Friedrich Stang: Indien. Darmstadt 2002 (Wissenschaftliche Länderkunden). 404 S.

Nach der vehementen Kritik an der regionalen Geographie auf dem Geographentag in Kiel 1969 hatte die klassische Länderkunde zunächst ausgedient. War sie doch - vor allem von jungen Geographinnen und Geographen - als unwissenschaftlich (weil bloß deskriptiv und nichts erklärend), als gesellschaftlich irrelevant (weil nicht zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragend) und sogar als ideologisch (weil gesellschaftliche Ungerechtigkeiten tolerierend) attackiert worden. Diese Kritik betraf vor allem die geographische Entwicklungsländerforschung.

Als eine Reaktion entstand die Geographische Entwicklungsforschung, die nicht mehr das Land und den Raum, sondern Entwicklung und damit die Menschen mit ihren sozialen Problemen in den Mittelpunkt gestellt hat. Geographische Entwicklungsforschung zielt darauf ab, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse in ihren räumlichen Dimensionen und Strukturen zu erfassen und zu erklären. Damit stehen nicht nur, wie bei der herkömmlichen Entwicklungsländergeographie, Länder und Regionen an sich, nicht mehr geographische Forschungen in oder über Entwicklungsländer im Vordergrund des Forschungsinteresses, sondern die räumliche Artikulation und Relevanz von Entwicklung und Unterentwicklung (Scholz 2004, Bohle 2006).
Die Länderkunde "Indien" von Friedrich Stang zeigt sich von dieser Entwicklung unberührt. Die Ansätze der Geographischen Entwicklungsforschung werden nicht zur Kenntnis genommen, Entwicklungstheorien bleiben unerwähnt, Entwicklungsprobleme werden zwar konstatiert, aber weder systematisch erklärt noch wissenschaftlich bewertet. Die betroffenen Menschen tauchen meist als bloße Kategorien auf (der Inder; der Arbeiter), sie werden als Opfer, aber nicht als Akteure behandelt. Ihre "Arbeitslosigkeit" wird zum Grundproblem erklärt, obwohl es diese Kategorie der Armen in Indien nicht gibt, und all die täglichen Anstrengungen der Benachteiligten, ihr oft erbärmliches Leben zu meistern, bleiben in dieser Länderkunde unerwähnt. Handlungs- und akteursorientierte Geographische Entwicklungsforschung (Krüger 2003) findet nicht statt.
In der Einführung zu seiner rund 400-seitigen geographischen Landeskunde von Indien setzt sich Friedrich Stang zum Ziel, Indien als ein anderes Land, als eine andere Welt zu beschreiben und einzuordnen. Seine Länderkunde will kein Nachschlagewerk sein, sondern es geht ihm darum, Zusammenhänge zu vermitteln. Als Schwerpunkte - und hier ist Friedrich Stang ein exzellenter Indien-Kenner - werden Industrien und Städte betont, weil hier die zukünftige Entwicklung Indiens liege. Sind die überbordenden Megastädte Indiens, so mag sich der Leser da fragen, tatsächlich die Entwicklungspotentiale der Zukunft? Ist die industrielle Entwicklung wirklich Indiens Zukunftschance? Welche "Zusammenhänge" (s.o.) sind damit gemeint? In Stang's Länderkunde werden diese Fragen nicht wirklich thematisiert, und es zeigen sich der vage (unwissenschaftliche) Charakter seines Entwicklungsbegriffes und die (unausgesprochene) modernisierungstheoretische Grundposition des Autors. Dazu passt auch, dass Stang kein Wort über die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und struktureller Unterentwicklung verliert. Betont wird lediglich die (wie auch immer definierte) "einigende" Rolle der europäischen Kolonialmächte (S. 35). Auch über die Situation Indiens in der globalisierten Welt wird nicht gesprochen. Der modernisierungstheoretische Grundtenor des Buches zeigt sich auch in der Betonung des Kastenwesens als eines zentralen Entwicklungshemmnisses. So konstatiert Stang zum Beispiel für Kerala "extreme Auswüchse des Kastenwesens" und folgert, dass diese "extrem konservative Gesellschaftsordnung und völlige Unterdrückung dazu beigetragen haben mag, dass die katholischen Missionare und später die Kommunisten hier so erfolgreich waren". Dennoch sei "sogar bei Christen und Kommunisten das Kastenwesen ausgeprägt" (S. 341).
Die Indien-Länderkunde von Friedrich Stang markiert also die Rückkehr zur klassischen Landeskunde, zur regionalen Geographie über ein Entwicklungsland. Zur regionalen Geographie von Indien leistet dieses Buch dann aber auch einen hervorragenden - wenn auch bloß beschreibenden und einordnenden - Überblick. Dem klassischen länderkundlichen Schema folgend werden neben Naturraum und Geschichte die Bevölkerungen und die Städte behandelt. Es folgt ein großer Abschnitt über die Landwirtschaft und den ländlichen Raum, der allerdings zum Teil zu pauschalisiert behandelt wird. Die Stärken dieser Indien-Länderkunde liegen zweifellos in der differenzierten und besonders kenntnisreichen Beschreibung von Industrie, Städten, Verkehr und Tourismus. Auch die zusammenfassende Darstellung von vier geschickt ausgewählten Großregionen Indiens vermag die Vielfalt dieses riesigen Landes anschaulich zu vermitteln. Fast 100 hervorragende Farbkarten und über 80 anschauliche Farbfotos illustrieren dieses Buch in ausgezeichneter Weise.
Wenn man die oben angeführte Kritik an der Entwicklungsländergeographie nicht allzu ernst nimmt, und wenn man einen Überblick über diesen so hochkomplexen Erdraum gewinnen möchte, so ist dieses Indien-Buch wirklich zu empfehlen. Ich jedenfalls werde es meinen Studierenden bei der nächsten Indien-Exkursion wieder an die Hand geben - aber als Nachschlagewerk.
Literatur
Bohle, Hans-Georg 2006: Geographische Entwicklungsforschung, In: Gebhardt, Hans et al. (Hg.), Lehrbuch der Geographie. Heidelberg.
Krüger, Fred 2003: Handlungsorientierte Entwicklungsforschung: Trends, Perspektiven, Defizite. In: Petermanns Geographische Mitteilungen 147/1, S. 6-15.
Scholz, Fred 2004: Geographische Entwicklungsforschung. Methoden und Theorien. Berlin, Stuttgart.
Autor: Hans-Georg Bohle

Quelle: geographische revue, 9. Jahrgang, 2007, Heft 1/2, S. 89-91