Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 4. Auflage. München 2009. 1568 S.
Mit dem 19. Jahrhundert, so bewirbt die PR-Abteilung des Verlages das Buch, welches in der "Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung" erschienen ist, beginne die Vorgeschichte der Gegenwart. Das ist keine besonders innovative Werbeidee, hat doch jedes Jahrhundert seinen Vorgänger. In der Tat war das 19. Jahrhundert das Zeitalter der großen politischen Ideologien und der Verwissenschaftlichung des Daseins, der Eisenbahnen und anderer technischer Meisterleistungen zum Entstehen einer kolonialen Infrastruktur sowie der Industrie, der Massenemigration zwischen den Weltteilen und der ersten Welle wirtschaftlicher und kommunikativer Globalisierung, des Nationalismus und der kolonialen Expansion Europas in alle Teile der Erde. Zugleich erscheint das 19. Jahrhundert aus heutiger Sicht fern und fremd: eine faszinierende Welt von gestern.
Zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen eine Brücke zu schlagen, hat sich Jürgen Osterhammel vorgenommen. Dies ist eine gewaltige Aufgabe, die Jahrzehnte intensiver Forschung auf den verschiedenen Kontinenten und die Suche nach historischen Verbindungen, Gemeinsamkeiten und Interaktionen voraussetzt. So ist es dem Verfasser gelungen, ein Buch vorzulegen, welches das 19. Jahrhundert in weltgeschichtlicher Sicht porträtiert und analysiert. Es ist eine Zeit dramatischer Umbrüche in Europa, Asien, Afrika und Amerika und eine Ära entstehender Globalität.
Eine Aufgabe musste bewältigt werden, die kaum realisierbar erscheint. Der Rezensent erinnert sich noch gut an manche, letztendlich erfolglos gebliebene Diskussion, so ein Unterfangen in wissenschaftlicher Kollektivarbeit zu meistern.
In dieser Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts erzählt Jürgen Osterhammel die Geschichte einer Welt im Umbruch. Er fragt nach Strukturen und Mustern, markiert Zäsuren und Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Seine kulturübergreifenden, thematisch aufgefächerten Darstellungen und Analysen verbinden sich dabei zu einem Geschichtspanorama, das nicht nur traditionelle eurozentrische Ansätze hinter sich lässt, sondern auch erheblich mehr bietet als die gängigen historiographischen Paradigmen wie Industrialisierung oder Kolonialismus. Die Herausbildung unterschiedlicher Wissensgesellschaften, das Verhältnis Mensch-Natur oder der Umgang mit Krankheit und Andersartigkeit kommen darin ebenso zur Sprache wie Besonderheiten der Urbanisierung, verschiedene Formen von Bürgerlichkeit oder die Gegensätze von Migration und Sesshaftigkeit, Anpassung und Revolte, Säkularisierung und Religiosität. Zugleich stellt Osterhammel immer wieder Bezüge zur Gegenwart her.
Dieses wirklich voluminöse Werk besteht aus einer Einleitung, 18 Kapiteln, die jeweils in bis zu 9 Unterkapitel untergliedert sind, sowie einem Anhang. Selbstverständlich kommt der Verfasser auch auf die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehende und sich rasch ausbreitende evangelische Missionsbewegung zu sprechen. Richtig bemerkt er: "Missionsgeschichte ist heute ein riesiges Forschungsfeld, das fließend in die Geschichte des außereuropäischen Christentum übergeht" (S. 1263). Osterhammel versteht es ausgezeichnet, die wesentlichen Punkte einer so umfassenden Diskussion hervorzuheben, sei es die Frage nach der Allgemeingültigkeit von pauschalen Urteilen über die Bedeutung der christlichen Mission in Übersee oder nach dem Verhältnis von Mission und Kolonialismus. Sein Fazit: "Eine allgemein akzeptable Antwort auf diese Frage ist nicht möglich." (ebd.)
Auch in anderen Punkten der welthistorischen Entwicklung im 19. Jahrhundert mit all seinen Besonderheiten auf den fünf dauerhaft bewohnten Kontinenten versteht es Osterhammel, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen und zu beantworten. Er erweist sich mit diesem Werk, welches sicherlich als Standardwerk in die Geschichtsschreibung eingehen wird, als brillanter Welthistoriker.
Autor: Ulrich van der Heyden
Zitierweise:
Ulrich van der Heyden 2010: Rezension zu: Jürgen Osterhammel 2009: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 4. Auflage. München. 1568 S. In: http://www.raumnachrichten.de/ressourcen/buecher/914-verwandlung