Birthe Kundrus (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt/M 2003. 327 S.

Als Klaus Theweleit die Männerphantasien im Milieu der Freikorps untersucht hat, aus denen sich in der Weimarer Republik die Kernzellen der Nazi-Bewegung rekrutierten, ist er unter anderem auf Kapitän Ehrhardt und Lettow-Vorbeck gestoßen. Ist es nicht symptomatisch, dass beide schon am Vernichtungskrieg gegen die Herero in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika beteiligt waren? Die deutsche Kampagne dort schildert einer der meistgelesenen Romane des Deutschen Kaiserreichs, Peter Moors Fahrt nach Südwest von Gustav Frenssen aus dem Jahr 1906. Vergleichbar der bekannten Rede Himmlers zur SS-Moral wird da von den deutschen Kolonialsoldaten gefordert, sie müssten "noch lange hart sein und töten", sich dabei aber "als Volk" um "hohe Gedanken und Taten bemühen". Lapidar heißt es, dass dem kolonialen Soldaten Menschenleben ganz gleichgültig wäre, solange es nur von "anderer Rasse" sei. In der kolonialen Kontaktzone war der rassenhygienische Ernstfall eingetreten, und hier wurden Phantasmagorien auf die Bühne gestellt, deren Geschichte sich zur Mentalität der Nazi-Bewegung und bis zu den Rassismen unserer Tage weiterverfolgen lässt. Unter den deutschen Kolonialherren grassierte die Furcht vor der Auflösung des eigenen Körperpanzers im Malariasumpf und durch die sexuelle Hybridisierung mit der verführerischen Exotin, vor der nur die weiße Krankenschwester als verdichtete Allegorie von Rassen- und Tropenhygiene Rettung versprach.
Schon für Ludwig Bamberger, einen linksliberalen Politiker des deutschen Kaiserreichs, war dessen imperiales Ausgreifen Ausdruck einer Kolonialmanie. 1886 kritisierte er im Reichstag die frisch erworbenen deutschen Kolonien als "teures Spielzeug für die nationale Phantasie". Kundrus benutzt diese Bemerkung als Aufhänger für die Problemstellung des Bandes (7). Der von Christian Geulen ins Spiel gebrachte Carl Peters ist ein exemplarischer Fall für den Übereifer, den die bei der Verteilung der Welt schon fast zu spät gekommenen deutschen Kolonisatoren an den Tag gelegt haben. Peters betrachtete die koloniale Expansion als geeignetes Mittel, um das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen als einer "Herrenrasse" zu stärken (48). Das war Grund genug, ihn unter dem Nazi-Regime 1939 mit einer Petersallee im Afrikanischen Viertel Berlins zu ehren, in dessen Zentrum der Nachtigalplatz liegt. Er wurde nach jenem Reichskommissar benannt, der im Jahr 1884 die deutsche Schutzherrschaft in den afrikanischen Kolonien errichtete, auf die auch eine Kamerun- und eine Togostraße verweisen. Die historische Semantik dieser Haupt- und Nebenwege des deutschen Kolonialismus erschließt eine Studie von Alexander Honold. Mit der Petersallee wurde ein Erinnerungsort zur Rehabilitation des Konquistadoren der deutschen Kolonie in Ostafrika geschaffen, der wegen seiner besonderen Grausamkeit noch im Kaiserreich in Ungnade gefallen war. Die kolonialrevisionistische Absicht war, auf diese Weise einen kollektiven Phantomschmerz zu kultivieren, der mit dem Verlust der deutschen Kolonien im Ersten Weltkrieg entstanden war. 1986 schlug eine Bürgerinitiative mit Unterstützung der Berliner Alternativen Liste eine Umbenennung vor, erreichte aber lediglich einen Bedeutungstausch. Fortan sollte schlicht Hans Peters gemeint sein, Mitautor der Berliner Verfassung und einst CDU-Stadtverordneter - ein sinnloses Unterfangen angesichts des kolonialpolitischen Kontextes, in den die Allee eingebettet ist (319f).
David M. Ciarlo ist bei seinen Analysen von kolonialen Motiven in der Bildreklame des Kaiserreichs auf die schlagartige Zunahme einer "rassifizierenden" Darstellungsweise Schwarzer im Gefolge des Genozid-Versuchs an den Herero und Nama gestoßen, was er als Ergebnis eines gesteigerten "Rassenbewusstseins" in der deutschen Öffentlichkeit fasst. Die Infantilisierung beim noch heute populären Sarotti-Mohren transportierte die Botschaft einer kolonialen Erziehungsmission des deutschen Herrenmenschen direkt zu den Konsumenten (146ff). Dass die mission civilatrice nicht nur eine Männerphantasie ist, zeigt die von Lora Wildenthal nachgezeichnete Geschichte der kolonialen Frauenorganisationen. Sie begann mit der Entsendung von Krankenschwestern, aber erst im Zusammenhang mit der Problematisierung einer sexuellen Sondermoral in Übersee fand die koloniale Frauenbewegung zu ihrer eigentlichen Aufgabe. Die Sexualität hatte sich als die Speerspitze des Kulturkontakts erwiesen, eine zunehmend größere Zahl deutscher Kolonisatoren ließ sich auf wilde Ehen mit Kolonisierten ein, mit den einschlägigen Folgen. Im Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft klagte man, ein "Geschlecht von Mischlingen" drohe "das Deutschtum im Keime zu ersticken" (207). Die Befürchtung, mit dem deutschen Herrenkörper löse sich in der Rassenvermischung zugleich die deutsche Kolonialmacht auf, führte zu einer Kampagne mit dem Ziel, den Transfer von heiratswilligen deutschen Frauen in die Kolonien zu organisieren.
Unter Berufung auf gut dokumentierte Gräuel, die von deutschen Kolonisatoren vor Ort verübt worden waren, sprachen die Alliierten in Versailles dem deutschen Volk die Fähigkeit zur Kolonisation ab, und verwalteten die deutschen Kolonien fortan als Mandatsmächte selbst. Christian Rogowski widmet sich den manischen Energien, mit denen die deutsche Kolonialbewegung in der Weimarer Republik ihr Revisionssyndrom auszuagieren suchte (243ff). In einem Anfall von "Rassenpanik" wollte man der Welt geradezu verzweifelt die Zugehörigkeit der Deutschen zur "weißen Herrenrasse" demonstrieren (246). Weil Frankreich schwarze Soldaten aus den Kolonien bis auf den europäischen Kriegsschauplatz geführt hatte, beschwor dann auch Hitler das Schreckbild einer "Bastardisierung" der weißen Rasse herauf. Kundrus betont, dass es gegen Afrikaner unter der Nazi-Diktatur weder systematische Verfolgungsmaßnahmen noch eine Vernichtungsabsicht gegeben hat (114). Eine direkte Kontinuitätslinie von den kolonialen Mischeheverboten zu den Nürnberger Gesetzen könne man nicht ziehen (110f, 125f). Der von den Nazis hoch geehrte Rassenbiologe Eugen Fischer tauge nicht als Beleg für einen Transfer von rassenanthropologischem in antisemitisches Gedankengut (122). In der Tat findet man keine Hinweise darauf in den Untersuchungsergebnissen von Fischers Studie über die "Rehobother Bastards" in Südwestafrika aus dem Jahr 1913. Das ändert allerdings nichts daran, dass die angebliche Schädlichkeit der Rassenmischung seither allgemein als wissenschaftlich erwiesen galt. Kundrus insistiert zwar, dass der Weg von Windhuk nach Nürnberg "sehr weit" (126) gewesen sei, aber etliche Beiträge in diesem Band legen doch eher den umgekehrten Schluss nahe.
Autor: Thomas Schwarz

Quelle: Das Argument, 45. Jahrgang, 2003, S. 917-919