Kirsten Zimmermann-Schulze: Ländliche Siedlungen in Estland. Deutschbaltische Güter und die historisch-agrarische Kulturlandschaft. Stuttgart 2004 (Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg 96). 315 S.
In ihrer Dissertation hat die Verfasserin das Thema sehr detailliert und kenntnisreich behandelt. Im Zentrum der eigenen empirischen Analyse stehen die aus den zaristischen Agrarreformen des 19. Jahrhunderts unmittelbar resultierenden Umstrukturierungen des ländlichen Siedlungswesens sowie die Veränderungen der ländlichen Kulturlandschaft in den beiden ehemals russischen Gouvernements Estland und Livland. Hierbei wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Zusammenhänge zwischen den siedlungsgeographischen Neuerungen (teilweise Auflösung der Guts- und Dorfstrukturen durch Vereinödung etc.) und dem Wandel der Sozialstrukturen innerhalb der bäuerlichen Schicht gelegt, wobei sowohl die Rolle der deutschbaltischen Gutsherren in ein neues Licht gerückt als auch die negativen Auswirkungen der Reformen auf die unteren sozialen Schichten (v.a. der sog. "Lostreiber") aufgezeigt werden.
Mit Hilfe von Quellen und Originaldokumenten aus estnischen Archiven werden im zentralen Kapitel 5 (auf ca. 100 Seiten) sechs Beispielgüter mit den zu ihnen gehörenden Dörfern untersucht. Neben der Auswertung historischer Karten basieren die Erkenntnisse auf einer kritischen Interpretation der umfangreichen Memoirenliteratur deutschbaltischer Gutbesitzer. Durch die gewählte Methodik ließ sich exemplarisch eine kontinuierliche Siedlungsentwicklung einzelner Dörfer in unterschiedlichen Landesteilen aufzeigen. Dabei stellte sich heraus, dass "gerade die kleineren Dörfer häufig nicht von den Umgestaltungen durch die Verkoppelung und die Streulegung betroffen waren" (S. 263), sondern sich mannigfaltige Siedlungsveränderungen ergaben, von der deutlichen Zunahme der Gehöfte in Dörfern, über die partielle Dorfentkernung bis hin zur Liquidation bislang geschlossener Siedlungsgebilde. In allen Beispielen konnte die Verfasserin jedoch eine immer weiter auseinander klaffende soziale Schere zwischen den durch die Agrarreformen der 1860/
70er ökonomisch gestärkten selbstständigen Bauern und der (noch immer) landlosen Unterschicht dokumentieren. Zudem ist es ihr gelungen, die in der estnischen Literatur häufig zu negativ bzw. in der deutschbaltischen Geschichtsschreibung nicht selten zu verklärt dargestellte Rolle der deutschbaltischen Gutbesitzer zu objektivieren. Mehrheitlich reformwillig, kann man die Gutsherren zumindest nicht mehr pauschal für das weitgehende Scheitern der zaristischen Agrargesetzgebung des 19. Jahrhunderts verantwortlich machen.
So detailliert die Untersuchung der ländlichen Siedlungen aber auch ist, so hat es Frau ZIMMERMANN-SCHULZE andrerseits versäumt, die räumlichen Entwicklungen in der ländlichen Kulturlandschaft Estlands für den genannten Zeitraum in Form einer synoptisch angelegten Analyse zusammen zu führen. Um dies zu erreichen, wäre der Einsatz eines GIS erforderlich gewesen. Die - bezogen auf das jeweilige Untersuchungsbeispiel - lediglich in zeitlicher Reihung abgebildeten, sehr exakten historischen kartographischen Aufnahmen der Flur- und Siedlungsareale hätte man somit in eigenständig zu erstellende thematische Karten zur Flur- und Siedlungsentwicklung der untersuchten Beispieldörfer überführen und somit deutlich besser visualisieren können.
Ein erhebliches Verdienst der Verfasserin liegt insbesondere darin, dass sie die bislang sehr verstreut publizierte, in hohem Maße ideologisch geprägte und sich argumentativ erheblich widersprechende Fachliteratur zur siedlungsgenetischen Entwicklung Estlands in sinnvoll gewählten zeitlichen Schnitten (von den Anfängen bis zu Ende des 18. Jhs. in Kap. 3, die Agrarreformen und die Siedlungsgenese im 19. Jh. in Kap. 4 sowie den Entwicklungsverlauf im 20. Jh. in Kap. 6) übersichtlich zusammengestellt und inhaltlich adäquat gewürdigt hat. Unglücklich gewählt hingegen ist der im Untertitel der Arbeit verwandte Terminus der "historisch-agrarischen" Kulturlandschaft, der soweit dem Rezensenten bekannt, wissenschaftlich nicht zu belegen ist, und der im weiteren Verlauf der Abhandlung zudem nicht explizit erläutert wird.
Autor: Harald Standl