Guenther Sandleben: Nationalökonomie & Staat. Zur Kritik der Theorie des Finanzkapitals. Hamburg 2003. 134 S.

Die "Fokussierung" auf den Begriff Finanzkapital in Diskursen um Globalisierung sitzt "einer Reihe von Mystifikationen [auf], die zu falschen ökonomischen und politischen Konsequenzen führen" (8f). Das Fortwirken des hilferdingschen Verständnisses von Finanzkapital führe zur "Vernachlässigung des wirklichen Reproduktionszusammenhangs" (128) und zur ungenügenden Theoretisierung des Verhältnisses von Kapital, Nationalstaat und Staatensystem. Diese Defizite möchte Verf. mit einem eigenen Ansatz überwinden, in dessen Zentrum der Begriff ›Gesamtkapital‹ steht.

Dieses sei mehr als die Summe der Einzelkapitale. Indem es mittels seiner allgemeinen Profitrate den Profitratenausgleich dieser Einzelkapitale beherrsche und reguliere, stelle es eine "eigenständige makroökonomische Existenzweise" des Kapitals dar, deren reale Existenz jedoch durch eine Reihe von Mystifikationen "verschwimmt und sich schließlich als Wirtschaft eines Volkes, als Volkswirtschaft oder Nationalökonomie darstellt" (73). Die Pluralität dieser Volkswirtschaften resultiere aus der für den Fortgang des "wirklichen Reproduktionsprozesses" zentralen Notwendigkeit für den Großteil des fixen Kapitals, "solange an Ort und Stelle zu bleiben, bis es unbrauchbar geworden ist" (80). Die Ortsgebundenheit führe zur territorialen Bindung bestimmter Produktionszweige und zur Herausbildung von Wirtschaftsräumen, die auch mobile Kapitalformen anziehen (84). In den von "exklusiven Produktionsvoraussetzungen" (89) geprägten Räumen bildeten sich spezifische Verwertungsstrukturen heraus, die einen Profitratenausgleich innerhalb des Raumes ermöglichten. Insofern aber einheitliche Verwertungsstrukturen und gleiche Profitraten nur territorial begrenzt, niemals global erreichbar seien (90), werde die Welt unter kapitalistischen Verhältnissen notwendig territorial fragmentiert: "Die Verwertungsgrenzen werden Bestimmungsmomente für Ländergrenzen" (92). Diese territoriale Verankerung der Nationalökonomien sei die eigentliche Grenze der "Globalität" des Globalisierungsprozesses (129).
Aus dem Gesamtkapital lasse sich nicht nur die territoriale Fragmentierung der Welt erklären, sondern auch deren spezifische politische Form, der Nationalstaat. Das Gesamtkapital existiere nur als "funktional ökonomisches Gebilde", das "ohne eine gemeinschaftliche Ergänzung jenseits der eigenen ökonomischen Sphäre" zur Regelung der "allgemeinen Volksangelegenheiten" nicht existieren könne (113). Diese "gemeinschaftliche Ergänzung" sei der Staat, der in seinen Handlungen auf die Reproduktion des Gesamtkapitals festgelegt sei. "In Wirklichkeit ist die Politik nichts anderes als der Repräsentant der Interessen des Gesamtkapitals." (116) Diese Annahme dient abschließend auch als Grundlage einer Theorie der Nation und des Volkes (116ff). Indem das Gesamtkapital immer einen territorialen Bezug habe, separiere und vereine es die Menschen als Völker entlang seiner Verwertungsgrenzen (Volkswirtschaften). Das spiele sich jedoch hinter dem Rücken der Menschen ab, so dass der "ökonomische Kern der Nation" (122) im Verborgenen bleibe. Die Menschen "versetzten die Geburtsstunde ihres Volkes so weit in die Geschichte zurück, wie es erforderlich ist, um ihren neuen geopolitischen Raum als ›erste Landnahme‹ zu rechtfertigen" (120).
Die kritische Auseinandersetzung mit Hilferdings Begriff und seiner theoriegeschichtlichen Wirksamkeit beleuchtet interessante Aspekte; der zweite Teil bleibt dahinter zurück: Das Gesamtkapital erscheint als vollkommen autonomes Subjekt, neben dem kein Raum für gesellschaftliche Praxen und Kämpfe existiert. Funktionalismus und kruder Ökonomismus lassen für einen Begriff des Staates als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse (Poulantzas) ebenso wenig Platz wie für Fragen nach Hegemonie und transnationalen Klassenverhältnissen. An der Staatsableitungsdebatte wird nicht die weitgehende Ausblendung sozialer Kämpfe kritisiert, sondern ihr Versuch, den Staat nur im Singular abzuleiten (115) - was überdies falsch ist (vgl. von Braunmühl 1976). Rückgriffe auf Begrifflichkeiten der Volkswirtschaftslehre werden nicht begründet. Überdies ist die verwendete Sprache an vielen Stellen unangemessen: Es mag ja angehen die "ökonomische Macht der Fondsmanager" mit Begriffen wie "Selbstbereicherung", "Betrugsmanöver", "Betrugssystem" etc. (60f) zu kritisieren, obwohl es die Analyse verwischt und moralisierend daherkommt. Ein Vergleich der Staatenkonkurrenz um das mobile Kapital mit dem Buhlen der "Dirnen um die Freier" (27) ist einfach überflüssig.
Autor: Markus-Michael Müller

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 327-328