Martin Seger und Friedrich Palencsar: Istanbul. Metropole zwischen den Kontinenten. Berlin, Stuttgart 2006. 358 S.

Dieses Buch ist bemerkenswert anders als die meisten stadtgeographischen Monographien, die gängigen Gliederungsschemata und inhaltlichen Erwartungshaltungen folgen. In insgesamt zehn, von Fragestellungen und Informationsgehalt sehr unterschiedlichen und nicht notwendig aufeinander abgestimmten Teilkapiteln, werden fast kaleidoskopartig Aspekte der Urbanität dieser historischen Metropole beleuchtet.

Dass dabei der Aspekt der Brückenfunktion Istanbuls zwischen Europa und Asien, zwischen Christentum und Islam sowie zwischen Tradition und Moderne eine zentrale Rolle spielt, versteht sich fast von selbst. Diese Dualismen prägen auch und fast durchgängig die einzelnen Teilkapitel, sodass die Widersprüchlichkeiten und Inkongruenzen der Entwicklung und heutigen Struktur dieser faszinierenden Stadt zu einer Art Leitmotiv der Darstellung werden.
Das erste große Hauptkapitel des großformatigen und opulent ausgestatteten Buches behandelt die Entwicklung und Bedeutung Istanbuls, gefolgt von einem als "geopolitischer Rückblick" bezeichneten Kapitel über Welt- und Hauptstadtfunktionen im Laufe seiner 2.500-jährigen Geschichte. In beiden finden sich unter den Kapitelüberschriften nicht unbedingt zu vermutende Ausführungen über sozio-ökonomische Disparitäten, zur "Primacy" in türkischem Kontext, zu Rolle und Bedeutung der Stadt als Drehscheibe des Verkehrs (einschließlich der Erdöl- und Erdgastransporte durch den Bosporus) oder über Typologien von Wohnhäusern als Ausdruck unterschiedlicher Bauphasen der Stadtentwicklung. In den Kapiteln 4 bis 7 werden "Stadtentwicklungspolitik und metropolitanes Management" (ca. 35 S.), "Stadtlandschaften und urbane Strukturen" als Ausdruck von Istanbuls funktionaler Differenzierung (35 S.), "Lebensformen und Lebenswelten", d.h. demographisches Wachstum, wirtschaftliche wie gesellschaftliche Heterogenitäten und Segregationsmuster (33 S.) oder "Leistungen der öffentlichen Hand" (S. 174-208) behandelt. Die mit zahlreichen Karten, Diagrammen und Tabellen untermauerten, immer wieder eigenwilligen und mit unerwarteten Perspektiven und Detailaspekten aufwartenden Ausführungen verstärken den Mosaikcharakter und Facettenreichtum der Stadt und ihrer Darstellung in gleicher Weise. Haben die genannten Kapitel allesamt thematische Schwerpunkte und die räumlichen Differenzierungen ihrer Phänomene zum Gegenstand, so konzentriert sich Kapitel 8 auf die Analyse eines spezifischen Stadtraumes, d.h. auf die historische Altstadt als dem zu allen Zeiten der Stadtgeschichte zentralen Kern von Konstantinopel, Byzanz und Istanbul. Die Analyse ihrer historischen Vielfalten und Bedeutungswandlungen, der zentralen Funktionen des Bazars und ihrer touristischen Potentiale macht zwar immer wieder Rückgriffe auf frühere Textpassagen des Buches nötig, stellt mit seinen 30 Seiten Umfang aber zu Recht das historische Zentrum der Stadt in einen geschlossenen analytischen Kontext. Dem "Wirtschaftsstandort Istanbul" widmet sich das letzte Kapitel, wobei insbesondere dem privaten Dienstleistungssektor (Banken, Bildung), dem Wohnungsbau sowie der neuen geopolitischen Situation der Türkei gegenüber den Kaukasus-Republiken und dem historisch turkvölkischen Zentralasien besondere Bedeutung beigemessen wird (S. 233-254).
Die Anordnung der einzelnen Kapitel und die Vielgestaltigkeit ihrer Themen, aber auch deren unorthodoxe Abfolge und die hier nicht näher zu diskutierende inhaltliche Vielfalt der immer aktuellen Informationen, belegen andeutungsweise die eingangs erwähnte erfrischende, gelegentlich auch irritierende Andersartigkeit dieser Monographie. Sie wird unterstrichen durch die beiden Rahmenkapitel: Werden in der Einleitung fast feuilletonistisch gängige Klischees über diese "Metropole zwischen den Kontinenten" zusammengetragen, so ist das Schlusskapitel ein mit über 200 Schwarz-Weiß-Fotos und Farbbildern bestückter Bildanhang. Sein Ziel soll es sein, so die Verfasser, die zuvor im Text behandelte "Vielfalt verständlich und erfassbar zu machen. Dazu wird die ‚photographische Stadtgeographie' nach fünf Themengruppen gegliedert, damit der Leser daraus ein Gesamtbild gewinnen kann. Über verschiedene Zugänge wird versucht, der Vielfalt der Stadt am Bosporus gerecht zu werden. Zu diesen zählen ein historischer Rückblick, das Wechselspiel von Tradition und Modernisierung, die Darstellung unterschiedlicher Stadtlandschaften und Lebensräume." Ob eine solche und auf jeden Fall originelle Zielsetzung tatsächlich erreicht wird, ist schwer zu entscheiden, zumal im Text selbst auf diese in Inhalt und Aussagekraft extrem unterschiedliche Kollektion nicht Bezug genommen wird. Hier hätten in den Text eingebaute Bildverweise oder - umgekehrt - unter die Fotos platzierte Zuweisungen an die Texte die Funktionen des Bildanhangs sinnfälliger und zielführender machen können. Dieses gilt gerade angesichts der vielen detaillierten Abbildungen und Tabellen, die auf ihre Weise die urbane Vielfalt, ihre Entwicklung und ihre Veränderungen insbesondere in den letzten 30 oder 40 Jahren eindrucksvoll belegen. Dazu zählen auch zwei große Farbbeilagen, die als Faltplan die bauliche Entwicklung des Großraumes dieser Metropole seit osmanischer Zeit sowie als Satellitenbild im Maßstab von 1:75.000 seine heutige Ausdehnung beiderseits des Bosporus dokumentieren. Insgesamt also eine vielseitige, mit umfangreichem und aktuellem Daten- und Bildmaterial ausgestattete Monographie, die gerade wegen ihrer unkonventionellen Konzeption immer wieder auch zur kursorischen Lektüre einzelner Teilkapitel einlädt. Wer der dem Charakter einer wissenschaftlichen Studie angemessenen nüchternen Darstellung des Facettenreichtums von Istanbul eine eher emotional-persönliche Sicht eines Insiders hinzufügen möchte, dem sei das zeitgleich erschienene Buch "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt" des Nobelpreisträgers der Literatur 2006 ORHAN PAMUK empfohlen: "Sein Istanbul" ergänzt viele der "facts and figures" von SEGER und PALENCSAR durch die Erzählungen persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen, ebenfalls durch eindringliche Alltagsfotos der Stadt und ihres Lebens verdichtet. Es stellt somit eine wunderbare literarische Ergänzung zu dieser vielseitigen und materialreichen Stadtgeographie Istanbuls dar!    
Autor: Eckart Ehlers

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 3, S. 300