Britta Klagge: Armut in westdeutschen Städten. Strukturen und Trends aus stadtteilorientierter Perspektive - eine vergleichende Langzeitstudie der Städte Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Hannover und Stuttgart. Stuttgart 2005. (Erdkundliches Wissen 137). 310 S.
Mit ihrer Habilitationsschrift "Armut in westdeutschen Städten" knüpft Britta Klagge an das in der deutschen und europäischen Stadtentwicklungsforschung vor allem in den 1990er Jahren diskutierten Szenario der "sozial und räumlich gespaltenen Stadt" an, das sich in einer zunehmenden Konzentration und residenziellen Segregation von in Armut lebenden Menschen äußert.
Auch wenn in jüngster Zeit der Kernstadt als Lebens- und Arbeitsraum für jüngere und aktivere ältere Menschen und für hoch qualifizierte Tätigkeiten in den wissensintensiven Branchen eine gestiegene Wertschätzung entgegengebracht wird, so wurde sie in der sozialwissenschaftlichen Forschung im letzten Jahrzehnt mit urbaner Marginalisierung und potenzierten Exklusionsprozessen in Verbindung gesetzt (Dangschat 1999). Mit ihrer Untersuchung der Struktur und Entwicklung der Wohnstandortmuster "armer" Bevölkerung verfolgt Britta Klagge das Ziel, "Folgerungen über aktuelle und zukünftige Trends der Stadtentwicklung" (S. 22) zu ziehen, um zu überprüfen, inwieweit die kleinräumig sozial gemischte Stadt in Deutschland noch anzutreffen ist oder ob Entwicklungen wie in den US-amerikanischen inner cities auch hier an Bedeutung gewinnen. "Arme stellen eine besonders geeignete Untersuchungsgruppe für die Analyse der jüngeren Stadtentwicklungsprozesse und der ihnen zu Grunde liegenden Wirkungszusammenhänge dar. Da sie über ihr (mangelndes) ökonomisches Potential definiert werden, sind ihre Wohnstandortmuster ein geeigneter Indikator für eine räumliche Untersuchung sozialer Polarisierungsprozesse" (S. 22).
Vor dem Hintergrund der Konzepte, Methoden und Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung und der sozialgeographischen Stadtforschung erarbeitet Britta Klagge einen Vergleich der räumlichen Muster der sozialen Differenzierung und insbesondere der Armutsgebiete in fünf Großstädten mit annähernd gleicher Einwohnerzahl von einer halben Million, aber mit unterschiedlichen wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Strukturen und Entwicklungstendenzen. Ihre Untersuchungsstädte sind: Düsseldorf, Essen, Frankfurt am Main, Hannover und Stuttgart. Schiefwinklige Clusteranalysen, die für diese Studie entwickelt wurden, ermöglichen ihr eine städteübergreifende soziale und städtebauliche Stadtteiltypisierung. Die statistische Analyse kontextualisiert und interpretiert die Autorin durch qualitative Informationen und Gespräche mit Expertinnen und Experten in ihren Untersuchungsstädten. Wie in der empirischen Armutsforschung üblich, operationalisiert auch Britta Klagge Armut über den Indikator Sozialhilfebezug, der durch seine kleinräumige Verfügbarkeit eine stadtteilbezogene Untersuchung ermöglicht.
Ihre detaillierte, statistisch aufwendige und anspruchsvolle Untersuchung, die als zeitliche Längsschnittanalyse konzipiert ist, ermöglicht der Autorin die Erkenntnisse der Armuts- und Segregationsforschung empirisch zu überprüfen. Klagges Ergebnisse zeigen, dass auch andauernde Wiederholung von vermeintlich gesicherten Erkenntnissen in unzähligen Publikationen ihren Realitätsgehalt nicht erhöhen, denn die fünf Untersuchungsstädte werden dem Bild einer "sozial und räumlich gespaltenen Stadt" kaum gerecht: Die Segregation der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger (d.?h. der armen Menschen) hat sich auf der Ebene der Stadtteile seit Mitte der 1980er Jahre nicht bzw. nur in Frankfurt am Main signifikant erhöht. Das heißt: Trotz zunehmender sozialer Disparitäten stiegen die räumlichen Disparitäten in fast allen Untersuchungsstädten nicht! Auch haben sich die Wohnstandortmuster deutscher und ausländischer Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger seit den 1980er Jahren angeglichen. Von "Armutsenklaven der Ausländer" kann also nicht die Rede sein.
Arme Menschen konzentrieren sich - wie erwartet - vor allem in benachteiligten Stadtvierteln. Benachteiligte Quartiere weisen Defizite in der Wohnungsausstattung, in ihrer städtebaulichen Attraktivität, in der Ausstattung mit Grün- und Freiflächen, öffentlicher und privater Infrastruktur sowie Probleme im sozialen Zusammenleben auf. Es sind die Siedlungen des Sozialen Wohnungsbaus und einige Quartiere der erweiterten Innenstadt - insbesondere diejenigen, die nicht durch Sanierungsmaßnahmen und/oder hochwertige Neubau- und Konversionsmaßnahmen aufgewertet wurden. Obwohl der Anteil der Armen in diesen benachteiligten Quartieren - wie erwartet - sehr hoch ist, so ist er seit den 1980er Jahren nicht generell, sondern nur in einigen der betroffenen Stadtteile überdurchschnittlich gestiegen.
Auch der Städtevergleich bietet interessante Einsichten: Es besteht kein regelhafter Zusammenhang zwischen der Höhe der Sozialhilfedichte und dem Ausmaß der Segregation, d.. h. insbesondere Städte mit einer höheren Sozialhilfedichte weisen keine höheren Segregationswerte von Menschen, die Sozialhilfe beziehen, auf. Auch leben arme Menschen in wirtschaftsstarken bzw. stark tertiärisierten Städten nicht stärker segregiert als in Städten mit geringerer Wirtschaftskraft oder geringerem Tertiärisierungsgrad.
Britta Klagges Untersuchung stellt einen wichtigen Beitrag dar, Schreckgespenste, die die Armuts- und Segregationsforschung gesponnen hat, zu enttarnen: Die europäische Stadt als Integrationsmodell ist ganz und gar nicht bedroht, wie Michael Haus (2005, S. 27) dies befürchtete. Vorschnell amerikanische Verhältnisse auf die deutsche Stadtentwicklung zu übertragen, erwies sich in Düsseldorf, Essen, Frankfurt am Main, Hannover und Stuttgart als überzogen und wirklichkeitsfremd. Ihre Schlussfolgerung, dass "vereinfachte und plakative Konzeptionalisierungen der jüngeren Stadt(teil)entwicklung der Realität nicht gerecht werden können", mag zwar auf den ersten Blick trivial erscheinen, hat aber weitgehende Implikationen. "Zu stark vereinfachende Konzepte und Begrifflichkeiten, wie z. B. das Bild der gespaltenen Stadt, vermitteln bestimmte Gefühle und Einstellungen gegenüber Menschen und Quartieren und versperren daher möglicherweise den Blick auf Potenziale sozialer Stadt(teil)entwicklung" (S. 247). Dies sind jene Potenziale, die auch vielfältige Strategien und Maßnahmen der Sozialen Arbeit und der stadtteilbezogenen Programme wie die Bund-Länder-Initiative "Soziale Stadt" in Wert zu setzen versuchen. An dieser Stelle der Arbeit wäre eine Suche nach Anschlussmöglichkeiten der empirischen Ergebnisse zu Diskussionen in den Sozialarbeitswissenschaften (z. B. Klöck 1998), in der Gemeindepsychologie (z. B. Keupp 1998) und in der Stadtsoziologie (z. B. Keim/Neef 2000) weiterführend gewesen, die auf die Potenziale von Quartieren und Menschen (Stichworte: Empowerment und Coping) hinweisen.
So theoretisch anspruchsvoll und methodisch elaboriert Britta Klagge ihre Ansprüche einer empirisch-beschreibenden und theoretisch-erklärenden Untersuchung umsetzt, so vage bleibt sie leider in zwei Punkten: 1) in der Konzeption eines akteursorientierten evolutionären Ansatzes, d.?h. in ihren Schlussfolgerungen und 2) im Bereich der politischen Handlungsorientierung ihrer Studie.
Im Rahmen ihrer Schlussfolgerungen verhaftet Britta Klagge leider selbst auf der Oberfläche von Begrifflichkeiten wie "Pfadabhängigkeit", "Interdependenz" und "Kontingenz". Wünschenswert wäre eine über die eine Textseite hinausgehende Ausführung, die die Frage beantwortet, wie die Dynamik der sozialen Stadtteilentwicklung heute detailliert zu konzeptualisieren sei und welche Rolle die einzelnen lokalen und überlokalen Akteure in dieser Konzeption spielen bzw. welche Steuerungspotenziale ihnen im Rahmen von politisch initiierten Aufwertungsprozessen zukämen.
Für die Arbeit wäre es weiterhin vorteilhaft gewesen, wenn Britta Klagge aus ihren außerordentlichen Ergebnissen weiterführende Konsequenzen für politische Handlungsstrategien gezogen hätte - sowohl für die kommunale Ebene als auch für die Ebene des Bundes. Denn: Die Zunahme von Armut provoziert gerade zu einem Nachdenken über die Ausgestaltung des Sozialstaats, dessen nachsorgender Charakter an seine immanenten Grenzen gestoßen ist. Ein "vorsorgender Sozialstaat" mit einer vielfältigen sozialen Infrastruktur (wie Wohnungsbau, Kinderbetreuung, Bildungseinrichtungen etc.) - wie derzeit in der Politik diskutiert - kann durchaus an den Problemen von benachteiligten Menschen in benachteiligenden Quartieren ansetzen und zu Lösungen der Armutsfrage beitragen.
Insgesamt stellt Britta Klagges Studie einen wertvollen Beitrag für die Disziplin dar, die das gesellschaftlich brisante Thema erstmals für die Geographie im Städte- und Stadtteilvergleich aufarbeitet. Da sich nicht viele Geographinnen und Geographen im deutschsprachigen Raum empirisch und theoretisch mit Fragen der Armut und der sozialräumlichen Ausgrenzung beschäftigen, füllt ihre Arbeit eine Forschungslücke und bereichert außerdem die Armutsforschung der (Stadt-)Soziologie durch wichtige räumliche Aspekte.
Literatur
Dangschat, J. (Hg.) (1999): Modernisierte Stadt. Gespaltene Stadt. Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung. Opladen. S. 289-316.
Haus, M. (2005): Zivilgesellschaft und soziales Kapital im städtischen Raum. Aus Politik und Zeitgeschichte 3, S. 25-31.
Keim, R. und Neef, R. (2000): Ausgrenzung und Milieu. Über die Lebensbewältigung von Bewohnerinnen und Bewohnern städtischer Problemgebiete. A. Harth, G. Scheller und W. Tessin (Hg.): Stadt und soziale Ungleichheit. Opladen. S. 248-273.
Keupp, H. (1998): Von der fürsorglichen Belagerung zum Empowerment. Perspektiven einer demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft. In: Gemeinde Psychologie 1 (4), S. 20-38.
Klöck, T. (Hg.) (1998): Solidarische Ökonomie und Empowerment. Jahrbuch Gemeinwesenarbeit. Neu-Ulm.
Autorin: Sabine Hafner