Ulac Demirag: Handlungsräume agropastoraler Fulbe in Nordostnigeria. Eine vergleichende Studie in den Bundesstaaten Adamawa und Gombe. Hamburg 2004 (Hamburger Beiträge zur Afrika-Kunde 73). 264 S.

Die immer wiederkehrenden Krisen im Sahel haben auch die gemeinhin als nomadische Rinderhalter betrachteten Fulbe Westafrikas gezwungen, nicht nur weiter nach Süden in die Sudanzone zu ziehen, sondern auch halbsesshafte und sesshafte Lebensformen anzunehmen und sich neben der Viehwirtschaft auch dem Ackerbau zu widmen. Agropastorale Betriebssysteme können durch eine Einkommensdiversifizierung und vielfältige Synergien, die sich aus der Kombination von Viehwirtschaft und Ackerbau ergeben, risikominimierend und einkommensstabilisierend wirken.

Gleichwohl, so der Autor, konnten viele Fulbe dieses Potential offensichtlich nicht nutzen. Aus dieser Beobachtung leitet sich die zentrale Fragestellung der Arbeit ab, nämlich die nach den kulturellen, sozialen, ökonomischen und politisch bedingten Möglichkeiten und Handlungsbeschränkungen, die das wirtschaftliche Entscheidungsverhalten agropastoraler Fulbe bestimmen.
Dieser Frage wird anhand empirischer Untersuchungen in zwei klug ausgewählten Untersuchungsgebieten in Nordostnigeria nachgegangen, die sich durch ihre historisch gewachsene Sozialstruktur unterscheiden, in ihrer naturräumlichen Ausstattung aber relativ ähnlich sind. Bevor sich der Autor der Analyse der Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln agropastoraler Haushalte im Nordosten Nigerias widmet, legt er eine dichte Reflexion der für die Bearbeitung der Fragestellung relevanten Theoriediskurse vor. Insbesondere die Diskussion um die Funktion und Rolle von Sozialkapital für (Fehl-/Unter-)Entwicklung besticht durch ihre Ausrichtung auf die konkrete Fragestellung.
Was bestimmt nun den Handlungsrahmen agropastoraler Fulbe im Vergleich der unterschiedlichen Untersuchungsräume? Der Autor belegt durch eine Reihe empirischer Nachweise, dass die agropastoralen Betriebe in den Untersuchungsgebieten - trotz ähnlicher Gefahrenpotentiale, wie sie durch die Umweltbedingungen, die in Nigeria fast durchgehend herrschende politische Instabilität, das immense Bevölkerungswachstum sowie die schwer kalkulierbaren Marktbedingungen gegeben sind - unterschiedlichen Risiken ausgesetzt sind.
Insbesondere der fehlende staatliche Ordnungsrahmen führt dazu, dass - so der Autor - in der gesamten Region soziales Kapital zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor wird. Als wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung und ökonomische Inwertsetzung sozialen Kapitals und sozialer Netzwerkstrukturen wird eine wenig fragmentierte Sozialstruktur und ein gesamtgesellschaftlicher Bezugsrahmen, der über soziale Vernetzungen auch den Zugang zu politischen Entscheidungsträgern erlaubt, identifiziert. Das ist eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen den Fulbe in der Tangale-Waja-Region und den Fulbe in Adamawa. Diese grundlegenden Unterschiede schlagen sich dann auch in den Livelihood-Systemen der untersuchten Gruppen nieder. Um die Möglichkeiten der Diversifizierung und Risikominimierung voll auszuschöpfen, die eine agropastorale Lebensweise potentiell bietet, ist ein gesicherter Zugang zu ausreichendem Land von entsprechender Qualität eine Grundvoraussetzung. Dieser Zugang muss in Nigeria unter Abwesenheit einer staatlich verlässlichen Ordnungsmacht über soziale Netzwerkstrukturen verhandelt und gesichert werden. Wo diese Strukturen entweder nicht vorhanden sind oder nicht zur Durchsetzung von Interessen - vor allem im Bezug auf gesicherten Zugang zu Land - funktionieren, können die Potentiale einer agropastoralen Lebensweise nicht ausgeschöpft werden und das Livelihood-System wird durch eine weitgehende Abhängigkeit von der Rinderhaltung bestimmt. Dies wiederum führt zu einer erhöhten Verwundbarkeit gegenüber Nahrungskrisen der auf den Zukauf von Getreide angewiesenen Fulbe in der Tangale-Waja-Region insbesondere zu Zeiten, in denen sich die terms of trade zu ungunsten der Viehpreise verschieben. Demgegenüber stehen viele Fulbe in der Adamawa Region, die das Potential der Diversifizierung voll ausschöpfen können und zum Teil in der Lage sind, Finanz- und Sachkapital zu akkumulieren, um damit auch für zukünftige Generationen den Handlungsrahmen - etwa in Form von Investitionen in die Ausbildung der Kinder - zu erweitern.
Soziales Kapital - so der Autor in seiner Schlussbetrachtung - spielt eine zentrale Rolle für die livelihoods der untersuchten Haushalte, es kann in Krisenzeiten verwundbare Haushalte absichern und verschafft andererseits Zugang zu Macht und Ressourcen. Allerdings hat nicht jeder Angehörige einer Gruppe den gleichen Zugang zu und Nutzen aus den Strukturen. Zu den ‚Eintrittskarten' in die sozialen Netzwerke gehören u. a. die Mitgliedschaft zu bestimmten Glaubensgemeinschaften (im Falle der Adamawa-Fulbe das Bekenntnis zum Islam) sowie die ethnische Herkunft und eine entsprechenden Lebensweise.
Trotz der zentralen Stellung, die soziales Kapital im (Über-)Lebenssicherungssystem der Fulbe einnimmt, kann es - wie der Autor richtig bemerkt - nicht losgelöst von anderen dem Haushalt zur Verfügung stehenden Aktiva in Wert gesetzt werden.
Insgesamt besticht die hier vorliegende Studie durch ihre dichte und methodisch durchdachte Empirie sowie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Vermisst wird am Ende allerdings eine analog zum Eingangskapitel strukturierte Zusammenführung der gut durchdachten theoretischen Überlegungen mit den empirischen Befunden. Insbesondere das im konzeptionellen Teil der Arbeit diskutierte sogenannte Mikro-Makro-Problem hätte einer abschließenden Beurteilung bedurft; die Verknüpfung anhand des konkreten Fallbeispiels bleibt aus Sicht der Rezensentin nur vage erkennbar, obwohl sowohl die Konzeption der Studie und das empirische Material als auch der vorangestellte Diskussionsrahmen eine fokussierte und pointierte Aussage zugelassen hätten. Ein pointierter Rückbezug der empirischen Ergebnisse auf die zentralen theoretischen Überlegungen hätte auch einer Weiterentwicklung der Theoriediskussion genützt.
Einige Kritikpunkte, die vom Autor nicht zu verantworten sind, seien hier abschließend angebracht. So hätte aufgrund der schlechten Wiedergabequalität ohne weiteres auf fast alle abgedruckten Bilder verzichtet werden können; ebenso fiel bereits nach einmaliger zur Handnahme das gesamte Literaturverzeichnis aus dem Einband.
Insgesamt liefert die vorliegende Studie nicht nur wichtige Einblicke in die Organisation der Livelihood-Systeme der Fulbe in Nordostnigeria, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zur derzeit aktuellen Diskussion um die Rolle und Funktion sozialen Kapitals in der wirtschaftlichen Entwicklung ländlicher Räume in Afrika. So sei dieses Buch nicht nur denjenigen empfohlen, die sich intensiver mit den Fulbe in Nordostnigeria beschäftigen, sondern auch allen Interessierten, die hier Anregungen für weiterführende Arbeiten zum Themenkomplex soziales Kapital finden werden.
Autorin: Beate Lohnert

Quelle: Geographische Zeitschrift, 94. Jahrgang, 2006, Heft 2, Seite 123-124