Reinhard Stewig: Proposal for Including the Bosphorus, a Singularly Integrated Natural, Cultural and Historical Sea- und Landscape, in the UNESCO World Heritage Inventory. Kiel 2006 (Kieler Geographische Schriften 113). 102 S.
Wie der Titel der Schrift bereits verrät, handelt es sich bei ihr um keine wissenschaftliche Abhandlung im eigentlichen Sinne, sondern um ein "proposal" und bewegt sich damit im Rahmen einer Literaturgattung, die im Deutschen früher als Denkschrift bezeichnet wurde; im internationalen Sprachgebrauch könnte man es als ein Memorandum bezeichnen. Die Schrift beruht auf den offensichtlich intensiven Kenntnissen, die sich der Autor über ein halbes Jahrhundert über die Türkei und speziell den Bosporus angeeignet hat. Diese lange Vertrautheit mit der Region wird nicht zuletzt anhand des Bildmaterials dokumentiert, wenn etwa in dem Band Aufnahmen aus dem Ende der 1950er Jahre mit neuen Aufnahmen kontrastiert werden. Teillandschaften der Bosporus-Region werden mit ihren kulturhistorischen Denkmälern in knapper Form vorgestellt, so dass die Schrift auch bei der Vorbereitung einer Studienreise ergänzend gute Dienste leisten kann. Aus Sicht einer historisch orientierten Kulturgeographie hätte man sich allerdings präziseres Kartenmaterial zur Abgrenzung und Verortung der vorgestellten Teillandschaften, Städte und der wichtigen Baudenkmäler gewünscht.Der Autor nimmt die UNESCO-Welterbekonvention und ihre Umsetzungsrichtlinien als Referenzrahmen gegeben hin. Es erfolgt folgerichtig keine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Schlüsselkonzepten der Konvention von einem Außenstandpunkt, etwa aus der Perspektive einer zeitgenössischen Kulturgeographie. Lediglich an einer Stelle macht der Autor einen, m.E. allerdings wenig plausiblen Vorschlag, wenn er empfiehlt, den von der UNESCO verwendeten Begriff der integrity einer Landschaft oder einer Stätte durch den der integration zu ersetzen (S. 70). Die UNESCO benutzt den Begriff der Integrität als Kriterium der Intaktheit, auch im Sinne von Vollständigkeit einer Stätte des Kultur- und Naturerbes. Nun ist es sicher legitim, die von der UNESCO verwendeten Konzepte kritisch zu befragen. In der Logik des Kulturerbeschutzes macht STEWIGs Vorschlag, integrity durch integration zu ersetzen, allerdings kaum Sinn. Er ignoriert den allgemeinen internationalen, sich aus der lateinischen Syntax ableitenden unterschiedlichen Sprachgebrauch beider Begriffe, wonach Integration einen Prozess bezeichnet, Integrity/Integrität hingegen auf einen Zustand oder eine Qualität verweist - die bisherige Verwendung von Integrität als Kriterium zur Beschreibung der "Unversehrtheit" potentieller Welterbestätten erscheint damit angemessener. Auch die auf S. 70 recht unmotiviert daherkommende Verwendung des System-Begriffs, in der offensichtlich alle möglichen Landschaftselemente bzw. physisch-materiellen Objekte (oder soziale Institutionen?) zu einem "System" verbunden werden sollen, von der Wasserfläche des Bosporus, den Hängen der Küstenlinie, über Schlösser und Schulen bis hin zu Kaffeehäusern, wirkt wenig überzeugend und nicht nachvollziehbar ausgeführt.
Ein "Proposal" zur Einschreibung einer Welterbestätte ist kein offizieller Nominierungsantrag und so braucht ein solcher Vorschlag auch nicht alle Anforderungen, die an einen solchen Antrag gestellt werden, zu erfüllen. Allerdings kann man von einem Proposal erwarten, dass es zumindest vorläufig zentrale Linien und Begründungszusammenhänge eines solchen Nominierungsantrags vorzeichnet, insbesondere im Hinblick auf die von der UNESCO angelegten Kriterien zur Beurteilung der Zuschreibung eines "outstanding universal value" potentieller Welterbestätten. Zwar versucht der Autor den Nachweis zu führen, dass die Bosporus-Region über einen solchen "outstanding universal value" im Sinne der Welterbekonvention verfüge. Allerdings geht er auf die bekannten und eingeführten Kriterienkataloge zur Feststellung eines outstanding universal value, wie sie in den Umsetzungsrichtlinien zur Welterbekonvention zu finden sind, nicht ein. Auch die Ausführungen zur Authentizität und Integrität der Stätte müssten bei einem Nominierungsantrag deutlich präzisiert werden. Die Frage der Abgrenzung einer möglichen Welterbestätte Bosporus, die für planerische, politische und juristische Kontexte relevant wird, wird vom Autor aufgeworfen (S. 6). STEWIG schlägt die Sichtbeziehung von Objekten zur Wasserfläche des Bosporus als Kriterium zur räumlichen Abgrenzung einer Welterbestätte vor - was ästhetisch Sinn machen kann, aber gerade zu dem von STEWIG angedeuteten systemischen Verständnis einer Landschaft kaum passen dürfte. Ein erstes Proposal darf es sich allerdings erlauben, bezüglich der exakten Abgrenzung einer nominierten Welterbestätte offen zu bleiben und eventuelle spätere politisch-planerische Aushandlungsprozesse um die Grenzen nicht zu präjudizieren.
Dem Vorschlag STEWIGs ist zu wünschen, dass es von türkischen Behörden und den betroffenen Kommunen aufgegriffen und so mittelfristig zu einer Einschreibung der Landschaft des Bosporus auf die Welterbeliste führen wird.
Autor: Thomas M. Schmitt