Uwe Kröcher: Die Renaissance des Regionalen. Zur Kritik der Regionalisierungseuphorie in Ökonomie und Gesellschaft. Münster 2007 (Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis 2). 343 S.
Der Begriff Region hatte lange Zeit vor allem eine technische und klassifikatorische Bedeutung. Noch 2002 verzeichnet das vierbändige "Lexikon der Geographie" zu diesem Stichwort lediglich diese Inhalte: Gebiet "mittlerer Größe" und zielorientierte, konstruierte Raumabstraktion. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Geographie jedoch schon längst eine breite Abkehr von diesem chorischen Raumverständnis. Auch in Deutschland hatte sich der new regionalism bereits fest etabliert. Region hatte eine "neue Konjunktur" (Blotevogel). In diesem "neuen Regionalismus" besteht die Welt aus vielen besonderen regionalen Welten. Region ist nicht mehr ein Ordnungsschema für Beobachtungen, sondern so etwas wie eine Basiseinheit gesellschaftlicher Entwicklung.
Der Paradigmenwechsel, die "Renaissance des Regionalen", vollzieht sich seit den 1980er Jahren - unaufgeregt und fast geräuschlos - unbeeindruckt von frühen kritischen Einwänden (z. B. durch Hard) und kräftig angetrieben durch den spatial turn der postmodernen Sozialwissenschaften. Ob dieser Erfolg in überlegenen Erklärungsleistungen liegt, etwa gegenüber dem spatial approach oder einer materialistischen Perspektive der Raumproduktion, untersucht die Arbeit von Kröcher auf der Basis einer umfassenden Auswertung der Literatur. Seine Analyse führt zu einer grundlegenden Kritik des "neuen Regionalismus".
Der zentrale Begriff des "neuen Regionalismus" ist für den Verf. räumliche Nähe. Der Region wird Bedeutung und Bedeutungszuwachs zugeschrieben, begründet mit der Wirkmächtigkeit räumlicher Nähe und der aktuell zudem wachsenden Bedeutung von räumlicher Nähe. Ob und inwieweit diese Kernthese einer allgemeinen, ursächlichen Wirkung physisch-räumlicher Nähe Substanz besitzt, wird in der Arbeit auf der theoretischen wie empirischen Ebene untersucht. Dieses Vorhaben erweist sich als schwierig, weil der new regionalism gar nicht über ein geschlossenes Theoriegebäude verfügt, sondern sich in einem Konglomerat von oft nur deskriptiven, theoretisch oft kaum unterscheidbaren Ansätzen darstellt. Zum Kern des new regionalism, zumindest soweit räumlich ökonomische Prozesse thematisiert werden, werden hier die folgenden gezählt: industrial district, new industrial spaces, regionaler Cluster, innovatives Milieu, regionales Innovationssystem, social embeddedness und global city. In diesen "rekonstruiert" der Verf. den jeweiligen Begriff räumliche Nähe (Kap. 3) und findet zwei "Grundperspektiven", wie räumliche Nähe als bedeutungsvoll thematisiert wird: zum einen als Kohärenz oder Diversität (Zusammenhang bei Arbeitsteilung/Vielheit der Ressourcen), zum anderen in der Funktion der "ökonomisch-funktionalen Effizienz" (externe Effekte) oder der "sozialen Konnektivität" (Vorteile für reziprokes Handeln und Vertrauen). Dass die "regionalwissenschaftlichen" Ansätze (hiermit sind nicht wie sonst üblich regionalwissenschaftliche Theorien der regional science gemeint) sich zwar auf agglomerationstheoretische Argumentationen stützen, aber Kohärenz und die sozialen Beziehungsrelationen (Kooperation) eindeutig in den Vordergrund stellen, so das Ergebnis, überrascht nicht.
Interessanter ist, wie die Bedeutung der Nähe theoretisch begründet wird. Auch hier finden sich ganz unterschiedliche Annahmen (Kap. 4): transaktionskostentheoretische, netzwerktheoretische, innovationsökonomische, institutionenökonomische, kognitive, agglomerationstheoretische Begründungen und "quer dazu" die Annahme höherer Interaktionswahrscheinlichkeiten durch räumliche Dichte. Doch in keinem Fall, so der Verf., kann theoretisch konsistent ein Bedeutungsgewinn räumlicher Nähe hergeleitet werden. Aufgrund der Ausblendung überregionaler Strukturen, aber auch durch die Produktionszentriertheit, das technokratische Verständnis von Produktion, die Nichtberücksichtigung der Mechanismen der Wertaneignung und die Vernachlässigung der Machtfragen bleiben in entscheidenden Punkten "blinde Flecken" bestehen. Es werden nur "Versatzstücke von Gesellschaftstheorien" eingeführt (S. 198), Elemente von Gesellschaftstheorien werden willkürlich "verräumlicht" oder "regionalisiert", d. h. ohne Weiteres von der Nationalstaats- auf die Regionsebene übertragen, Regionen werden als homogene Akteure im Wettbewerb stilisiert, dem Lokalen/Regionalen wird eine soziale Kohärenz, verursacht durch Nähe, unterstellt. Kröcher arbeitet überzeugend heraus, dass der new regionalism "eine Überbetonung des Physisch-Räumlichen gegenüber dem Gesellschaftlichen", eine Loslösung räumlicher Bezüge vom Gesellschaftlichen, eine "Verabsolutierung der Region" vornimmt (S. 277 f.). Dieser "proximity imperative" ist besonders delikat (und aufschlussreich) hinsichtlich der Raumtheorie des "neuen Regionalismus", auf die noch einzugehen ist.
Schließlich wird in weiterem Kapitel ausführlich diskutiert, ob zumindest empirische Befunde einen Bedeutungszuwachs räumlicher Nähe aufzeigen (Kap. 5). Doch auch hier findet der Verf. keine stichhaltigen Belege, die eine derart weit reichende Hypothese stützen könnten, sondern nur widersprüchliche. Will man nicht, wie es etliche Vertreter im "neuen Regionalismus" tun, die Region (den Raum) zu einem Fetisch erheben, dann wird man dem Verf. zustimmen, dass räumliche Nähe als logische Qualität nur die der Möglichkeit (und nicht der Kausalität) haben kann. Damit will Kröcher aber nicht der Bedeutungslosigkeit räumlicher Nähe das Wort reden. Sein Argument lautet, dass der Bedeutungszuwachs differenziert gesehen werden muss, nämlich inwieweit er als Mittel eines bestimmten gesellschaftlichen Zwecks (z. B. gewerkschaftlicher Interessendurchsetzung, Akkumulation des produktiven Kapitals) dient oder nicht. Im letzten Kapitel skizziert er, wie die materialistische Theorie Raum und räumliche Nähe im gesellschaftlichen Produktionsprozess erklärt. Damit unterstreicht er noch einmal sein Hauptargument, dass der Streit über den Bedeutungsgewinn räumlicher Nähe keine geographische Frage ist. Der Streit kann nur auf der Ebene einer Wirtschafts- oder Gesellschaftstheorie ausgetragen werden, aber nicht auf der Ebene einer Raumtheorie.
An dieser Stelle erscheint es mir nützlich, auf die Diskussion von Raumtheorien zurückzukommen, die der Verf. an den Beginn seiner Untersuchung (Kap. 2) stellt. Der "neue Regionalismus" konzipiert Raum weder als den konkreten Lebensraum noch als den abstrakten, absoluten Containerraum, sondern als einen kontextabhängigen relationalen Raum, abhängig von den Handlungen gesellschaftlicher Subjekte. Dieses Konzept eines gesellschaftlich konstruierten Raumes scheint eine Abkehr von einem Raumdeterminismus und eine Öffnung hin zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen zu sein. Die relationale Wirtschaftsgeographie erklärt sich explizit als sozialtheoretisch fundiert, der Raum biete nur eine Perspektive auf Gesellschaftliches. Löst sich die Disziplin Geographie in Soziologie auf? Ergeben sich möglicherweise sogar "Anknüpfungspunkte" (S. 51) für eine historisch-materialistische Sozialtheorie? Kröchers Befunde zum new regionalism (Hypostasierung der Region, nur gesellschaftstheoretische Versatzstücke) wie auch seine zutreffende Feststellung, dass das relationale Konzept ein ontologisches und idealistisches Raumverständnis beinhaltet, lassen berechtigte Zweifel aufkommen.
Getrennt davon bleibt die Frage, wie gerade das Konzept eines gesellschaftlich konstruierten Raumes zu einer Renaissance des Regionalen und der Geographie führen kann. Der Verf. erklärt es vor allem darüber, dass der "neue Regionalismus" dem Neoliberalismus ein politisch passendes Weltbild formuliert, in dem Konkurrenz und Kooperation in der kapitalistischen Gesellschaft harmonisch zusammengehen, ausgedrückt in einem Raumbild, der Zusammengehörigkeit von Weltmarkt/Globalisierung und Region/Heimat oder kurz Glokalisierung. Zum anderen findet die Geographie mit dem relationalen Raumkonzept bei Nachbardisziplinen eine Akzeptanz als moderne sozialwissenschaftliche Disziplin.
Doch vielleicht muss man auch noch einen fachinternen Grund der "Regionalisierungseuphorie" bedenken, der den kritikablen Umgang des new regionalism mit Gesellschaftstheorie nicht als "Verstrickung" oder Geburtswehe betrachtet, sondern als programmatischen Ausdruck einer (Re-)Konstitution der Fachdisziplin. Region als Basiseinheit gesellschaftlicher Entwicklung beinhaltet, dass Gesellschaft aus lauter eigenartigen Gesellschaften besteht, aus sozialen Individualitäten, weil soziales Handeln immer als ein konkretes, auf die besonderen Umstände bezogenes Anpassungshandeln gedacht wird. Wenn hierin der Kern des "neuen Regionalismus" liegt, dann wird der Begriff Renaissance plausibel. Dann wäre, wie Eisel (S. 205 ff.) es formuliert hat, "diese Art von Paradigmenwechsel ... ein Fortschritt zurück, ein Paradigmenwechsel, der auf eine Rehabilitation des einzigen, nicht von anderen Disziplinen besetzten Raumbegriffs, der Landschaft, zielt, nur dass der konkrete Lebensraum den modernen Zeiten der Wissenschaft angemessen Region heißt. ... Doch dieser Gegenstand enthält keine soziologische Theorie." Und auch keine gesellschaftstheoretische Begründung räumlicher Nähe, sondern nur eben jene Versatzstücke, die Kröchers differenzierte Bestandsaufnahme und Kritik des new regionalism klar herausarbeitet.
Literatur
Eisel, U. (2004): Konkreter Mensch im konkreten Raum. Individuelle Eigenart als Prinzip objektiver Gestaltung. In: H.-D. Schultz (Hg.): ¿Geographie? Antworten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Teil 3. - Arbeitsberichte des Geographischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin 100, Berlin, S. 197-210.
Autor: Hans-Dieter von Frieling