Gerd Kohlhepp (Hg.): Brasilien. Entwicklungsland oder tropische Großmacht des 21. Jahrhunderts? Tübingen 2003. 266 S.
Gerd Kohlhepp hat mit diesem Band die schriftlichen Fassungen von Vorträgen, die im Rahmen von Vortragsveranstaltungen an der Universität Tübingen gehalten wurden, herausgegeben. Sechs der zehn Beiträge wurden von Tübinger Wissenschaftlern verfasst, darunter alle drei geographischen Beiträge. Die Auswahl der Personen entspricht wohl dem Kontaktnetz des Herausgebers, fast zwangsläufig daraus resultierend erweist sich das Themenspektrum mitunter als etwas aleatorisch. Die weithin bekannte Kritik gegenüber Sammelbänden, die wie in diesem Fall Vorträge aus unterschiedlichen Kontexten zusammenfassen, greift entsprechend auch hier.
Nicht alle Beiträge orientieren sich an der im Titel vorgegebenen Fragestellung, die wissenschaftliche Qualität ist heterogen und nicht alle für die Beantwortung der zentralen Fragestellung relevanten Dimensionen können abgedeckt werden. Trotz dieser allgemeinen Kritik hält der Rezensent die Herausgabe dieses Bandes sowohl für legitim als auch für gewinnbringend für einzelne Zielgruppen.
Zwei unterschiedlich ausgerichtete Arten von Beiträgen sind auszumachen: überblicksartige Aufsätze zu Geographie (Gerd Kohlhepp), Politik (Andreas Boeckh) und Wirtschaft (Elmar Altvater sowie z. T. Jörg Meyer-Stamer), die ergänzt werden durch thematische und/oder regional ausgerichtete Fallstudien zu ausgewählten Problematiken. Die erstgenannten sind durchweg hervorragend gelungen. Der Herausgeber selbst hat den mit Abstand längsten (allerdings eben auch "einführenden") Aufsatz "Brasilien - Schwellenland und wirtschaftliche Führungsmacht in Lateinamerika. Entwicklung - Strukturprobleme - Perspektiven" verfasst. Wie von Gerd Kohlhepp gewohnt ist er bestens recherchiert, umfassend und mit aktuellen Daten belegt. Es handelt sich hierbei um eine landeskundlich ausgerichtete Einführung, die die Themen der territorialen Struktur und der wirtschaftlichen Machtposition, der demographischen Entwicklung und Struktur, der landwirtschaftlichen Struktur, der Problematik der Verstädterung, der Industriestruktur und der sozialen Problematik umreißt, um schließlich etwas detaillierter die wirtschaftliche Position Brasiliens in Lateinamerika und in der Welt zu analysieren. Sein Fazit in Kurzform: die (damals neue) brasilianische Regierung unter Lula müsse durch Verbesserung der endogenen Rahmenbedingungen das regionale Entwicklungspotenzial des Landes sozial, ökonomisch und ökologisch effizienter auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts abstimmen.
Der Tübinger Politikwissenschaftler Andreas Boeckh analysiert in seinem sehr lesenswerten ersten Beitrag "Der gefesselte Gigant: Politik und Reform(un)fähigkeit in Brasilien" die Ursachen für die offensichtlichen Reformblockaden. Dazu werden u. a. detaillierte Aussagen zur Verfassung von 1988, der Staatsreform, der Finanzreform, zum Sozialversicherungswesen und zu den Auswüchsen der Pensionsregelungen im staatlichen Sektor getroffen. Defizite im stark ausgeprägten Föderalismus sowie im Parteiensystem werden ebenfalls als zentrale Gründe für den weitgehenden Stillstand in Brasilien identifiziert. Sollen ökonomische und soziale Probleme - jenseits der reinen Stabilisierung - gelöst werden, muss umgehend an diesen politischen Reformdefiziten angesetzt werden. Der zweite Aufsatz von Andreas Boeckh widmet sich einer spezielleren Thematik, namentlich Brasiliens Außenpolitik und den deutsch-brasilianischen Beziehungen. Letztlich geht es dabei schwerpunktmäßig um eine Analyse der deutsch-brasilianischen Beziehungen unter dem Fokus der Wirtschafts- und Technologiepolitik.
Der Aufsatz von Elmar Altvater stellt einen aktualisierten Vortrag von 1999 dar, der die Globalisierung Brasiliens zum Thema hat. Altvater analysiert die Dimensionen der politischen, ökonomischen und speziell der finanziellen Globalisierung und zeigt die Auswirkungen insbesondere auf Gesellschaft und Arbeitsmärkte (Stichwort "Informalisierung") auf. Jörg Meyer-Stamer thematisiert kompetent den Strukturwandel und die Wettbewerbsfähigkeit vor dem Hintergrund der Herausforderungen der wissensbasierten Entwicklung. Dies geschieht auch auf der Basis dreier Fallstudien zum Fliesencluster in Santa Catarina, zum Möbelcluster in São Bento do Sul und zum Textilcluster im Vale do Itajai, die z. T. auf eigenen empirischen Untersuchungen des Autors beruhen. Wettbewerbsfähigkeit hängt demnach nicht allein von der unternehmerischen Kompetenz und Dynamik, sondern auch von Umfeldfaktoren auf verschiedenen (räumlichen) Ebenen innerhalb Brasiliens ab. Eine kritische Bewertung der Clusterförderung, sowohl was internationale Beispiele als auch brasilianische Clusterprojekte anbetrifft, schließt den Beitrag ab.
Eckhart Ribbecks Vortragsmanuskript - und damit kommen wir zu den fallstudienartig konzipierten Beiträgen - zu "Städtebau und Stadtplanung in Rio de Janeiro" ist im Wesentlichen als Beschreibung von Projekten zur Stadtentwicklung ausgelegt; u. a. werden die Programme bzw. Projekte "Corredor Cultural", "Rio Cidade" und "Favela Bairro" geschildert. Das Literaturverzeichnis (und entsprechend die Analyse) beschränkt sich bis auf eine Ausnahme auf einige Publikationen der Stadtverwaltung von Rio de Janeiro von 1993 bis 1997. Mindestens ein weiterer Aufsatz, etwa zu Fragen der sozioökonomischen Polarisierung oder zu Governanceprozessen in städtischen Räumen, hätte sich hier als thematische Ergänzung für den Sammelband angeboten.
In den vier folgenden Beiträgen geht es um Nutzungskonflikte und die Schutz-Nutzungsproblematik in ländlichen Räumen. Martina Neuburger befasst sich mit (neuen) ländlichen Armutsgruppen und der Frage, inwieweit neue soziale Bewegungen auf Ausgrenzungsprozesse im Zusammenhang mit Globalisierungseffekten reagieren. Dass sie dabei durchaus Erfolge erzielen können, deutet sich im Falle der bereits 1984 gegründeten brasilianischen Landlosenbewegung MST an. Wolfgang Junk, Tropenökologie des MPI in Plön, hat einen Aufsatz verfasst, der wohl als Bestandsaufnahme langjähriger Forschungsarbeiten zu bezeichnen ist. "Ökologische Grundlagen zur Bewertung der Nutzungsmöglichkeiten zentralamazonischer Ökosysteme", unter diesem Titel erfolgt eine Bewertung verschiedener Nutzungskonzepte: reservas extrativistas (Sammlerreservate), selektive Holznutzung, kleinbäuerliche Betriebe, agroforstliche Produktionssysteme, Weidewirtschaft, Monokulturen wie Zuckerrohr oder Baumplantagen sowie "unkonventionelle Ansätze". Aufgrund der Vielzahl der herangezogenen Ansätze können die jeweiligen Aussagen nur im Allgemeinen verbleiben. Das umfangreiche Literaturverzeichnis mit Schwerpunkt auf den 1980er Jahren und der ersten Hälfte der 1990er Jahre verweist ebenfalls auf den überblickartigen Charakter dieses Beitrages. Martin Coy hat (wieder) einen sehr guten analytischen und zugleich interessant geschriebenen Beitrag zur Regionalentwicklung im südwestlichen Amazonien geliefert. Dass dieser eher selbstreferenziell ausgerichtet ist, belegt allerdings allein die Tatsache, dass er sich mit elf seiner eigenen Publikationen zitiert und alle zehn Abbildungen ausnahmslos aus bereits veröffentlichten Eigenbeiträgen stammen. (Soviel zu dem auch dem Rezensenten bekannten Phänomen, für aus unterschiedlichsten Anlässen herausgegebene Sammelbände zur Ablieferung von Beiträgen "verpflichtet" zu werden.) Der Qualität des Coy'schen Aufsatzes - dem Zweck entsprechend rückblickend-überblicksartig - tut dies jedoch keinen Abbruch. Wolf Engels schließlich berichtet unter dem Titel "Araukarienwald. Forschungskooperation in der Mata Atlântica von Rio Grande do Sul" über ein Araukarienwald-Schutzprojekt, das in Verknüpfung mit anderen Teilvorhaben von Tübinger Seite und Partnern aus Porto Alegre seit vielen Jahren erfolgreich durchgeführt wird.
Entscheiden Sie selbst ob der Kauf des Bandes angesichts der Heterogenität der Beiträge lohnt - für Brasilieninteressierte meine ich auf jeden Fall und auch für eine Bibliothek, die Studierenden aktuelles Material etwa für Referatsgestaltungen anbieten möchte.
Autor: Rainer Wehrhahn