellen Sozialraumdebatten im Bereich der Sozialen Arbeit (Kessl/Maurer), der Sozialpolitik (Böhnisch/Schröer), der Stadt- und Regionalsoziologie (Dangschat/Frey) sowie der Stadt und Regionalplanung (Kilper/Zibell) skizziert.
Im zweiten Kapitel („Strukturierungen“) werden die diskursiven Stränge und Orte dieser hochkonjunkturellen Sozialraumdebatte verfolgt und aufgesucht. Oder, in den Worten der HerausgeberInnen, die „immanenten Strukturierungen“ des Phänomens Sozialraum(debatte) thematisiert. In Form dieser Strukturierung werde Sozialräumlichkeit „zugleich geschaffen und begrenzt, sowie überhaupt erst thematisierbar gemacht“ (24). Solcherart strukturierend wirken innerhalb der gegenwärtigen Sozialraumdebatte „die Regulationslogiken, die sozialpolitischen Programmierungsprozesse, die veränderten gesetzlichen und fiskalischen Steuerungen, die fachlichen Konzeptionalisierungen und nicht zuletzt die realisierten Gestaltungs- und Aneignungsprozesse der direkt beteiligten Akteure“ (24). Dies sollen Beiträge zur „(Re-)Regulation des Lokalen“ (Röttger/Wissen), zu „sozialpolitischen Programmierungen“ (Kessl/Krasmann), über „konzeptionelle Perspektiven“ (Riege/Schubert), zu „Recht und Finanzierung“ (Dahme/Wohlfahrt) sowie zu den Stichworten „Gestaltung“ (Lackner-Pilch/Pusterhofer) und „Aneignung“ (Deinert/Reutlinger) verdeutlichen.
Die im dritten Teil des Handbuches vorgestellten „Handlungsfelder“ skizzieren Bereiche, in denen derzeit „vermehrt über ‘Sozialraum’“ gesprochen werde. Diese werden noch einmal in drei Unterkapitel unterschieden, den Bereich der Sozialen Arbeit, der Arbeits- und Beschäftigungspolitiken sowie im dritten Unterkapitel der sog. Gemeinschaftsbezüge.
Im vierten Kapitel werden drei zentrale „Symbolisierungen“ innerhalb der „Sozialraumdiskussion“ herausgegriffen. Die symbolische Politik in Verbindung mit der aktuellen Durchsetzung der hegemonialen Sozialraumperspektiven lasse sich demnach vor allem „in folgenden Aspekten nachzeichnen“ (25): der „Symbolisierungen im Kontext von Gesellschaftsdiagnosen vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Stratifizierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft“ (Häußermann/Kronauer), der „Symbolisierungen im Bereich präventiver Ansätze, hier im Bereich der sog. Kriminalprävention“ (Lindenberg/Ziegler), und der „Symbolisierungen im Kontext Sozialer Bewegungen“ (Maurer).
Die Lektüre dieses breiten Spektrums von Bemühungen um wissenschaftsdisziplinäre Standortbestimmungen, anwendungsbezogene Begriffspräzision und raumtheoretische Aktualisierungen ist auf jeden Fall anregend und zu empfehlen. Auch die inhaltliche Gliederung ist einleuchtend und überzeugend. Allerdings ist zunächst einmal zu unterscheiden zwischen den – natürlich richtigen und lobenswerten, oft aber etwas übertriebenen und begrifflich aufgeladenen – Ansprüchen („virtueller Thematisierungsraum“, „kritische Systematisierung“ etc.) der HerausgeberInnen und deren Umsetzung in den Beiträgen der über 60 AutorInnen. Wie nicht anders zu erwarten, ist die Qualität, Zugänglichkeit und inhaltliche Tiefe der Beiträge, je nach Gusto, disziplinären Sprachen, Interessen und persönlichen Lesarten unterschiedlich. Die große Zahl der Artikel lässt im Rahmen dieser Rezension eine genauere Darstellung nicht zu.
Aus der Rezensionsperspektive ist auffällig, dass – entgegen der deutlich geäußerter Absicht der HerausgeberInnen – sich die Beiträge aus dem sozialpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Bereich des Handbuches zumeist auf einen „alten“ Sozialraumbegriff konzentrieren, der entweder synonym mit Nahraum oder gar Behältervorstellungen einhergeht. Die gerade für eine Konzeptualisierung des hier problematisierten Sozialraumbegriffes unerlässlich erscheinenden staatlichen Ebenen der Rekonstruktion oder Reproduktion räumlicher Skalierungen, wie sie etwa in aktuellen internationalen Debatten um sozialräumliche „Scales“, etwa von Neil Brenner (1997, 1998, 2001), Erik Swyngedouw (1992, 1996, 1997) oder Sally A. Marston (2000, 2001) et al. präsent sind, werden nur von Röttger/Wissen aufgegriffen. Eine Infragestellung des (substantialisierten) Sozialraumbegriffes als Ausdruck genau dieser „Territorialisierung des Sozialen“ – wie von den HerausgeberInnen angedeutet – ist hingegen bei den meisten Beiträgen zu vermissen. Kritische Positionen zu den unterschiedlichen Praxen sozialräumlicher Territorialisierungen fehlen fast völlig. Was lief da also im angekündigten „Aufspannen des virtuellen Thematisierungsraumes“ daneben?
Die Beiträge vor allem im Kapitel der „disziplinären Positionierungen“ scheinen letztendlich nur zu bestätigen, dass – wie dies Crang und Thrift (2000:1) vor einigen Jahren formulierten – „different disciplines do space differently“. Gerade aber Kontroversen über dieses bunte Nebeneinander unterschiedlicher Raumbegriffe und Konstruktions- bzw. Produktionsprozesse von gesellschaftlichen Räumen sind in diesem – auch publizistisch – hochkonjunkturellen Ausdruck des „spatial turn“ aber dringend zu wünschen. Denn grundsätzlich wäre zunächst anzumerken, dass nicht „Sozialräume (...) seit einigen Jahren im Mittelpunkt sozialpolitischer, stadtplanerischer, stadtsoziologischer, sozialgeographischer und sozialpädagogischer Debatten“ (5) stehen, sondern dass seit Jahren – nun offensichtlich auch unter Rückgriff und Bezug auf den „Sozialraum“ – Auseinandersetzungen um eine (Neu-)Konzeptionalisierung und Operationalisierung des (Konstruktions-)Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Raum geführt werden. Diese Sozialraumdebatte sollte also deutlicher als Teil dieses umfassenderen Verständigungsprozesses und Paradigmenwechsels verstanden werden. Dass diese Debatte nur in bestimmten Disziplinen bzw. disziplinären Feldern unter dem Topos Sozialraum geführt wird, sollte eine Auseinandersetzung und gemeinsame Diskussion um die Herstellung/Konstruktion des sozialen Raumes nicht verstellen.
Zusätzlich bleibt der Eindruck bestehen, dass der Band über weite Strecken unter einer gewissen perspektivischen Einseitigkeit leidet. Wer den (sozial)pädagogischen Blick auf die Gesellschaft nicht teilt und etwa den Blick einer kritischen, wissenschaftlichen Theoriebildung – ohne Rechtfertigungsnachweis und schnelle Anwendungsbezüge – vorzieht, wird mitunter ziemlich irritiert werden. Wer aber konkrete Handlungsanregungen sucht, der und die ist bei dem Handbuch ganz gut aufgehoben. Denn dieser sog. Anwendungsbezug scheint hier über weite Strecken ausschließlich Politikberatung und die Formulierung von Handlungsoptionen für (sozial)politische Akteure zu bedeuten. Andere soziale Konfigurationen und Ansätze sozialer Bewegungen bleiben unterbelichtet bzw. werden als Akteure nur gestreift. Im Verhältnis zu anderen Auseinandersetzungen etwa um den Konstitutions-, Konstruktions- oder Produktionscharakter des Raumes geht es hier deutlich nicht mehr darum, allein kritisch zu analysieren, sondern sogleich gesellschaftliche Relevanz durch eine Fülle gut gemeinter Tipps und sozialstaatlicher Umarmungsgesten anzubieten.
Diese Einseitigkeit der Perspektive auf den Sozialraum kann natürlich nicht allen AutorInnen unterstellt werden. Das Handbuch Sozialraum besticht demzufolge vor allem durch seine disziplinäre Breite, versammelt Beiträge aus den unterschiedlichsten Forschungsfeldern und ist vor allem darum eine interessante und auch stimulie rende Lektüre. Aber leider muss eingeräumt werden, dass es dort oft ziemlich eingeschränkt und auf die eigene Disziplin und deren Horizonte bezogen zugeht. Das verweist aber auch auf die immer noch deutliche Ferne deutschsprachiger Sozialraumdebatten zu internationalen, kritischen Sozialwissenschaften, namentlich im Bereich der Sozialgeographie und Soziologie. Diese Lücke könnte z. B. durch Lektüre und Rezeption nicht-deutschsprachiger WissenschaftlerInnen behoben werden. Hier wäre eine Übersetzung oder Debatte um Textpassagen der in der Einleitung aufgeführten – wohlklingenden und relevanten – AutorInnen wie David Harvey oder Doreen Massey sinnvoller gewesen als allein deren Namen zu erwähnen.
Wie bereits skizziert, besteht ein Grundansatz des Handbuches aus einer Absage an eine konstatierte „Territorialisierung des Sozialen“, wie es sich etwa in Programmen der Initiative der „Sozialen Stadt“ oder etwa neuen Ansätzen des Quartiersmanagement abzeichnet. Hier wird ein „Formenwandel aktueller Regierungsstrategien“ beobachtet, bei dem „kleinräumige Einheiten“ wieder einmal „durch Vermessung gezähmt werden“ (21), „fluide, relationale und kontingente soziale Zusammenhänge“ (…) festgeschrieben und simplifiziert“ (21) werden und zunehmend „in den Fokus sozialpolitischer Interventionsmaßnahmen rücken“ – ergo: – „das Soziale wird territorialisiert.“ So richtig und überzeugend diese Argumentation auf den ersten Blick scheint, umso fragwürdiger wird sie bei der Befragung der dafür eingesetzten Topoi und einer Verschleierung unterschiedlicher Interessen und Sprecherpositionen bei diesem „Reden über den Sozialraum“. So stellt sich die Frage, wann und wo denn das Soziale nicht territorialisiert war bzw. was geschieht, wenn Gesellschaft, im nicht idealistischen oder utopischen Sinne, entterritorialisiert gedacht wird. So wäre gesellschaftliche Territorialisierung (in Bezug auf Deutschland) m. E. sinnvoller als Konstellationen gesellschaftlicher Macht, deren Eigentums- und Besitzverhältnisse und deren hegemoniale kulturelle Formen und Repräsentationen von Maskulinismus und Whiteness-Ethnizität zu analysieren. Stattdessen scheint es, als würden erst durch diese oben angeführten aktuellen Neuskalierungen der „(Re-)Regulationen des Lokalen“ – wie diese Röttger und Wissen in ihrem Beitrag (207ff) begrifflich fassen – soziale Territorialisierungen vorgenommen.
Der hier zur Kritik staatlicher (und anderer) (Re)produktion neuer maßstäblicher Strategien benutzte Begriff der „Territorialisierung des Sozialen“ erscheint somit als schlecht gewählt. Er suggeriert, es gäbe nicht-territorialisierte, also machtfreie Räume – und nicht immer wieder neue Strategien räumlicher Skalierung, also neue Maßstabsebenen unterschiedlicher Machtsphären, Handlungsspielräume, Deutungsversuche und deren Repräsentationen (in den Sozialwissenschaften und der Sozialpädagogik). Somit ist aber Raum als gesellschaftlich (re)produzierte Bedingung nicht einfach als territorialisiert und „übel“ abzulehnen, sondern vielmehr zu fragen, wie unterschiedliche Akteure und damit verbundene Strukturen und Institutionen immer wieder sozialen Raum herstellen bzw. in seiner Territorialisierung durch unterschiedlichste Institutionen, Machtpolitiken und Praktiken (re)produzieren.
Weiterführend wäre zu untersuchen, wer warum (und wie vor wem) vom „Sozialraum“ redet: Diese „Rede vom Sozialraum“ kann doch verschiedenen und durchaus interessegeleiteten Positionen zugeordnet werden. Es diskutieren doch nicht alle einfach so und durcheinander über den „Sozialraum“, sondern vor allem staatliche Stellen der Sozialpolitik, Beschäftigte in der Stadt- und Regionalplanung, (Politik-)Berater und Betreuer, SozialpädagogInnen und Streetworker, SozialwissenschaftlerInnen, RechtsextremismusexpertInnen und so weiter. Ein Vorschlag wäre somit, die eigenen sozialräumlichen Beiträge als Teile einer solchen Sozialraum-Herstellungsleistungen mit in die Untersuchung einzubeziehen, Raum als sozial konstruierten und (re)produzierten Prozess zu untersuchen und die Konstruktionsleistungen der unterschiedlichen Handlungsebenen und ihrer Akteure, ihre Maßstäblichkeit und Temporalität zu betrachten.
Zusammenfassend sei aber noch einmal betont:Das „Handbuch Sozialraum“ versammelt eine Fülle lesenswerter, mitunter auch aufregender Texte unterschiedlichster Qualität und Tiefe. Insofern ist es ein guter Schmöker, etwas zum Nachschlagen, Diskussionsgrundlage für Studierende unterschiedlicher Fächer und ein Dokument einer transdisziplinären und endlich auch im deutschsprachigen akademischen Bereich nun etwas in die Gänge kommenden Überlegung um (Neu-)Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Gesellschaft und Raum. Dass dabei das Thema Macht und Raum etwas zu kurz kommt, ist bedauerlich, aber auch nicht verwunderlich, bewegen sich doch die meisten deutschsprachigen raumtheoretischen Beiträge immer noch in einem vermeintlich herrschaftsfreien Raum.
Literatur:
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Autor: Thomas Bürk