John F. Wilson, Andrew Popp (eds.): Industrial Clusters and Regional Business Networks in England, 1750-1970. Aldershot, Burlington 2003. 288 S.

In der Wirtschaftsgeschichte hat die Untersuchung von Industrieregionen in den 1990er Jahren neue Impulse durch die Fokussierung auf Netzwerke von Firmen und Institutionen erhalten. Dabei wird zunehmend auch auf Konzepte zurückgegriffen, die in der (Wirtschafts-)Geographie entwickelt bzw. angewendet werden. Es wird organisationstheoretisch nach den unterschiedlichen Unternehmensformen und ihrer Koordination gefragt und sozialtheoretisch nach der Einbindung der wirtschaftlichen Akteure in sozio-kulturelle Milieus. Angesichts des anschwellenden Korpus empirischer Studien haben sich die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen der Netzwerkforschung enorm vermehrt. John F. Wilson und Andrew Popp fragem mit ihrem Sammelband vor allem nach einem Vergleichsrahmen für die Analyse der langfristigen Entwicklung von industriellen Distrikten und Clustern. Räumlich wurde das Projekt bewusst auf England eingegrenzt, zeitlich reicht es über die gesamten 200 Jahre des industriellen Großbritanniens. Mit drei Studien, die mehr als ein Jahrhundert umfassen und weiteren acht Studien, die mehrere Jahrzehnte beschreiben, wird der selbst gesteckte Anspruch einer weiten Zeitperspektive erfüllt.
Der Band bietet ist ein breites Panorama unterschiedlicher standörtlicher Entwicklungen, durch das sich eine fruchtbare Perspektive auf die englische Industriegeschichte ergibt. Den entsprechenden Test kann man anhand der klassischen und gut untersuchten Sektoren bzw. Regionen der britischen Industrialisierung nachvollziehen, auf die der Cluster-Ansatz angewendet wird, so etwa auf die Wollindustrie in West Yorkshire und auf die Metallindustrien in der Sheffielder Region. Allein drei Beiträge zum Aufstieg und Niedergang der Baumwollindustrie in Lancashire machen das explanative Potential clustertheoretischer Ansätze deutlich. In den vielfachen Untersuchungen zum Niedergang Manchesters nach dem ersten Weltkrieg wird häufig die einförmige Optimierungsstrategie der Textilindustriellen und die zu geringe industrielle Diversifikation des Standortes konstatiert. Diese strukturellen Mängel werden in den drei Beiträgen selbst zum Erklärungsgegenstand. So verdeutlichen John F. Wilson und John Singleton die Bedeutung der regionalen Geschäftselite, die ihre eingefahrenen Gleise der Geschäftsstrategie nicht ändern wollte bzw. konnte und alternative Entwicklungspfade der Region blockierte. Steve Toms und Igor Filatotchev diagnostizieren die Herausbildung einer speziellen Governance-Struktur mit starken Geschäftsführern und schwachen, inaktiven Shareholdern. Während die Direktoren mit ihren dichten persönlichen Kontakten die Funktionsfähigkeit des gesamten Clusters bewahren wollten, gelang es den Kapitalgebern über lange Jahre nicht, eine rationalere Struktur in den Einzelfirmen zu implementieren. Sue Bowden und David Higgins heben die Bedeutung der regionalen Industrieverbände bei der Durchsetzung der Netzwerk-Position in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hervor. Diese aktive, aber im Ergebnis negative Rolle des Lancashire-Baumwolle-Netzwerkes heben Bowden und Higgins von der eher passiven Rolle des Yorkshire-Wolle-Netzwerkes ab, dessen Durchsetzungskraft nicht für eine verbändegesteuerte, branchenweite Industriepolitik reichte.
In den weiteren Beiträgen werden verschiedene Gründe für den Aufstieg von Clustern erforscht, wobei der Schwerpunkt auf dem sozial-kulturellen Milieu liegt. Steven Caunce lenkt die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Händlern, Produzenten und Bankern in der Textilindustrie von West Yorkshire. Anhand der Branchenkrise von 1825/26 belegt er die effiziente Reaktionsfähigkeit des Netzwerkes und die Bedeutung informeller, vertrauensbasierter Praktiken. Lucy Newton zeigt, wie sich ein lokales, von persönlichen Kontakten getragenes Finanz-Netzwerk in Sheffield bildete und zwischen 1855 und 1885 eine Expansion der örtlichen Stahl- und Maschinenbauindustrie beförderte. Gillian Cookson untersucht die überragende Rolle der Quäker beim wirtschaftlichen Aufstieg von Darlington. Dabei sieht er den Grund für ihre Dominanz vor allem in den überregionalen Verbindungen, die sie aufgrund ihrer religiösen Gruppenzugehörigkeit knüpfen konnten. Richard Coopey stellt die Standorte der Handschuh-Industrie dar und trifft hier ebenfalls auf einen signifikanten Einfluss religiös-kulturell basierter Netzwerke. Schließlich wendet sich Francesca Carnevali der institutionell gesteuerten Herstellung von besseren Vertrauensbeziehungen in der Birminghamer Schmuckindustrie zu, einem erstaunlicherweise erfolgreichen Eingriff in die Qualität sozialer Netzwerke.
Die abschließenden drei Beiträge behandeln unterschiedliche Transformationspfade industrieller Distrikte. Andrew Popp erzählt den Zusammenschluss der Chemieindustriellen in Widnes zu einem einzigen Konzern, der United Alkali Company, nach. Roger Lloyd-Jones und M. J. Lewis wenden sich dem Wandel von Coventry zu einem Zentrum der Maschinenbau- und Fahrzeugindustrie zu. Till Geiger beschäftigt sich mit dem Einfluss der militärischen Aufträge auf den (verzögerten) sektoralen Umbau in Manchester.
Bei aller Sorgfalt und Beschreibungsdichte der Aufsätze ist der Band jedoch vor allem als Sammlung von Fallstudien einzuordnen, kaum hingegen als Umsetzung einer gemeinsamen Forschungsperspektive. Die Darstellung von Triebkräften des Aufstiegs und der Veränderung von industriellen Distrikten wird noch mit sehr unterschiedlichen Instrumenten und Schlussfolgerungen betrieben. Daran kann auch der gut organisierte einleitende Beitrag von M. C. Casson zu ökonomischen Ansätzen der Netzwerkforschung wenig ändern. Dies soll nicht besagen, dass die Autoren theoriefern arbeiten. So greifen John F. Wilson und John Singleton auf den von G. M. Peter Swann vorgelegten Ansatz von Lebenszyklen industrieller Cluster zurück, Steve Toms und Igor Filatotchev wenden ressourcentheoretische Ansätze an, und Andrew Popp nutzt den Embeddedness-Ansatz. Vielmehr dokumentiert sich darin zum einen die Komplexität des Gegenstandes - die verschiedenen Cluster erlitten sehr unterschiedliche Schicksale, wie John F. Wilson und Andrew Popp im abschließenden Kapitel bemerken. Zum anderen stellt dies wohl den state-of-the-art eines noch jungen und faszinierenden Forschungsfeldes der Wirtschaftsgeschichte gut dar.
Autor: Christoph Scheuplein

Quelle: geographische revue, 8. Jahrgang, 2006, Heft 1, S. 75-77