Ulrich Mai (Hg.): Masuren: Trauma, Sehnsucht, leichtes Leben. Zur Gefühlswelt einer Landschaft. Münster 2005 (Bielefelder Geographische Arbeiten 6). 333 S.
Landschaften bestehen aus zwei Komponenten: aus einer Bezeichnung und einem Hof von Konnotationen, die mit dieser Bezeichnung verbunden sind. Und je weniger einzelne Menschen oder Menschengruppen Anteil haben an der materiellen Aneignung des physischen Substrats eines bestimmten Raumausschnitts, desto eher tendieren sie dazu, diesen Raumausschnitt mit symbolischem Mehrwert aufzuladen und als "Landschaft" wahrzunehmen.
So ist der landschaftliche Blick in bäuerlichen Kreisen auch weitaus seltener anzutreffen als etwa bei Sparkassenangestellten oder gar Pädagogen. Neben dieser berufsbezogenen Entfernung von der arbeitsvermittelten Erfahrung des physischen Raums ist auch die raumzeitliche Distanz als Faktor der Wahrnehmung von Landschaften anzusehen. Es scheint gerade bei Emigranten, Flüchtlingen usw. eine Tendenz zur retrospektiven Landschaftswahrnehmung zu existieren, welche die verlassene Heimat zu einem Ort des Versprechens werden lässt, dessen Einlösung durch die Auswanderung, Vertreibung etc. unmöglich wurde. Gerade der prospektive Charakter von Erinnerung (vgl. Esposito 2002) verleiht der verlorenen Herkunftsregion den Zauber einer einzigartigen Landschaft, deren besondere Qualität es war, Möglichkeiten der Realisierung eines "guten Lebens" geboten zu haben - Möglichkeiten, die durch die Abwanderung zerstört wurden.
Das verlorene Territorium zu besuchen, ohne es wiedergewinnen zu können, konfrontiert die Landschaftserinnerung notwendigerweise mit den heutigen Gegebenheiten; dieser Vergleich fällt zumeist sehr deutlich zuungunsten der aktuellen Situation aus. Nur mit großem Aufwand gelingt es, die erinnernde Landschaftswahrnehmung so zu immunisieren, dass störende Elemente unsichtbar bleiben oder zumindest weitgehend in den Hintergrund treten (vgl. Beck 2000 über das Ostpreußische an Ostpreußen in der Ostpreußenliteratur). In den meisten Fällen jedoch, vor allem wenn es sich nicht um in der Bild(re)produktion geschulte Intellektuelle handelt, verhält sich die (aktuelle) Landschaftswahrnehmung doch recht kontrastiv zur (scheinbar auf Vergangenes sich beziehende) Landschaftserinnerung.
Für die ansässige Bevölkerung entsteht Landschaft in einem recht ähnlichen Prozess, und zwar wenn Raumelemente mit unerwünschten sozialen und ökonomischen Entwicklungen einhergehen. Dann verweist die Umgestaltung räumlicher Ausstattung recht direkt auf gesellschaftliche Veränderungen, und die Retrospektive auf die positiv imaginierte Vergangenheit wird zur Erinnerung einer besonderen und heilen Landschaft.
Der vorliegende Band widmet sich mit der Region Masuren einem Gebiet, das sich aufgrund der umfangreichen Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu anbietet für die Untersuchung der skizzierten Prozesse. Der als Einleitung fungierende Beitrag des Herausgebers U. Mai ("Symbolische Aneignung und Ethnizität in Masuren"), eine überarbeitete Version des Forschungsantrags, durch den die in dem Band versammelten Untersuchungen finanziert wurden, wählt als Leitbegriff die "symbolische Aneignung". Darunter ist zu verstehen, dass einzelne Landschaftselemente natur- wie kulturräumlicher Art von den Individuen als Symbole für ihre Zugehörigkeit zur regionalen Gesellschaft verstanden werden, mithin Element des Zusammengehörigkeit ausdrückenden Zeichenvorrats sind. Veränderungen dieser Landschaftselemente weisen dann zugleich auch auf Veränderungen der sozialen Verhältnisse hin oder drohen diese zumindest an. Zielsetzung des Projekts war, die symbolische Aneignung Masurens bei verschiedenen ethnisch kategorisierten Bevölkerungsgruppen (Deutsche, Polen, Ukrainer) vergleichend zu untersuchen. Die am häufigsten angewandte Untersuchungsmethode war das (zumeist biographische) Interview, durch das anhand von Lebensgeschichten die symbolische Aneignung nachzuvollziehen versucht werden sollte.
So schildert M. Wagner unter Zuhilfenahme von Interviews die "Neubesiedlung Masurens nach 1945 aus der (heutigen) Perspektive polnischer, deutscher und ukrainischer Einwohner"; auf ähnlichem Material gründen der Beitrag von Barbara Eßer ("'Geschichte' als ein Aspekt der sozialen Konstruktion von Heimat. Beobachtungen in Masuren") und ein weiterer Artikel von M. Wagner ("'Keine von uns hat geweint". Die Erfahrung von Gewalt und Diskriminierung im Generationenverhältnis von Angehörigen der deutschen Minderheit"). Deutlicher und vor allem explizit thematisieren zwei Beiträge des Herausgebers den Umstand, dass biographische Interviews weniger als historische Quellen geeignet sind denn als Hinweis auf vorhandene Stereotypen und Selbstverortungen ("Die liederliche Landschaft: Ethnische Stereotype unter Angehörigen der deutschen Minderheit in Masuren" - "'Das einfache Leben': Zur Wahrnehmung der masurischen Landschaft unter Neusiedlern"). Welche Rolle Masuren in der polnischen Literatur spielt, erläutert der Aufsatz von W. Lukowski ("Gesellschaftliche Wirklichkeit und Natur Masurens in polnischer Literatur unter Neusiedlern").
An diesen Artikeln wird deutlich, dass das zugrunde liegende Forschungskonzept, wie es in der Einleitung erarbeitet wurde, eine eher lockere Richtschnur der Untersuchungen war. Statt eine Operationalisierung des Forschungsbegriffs zu leisten und ihn entsprechend in empirische Arbeit umzusetzen, dokumentieren die angeführten Aufsätze in erster Linie eine Forschungspraxis, welche in bekannter Manier Interviewschnipsel zu einer Aussagenkette verbindet, welche von Kommentaren des Autors zusammengehalten wird und doch nur die Illustration der gedanklichen Ausgangsposition des Autors wiedergibt. Eine Reflexion der eigenen Vorwegannahmen, was doch zu den Stärken qualitativer Forschung gehören könnte, falls eine intensive Befragung sowohl der eigenen Position als auch des erhobenen Materials durchgeführt wird, findet sich in den Interviewauswertungen nur randlich.
Zwei Beiträgen des Bandes gelingt es jedoch, das Forschungskonzept zumindest aufzugreifen. M. Kielar ("Über die Entstehung von Heimat in masurischen Dörfern durch symbolische Aneignung des Raumes") untersucht am Beispiel von zwei Dörfern, wie Neuansiedler nach 1945 die vorgefundene Raumausstattung verändert haben und in dieser bzw. durch diese Veränderung zu einem Miteinander innerhalb der zusammengewürfelten Dorfgesellschaften gefunden haben. Problematisch ist in diesem Artikel jedoch ebenso wie in anderen Beiträgen des Bandes die mangelhafte Klarheit über die grundsätzliche Aussagequalität von Interviews; auch hier werden Interviews als repräsentative Aussagen über gesellschaftliche Tatsachen verwendet anstatt sie als eine mögliche und in den einzelnen Dörfern auch vorhandene Wahrnehmung von Realität zu verstehen.
In einem sehr instruktiven Beitrag gelingt es demgegenüber W. Lukowski, solche methodischen Fallstricke zu vermeiden und vor allem die gesellschaftliche Relevanz einer symbolischen Aneignung dinglicher Raumausstattung zu thematisieren ("Die Inszenierung lokaler Identität in ‚traditionslosen' Gesellschaften: das Beispiel Masuren"). In einer überzeugenden Art und Weise arbeitet der Autor heraus, wie Raumelemente nach 1989 neue Bedeutungen erhielten und als Symbole vergangener sozialer Verhältnisse zu Elementen der Auseinandersetzungen um die aktuelle Wahrnehmung und Bewertung sozialer Veränderungen wurden.
Zugleich verweist der Artikel implizit wie auch der gesamte Band in seiner Zusammenstellung darauf, dass offensichtlich Untersuchungen eines gesamten Forschungszusammenhangs durchgeführt werden können, ohne den eigenen Leitbegriff zu verwenden oder zumindest adäquat zu operationalisieren. Dies scheint kein Zufall zu sein: Ohne diesen Begriff wurden gelungene und weniger gelungene Forschungsarbeiten durchgeführt; das Fehlen des Begriffs als untersuchungsleitender Wegweiser ist also offensichtlich nicht nur nicht weiter aufgefallen, sondern hat die eigene Forschungstätigkeit auch nicht beeinträchtigt. Dies dürfte daraus resultieren, dass die Forschungsgruppe zu keiner empirisch tragfähigen Operationalisierung vorgedrungen ist. Ob dies am Begriff selbst bzw. dessen theoretischer Füllung liegt oder ob er aus anderen Gründen keine Verwendung fand, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Zumindest zeigt der Band sehr gut, welche Relevanz empirische Arbeit für die Entwicklung von Theorie haben kann: nicht um die Widerlegung von Theorie geht es, sondern um die Irrelevanz bestimmter theoretischer Zugänge für die empirische Forschung. Dies gezeigt zu haben ist neben den teilweise recht interessanten Sachinformationen zu den Gegebenheiten in Masuren ein herausragendes Merkmal des vorliegenden Buches.
Literatur:
Esposito, Elena 2002: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt/M.
Beck, Günther 2000: Warum sieht Ostpreußen (immer noch) so ostpreußisch aus? Anmerkungen zur mentalen Repräsentation regionaler Einheiten. In: Aschauer, Wolfgang, Günther Beck Karl Haußer (Hg.): Heimat und regionale Identität. Flensburg (Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften 10). S. 79-87.
Autor: Wolfgang Aschauer