Dirk Bronger, Johannes Wamser: Indien - China. Vergleich zweier Entwicklungswege. Münster u.a. 2005 (Asien - Wirtschaft und Entwicklung, 2). 320 S.

Unter den "Ankerländern", die als neue Akteure neben der Triade USA-EU-Japan zunehmend Einfluss auf den Prozess der Globalisierung gewinnen, sind China und Indien die mit Abstand wichtigsten. Beide zusammen stellen 37 % der Weltbevölkerung und sind intensiv in den Globalisierungsprozess eingebunden. Noch bis in die 1980er Jahre auf der Bühne der Weltwirtschaft kaum wahrnehmbar, gehören beide Subkontinentalstaaten seit gerade einmal 20 Jahren (China) bzw. nur 10 Jahren (Indien) weltweit zu den Hochwachstumsregionen und Investitionsschwerpunkten.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass immer noch 16,6 % der chinesischen und 34,7 % der indischen Bevölkerung in absoluter Armut leben, das heißt weniger als 1 US$ pro Kopf und Tag zur Verfügung haben, hinterfragen die Bochumer Wirtschaftsgeographen Bronger und Wamser den Begriff "Entwicklung". Damit verbinden sie über nationalstaatliche Wirtschaftserfolge hinaus die Teilhabe eines immer größeren Anteils der Bevölkerung am Wirtschaftswachstum. Ihren Anspruch, dass sich Entwicklung gesellschafts- und raumdurchdringend vollziehen muss, damit möglichst viele Menschen am wachsenden Wohlstand tatsächlich partizipieren, verfolgen die Autoren für China und Indien auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen: makroökonomisch auf der nationalstaatlichen, meso- und mikroökonomisch auf der regionalen, subregionalen und lokalen Ebene. Darstellung und Analyse der Disparitäten auf unterschiedlichen Maßstabsebenenen in Kombination mit gesellschaftlichen Unausgewogenheiten werden mit zahlreichen Statistiken gut belegt und sind in dem vorgelegten Band eindrucksvoll gelungen. Der länderkundliche Vergleich überzeugt durch die sorgfältige Auswahl und Strukturierung funktionell und räumlich passender Beispiele.
Auf nationalstaatlicher Ebene konzentriert sich die Untersuchung zunächst auf die Bevölkerungsdynamik als "Kardinalproblem der Zukunft", das allerdings ausschließlich als beängstigend ("das Boot ist voll") gesehen wird. Neue Daten zur Totalen Fertilität, die für China eine rapide Alterung und einen enormen Bevölkerungsrückgang erwarten lässt, werden dabei allerdings nicht berücksichtigt (vgl. dazu die zeitgleich erschienene Studie von Robert Stowe England "Aging China. The Demographic Challenge to China's Economic Prospects." Westport 2005, 19 ff.). Die anschließende Analyse des durchaus unterschiedlichen Wirtschaftswachstums beider Länder wäre noch überzeugender, wären die Ursachen der Schnelligkeit und die Intensität des Entwicklungsprozesses in einem nichtdemokratischen Land wie China kritischer hinterfragt worden (z.B. die Missachtung individueller Landnutzungsrechte zwecks Bodenzusammenlegung, was eine Realisierung großer Entwicklungsprojekte in ungewöhnlich kurzer Zeit erlaubt). In diesem Zusammenhang bleibt unverständlich, warum der Faktor "Kultur" zwar anfangs erwähnt wird (Unterschiede "im Bewusstsein der Öffentlichkeit", 5 ff.), für die Analyse der Entwicklung beider Länder aber keine Rolle mehr spielt. Sicherlich ist "Kultur" nicht messbar und schon gar nicht deterministisch zu verstehen, dennoch allemal aufschlussreich, beispielsweise im Hinblick auf die unterschiedliche Instrumentalisierung des Phänomens "Konfuzianismus" in China je nach Entwicklungsphasen.
Diese kritischen Anmerkungen sollten jedoch nicht überbewertet werden. Je kleiner die gewählte räumliche Maßstabsebene, um so stärker und überzeugender sind die vorgelegten Analysen. Das in China stürmische und in Indien immerhin beachtliche Wirtschaftswachstum geht zu Lasten enormer und zunehmender regionaler Disparitäten zwischen den Provinzen (China) bzw. den Bundesstaaten (Indien). Diese Unterschiede werden in ihrer räumlichen und soziopolitischen Bedeutung sorgfältig dokumentiert und problematisiert. Dies trifft noch deutlicher auf der subregionalen und lokalen Ebene zu, wobei die Auswahl der Untersuchungsregionen methodisch gut überlegt ist. Als "reicher, metropolitan dominierter Raumtyp" werden für China die Provinz Jiangsu und für Indien der Bundesstaat Maharashtra nach Bezirken und sogar Kreisen/kreisfreien Städten (China) bzw. nach Distrikten (Indien) differenziert und analysiert, dies nicht nur bezogen auf die gegenwärtige Situation, sondern auch auf die Dynamik der Zeit seit 1950, unter Einbeziehung der beiden Megastädte Shanghai und Bombay. Nach ähnlichen Kriterien werden unter dem folgenden Raumtyp "arme Binnenregionen" die Provinz Sichuan und der Bundesstaat Uttar Pradesh gegenübergestellt. Schließlich geht es beim Vergleich "boomende Küstenregionen" um die Provinz Fujian und den Bundesstaat Kerala, unter Einschluss des zusätzlichen innerchinesischen Vergleichs zwischen der Provinz Fujian und dem Territorium der Republik China auf Taiwan, der im Hinblick auf eine gesellschafts- und raumdurchdringende Entwicklung klar zugunsten Taiwans ausfällt. Alles in allem ein außerordentlich gründlich recherchierter, für die geographische Entwicklungsforschung sehr anregender Band, dem viele Leser zu wünschen sind - die allerdings bereit sein sollten, die vielen überflüssigen Rufzeichen, Parenthesen und Klammern gelassen zu ertragen.
Autor: Winfried Flüchter

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 52 (2008) Heft 1, S. 67-68