Dieter Boris: Metropolen und Peripherie im Zeitalter der Globalisierung. Hamburg 2002. 213 S.

Verflogen ist der neoliberale Entwicklungs- und Modernisierungsoptimismus vom Beginn der 1990er Jahre, der im Durchbruch zur ›globalen Marktwirtschaft‹ die Unterschiede zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt verschwinden sah. Doch wie sich das Verhältnis von Metropolen und Peripherie unter den Bedingungen der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Entstaatlichung, Entterritorialisierung und Entgrenzung entwickelt, wird bisher zu wenig erforscht.

Verf. stellt sich die Aufgabe, "die zentralen Momente von Unterentwicklung unter den heutigen Bedingungen [...] begrifflich zu fassen und dabei Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu identifizieren" (9). Er grenzt sich von entwicklungstheoretischen Diskussionen ab, in denen angesichts von Differenzierungsprozessen in der sog. Dritten Welt deren Ende ebenso wie das der ›großen‹, universalistischen Entwicklungstheorie beschworen wird, während diese oft als nicht minder universalistische Modernisierungstheorie durch die Hintertür wieder Einzug hält (23). Jedoch prägen asymmetrische Weltmarktbeziehungen und innere strukturelle Heterogenität nach wie vor viele›Entwicklungsländer‹, die sich von den Metropolen weiterhin qualitativ unterscheiden. Verf. widerspricht auch der These, die Dritte sei in die Erste Welt hinein diffundiert, womit sich ein archipelisiertes Weltsystem herausbilde (9): Weder hat sich das "Metropolen-Peripherie-Verhältnis [...] aufgelöst, noch hat sich für große Bevölkerungsmassen an der strukturell asymmetrischen Beziehung viel geändert." (8) Die zu beobachtenden Differenzierungen stellten jedoch neue Anforderungen an die marxistische Theoriebildung, welche einen kohärenteren, breiteren Entwicklungszusammenhang deutlich machen müsse (23), nicht homogenisierend vorgehen dürfe und sowohl unterschiedliche Entwicklungsdynamiken erklären als auch progressive Pfade herausarbeiten müsse, ohne dabei strukturelle Zwänge aus dem Auge zu verlieren.
Noch Mitte des 20. Jh. bestand ein denkbarer Pfad in der relativen Abkopplung vom Weltmarkt - "davon scharf zu unterscheiden" sind die heutigen Prozesse einer "partiellen, zwangsmäßigen Abkoppelung einer erheblichen Zahl von Entwicklungsländern (›Vierte Welt‹)" (52). Auch regionale Integrationsprojekte á la Mercosur rufen Skepsis hinsichtlich ihrer Erfolgschancen hervor, denn "die bisherigen Versuche" konnten "regelmäßig die entsprechenden Hoffnungen nicht erfüllen" (52). Die politisch und ökonomisch untergeordnete Integration in globale Systeme, ermöglicht z.T. dynamische kapitalistische Wachstumsschübe, setzt die Länder jedoch einer verschärften Krisendynamik aus, die sich v.a. in Finanzkrisen mit drastischen Auswirkungen für die Bevölkerungen zeigt.
In der Mainstream-Literatur wird der Ausbruch dieser Krisen meist auf Fehler der Politik der jeweiligen Nationalstaaten zurückführt. Deren Handlungsmöglichkeiten schätzt Verf. jedoch skeptisch ein: Weltmarktzwänge schaffen sowohl durch Überakkumulation, Wechselkursflexibilität und Liberalisierung des Geld- und Kapitalverkehrs sowie Beschleunigung der Finanztransaktionen (56f) strukturelle Krisenanfälligkeit als auch spezifische Dilemmata, in denen nur zwischen kleinerem und größerem Übel zu wählen sei, z.B. verschiedenen Varianten von Wechselkurspolitik mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen (60). Regionale oder kulturelle Besonderheiten, die ebenfalls als Gründe für Erfolg oder Misserfolg diskutiert werden, stellt er nicht in Abrede - merkt aber an, dass ihnen jeweils post factum positive oder negative Bedeutungen zugeschrieben werden (60/61). Trotz Sympathie für die globalisierungskritischen Bewegungen räumt Verf. ihnen nur Gestaltungschancen ein, wenn sie ihre internen Probleme überwinden können: dies erfordere konzeptionell-programmatische Weiterentwicklung, die Herausarbeitung von Wegen und Mitteln der Umsetzung ihrer Forderungen, die "Medienfalle" zu umgehen, inhärente Nord-Süd-Konfl ikte konstruktiv zu lösen (75ff). Eine eingehende Analyse der inneren Widersprüche transnationaler Protestbewegungen fehlt allerdings.
An Hand von Fallbeispielen geht es im zweiten und dritten Teil um die Stabilität der Demokratie in Lateinamerika sowie die Entwicklung von Politik, Ökonomie und sozialem Widerstand in Mexiko. Die Spezifika der jeweiligen Weltregionen, v.a. die Dynamik von Diktatur und Demokratie einerseits, importsubstituierender Entwicklung, abhängiger Weltmarktintegration und neoliberaler Wende andererseits, machen die Ergebnisse der Analyse nur bedingt übertragbar - was die Anforderungen an eine erneuerte Entwicklungstheorie wiederum verdeutlicht. - Die versammelten Aufsätze sind z.T. schon an anderer Stelle erschienen und datieren bis 1994 zurück. Die älteren können trotz Überarbeitung neuere Entwicklungen nicht mitreflektieren, was angesichts der stürmischen Entwicklung in Lateinamerika um so stärker ins Gewicht fällt. Auch hätte dem komplexen
Thema eine monographische Bearbeitung besser getan - viele der kompetent aufgeworfenen Fragen bleiben weitgehend unbearbeitet.
Autorin: Gisela Neunhöffer

Quelle: Das Argument, 45. Jahrgang, 2003, S. 493-494