Horst A. Wessel: Erfolgreich unter verschiedenen Flaggen. Die Geschichte des Mannesmannröhren-Werkes in Bous/Saar und seiner Stahlwerke 1886-1998. Essen 2007. 159 S.

Für die Wirtschaftsgeographie besonders aufschlussreich sind jene Unternehmens- und Werksgeschichten, die unternehmerisches Handeln über längere Zeiträume als pfadabhängige Prozesse rekonstruieren. Dies gilt für die Publikation "Erfolgreich unter verschiedenen Flaggen", welche die gesamte, mehr als hundertjährige Entwicklung des ersten Mannesmannröhren-Werkes (samt der zwischenzeitlich angeschlossenen Stahlwerke) von der Gründung im Jahre 1886 bis zur Stilllegung im Jahre 1998 nachzeichnet, eine Werksgeschichte, die aber auch noch unter anderen wirtschaftsgeographischen Aspekten interessant ist.

Zunächst beschreibt der Autor, bis zu seiner Pensionierung 2008 Leiter des Mannesmann-Archivs, der neben einer großen Zahl unternehmenshistorischer Arbeiten bereits in den neunziger Jahren eine umfassende Konzerngeschichte verfasst hat, den spannenden Gründungsprozess des Mannesmannröhren-Werkes in Bous/Saar. Der von einem Unternehmer-Konsortium gemeinsam mit den Gebrüdern Mannesmann betriebene Bau dieses Röhrenwerkes stellte eine Pioniertat dar. Denn hier wurden erstmals das von beiden Brüdern entwickelte Schrägwalz- und später das sogenannte Pilgerschritt-Walzverfahren angewandt. Diese Innovationen erlaubten zum ersten Mal die Herstellung nahtloser Stahlröhren und -flaschen. Die Gründungsphase der ersten Jahre war dementsprechend von vielen technischen und kaufmännischen Unwägbarkeiten und Rückschlägen sowie von Fluktuationen in der Geschäftsführung und im Gesellschafterkreis gekennzeichnet. Sehr eindrucksvoll beschreibt Wessel den technischen und unternehmerischen Pioniergeist der Akteure und deren persönliche Verbindungen, ohne die der dargestellte Entwicklungsprozess überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. Das Mannesmann-Verfahren selbst und dessen Bedeutung als technische Innovation werden anschaulich erläutert. In eher konventioneller Weise schildert der Verfasser sodann die expansive Entwicklung des Werkes, verbunden mit ständigen Verbesserungen der Produktionstechnik sowie die Entwicklung der Belegschaft und deren Aufbau und Herkunft. Besonders interessant sind die Erläuterungen über die Struktur und Rekrutierung der Belegschaft, insbesondere im Zusammenhang mit Generierung und unternehmensinterner Weitergabe technischen Wissens sowie der Vermeidung der Weitergabe dieses Wissens über das Gesamtunternehmen hinaus. Auch die Übernahme und der Umbau eines eigenen Stahlwerkes zur Sicherung der Versorgung mit Vorprodukten in der von Mannesmann geforderten Qualität muss im Kontext der Bewahrung technischen Wissens gesehen werden.
Anders als bei anderen Standorten wurde die Entwicklung des Röhrenwerkes Bous exogen nicht nur von den allgemeinen ökonomischen und weltpolitischen Rahmenbedingungen, sondern ganz entscheidend von der Grenznähe des Standortes bestimmt. Die beiden Weltkriege waren nicht primär mit Zerstörungen und dem Niedergang der Produktion verbunden, sondern mit der tiefgreifenden Änderung der Besitzverhältnisse, dem Verlust traditioneller Absatzgebiete und der Notwendigkeit zum Aufbau neuer Märkte. Denn das Saarrevier war nach dem Ersten Weltkrieg als Saargebiet - von Wessel merkwürdigerweise immer als "Saarland" bezeichnet - vom Deutschen Reich und nach dem Zweiten Weltkrieg von den westlichen Besatzungszonen und später von der Bundesrepublik Deutschland politisch und ökonomisch getrennt. Erst am 1.1.1957 trat es als Bundesland der Bundesrepublik Deutschland bei, der ökonomische Anschluss erfolgte sogar erst im Sommer des Jahres 1959. Die aufgrund lückenhafter Datenlage zwar etwas oberflächlichen Erläuterungen über die Zeit nach beiden Weltkriegen, als die Saar von Deutschland getrennt war, sowie über die Evakuierung des Werkes am Anfang des Zweiten Weltkrieges sind von besonderer Relevanz. Nur unter Berücksichtigung dieser regionalgeschichtlichen Besonderheit ist zu verstehen, warum sich der Entwicklungspfad des Röhrenwerkes Bous ganz wesentlich von jenem der Schwesterwerke im Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik Deutschland unterschied.
Die Darstellung der Werks- und Unternehmensentwicklung ist in einem sehr verständlichen Stil geschrieben. In die chronologische Darstellung werden narrative Exkurse zum Beispiel über die Technologie oder über einen Rundgang durch das Werk eingeschoben. Allerdings sind weite Passagen in einem chronologischen und bisweilen sehr unternehmensfreundlichen Duktus abgefasst, welcher eher demjenigen einer Firmenchronik entspricht. Dies betrifft insbesondere die Erläuterungen des Restrukturierungs- und Schrumpfungsprozesses, welcher der endgültigen Schließung des Röhrenwerkes im Jahre 1998 voranging. Die unkommentierte Übernahme eines "zeitgenössischen Berichtes des Konzernbeauftragten über die ausländischen Mitarbeiter" (107 ff.), das heißt über die Arbeitsverhältnisse der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges, erscheint verharmlosend und daher nicht unproblematisch. Als positiv und anschaulich sind die vielen historischen Fotografien zu beurteilen. Für die Lektüre sehr hilfreich gewesen wäre allerdings die Aufnahme einiger Tabellen und Schaubilder zur Entwicklung von Produktion und Belegschaft sowie über die wechselnde Unternehmenszugehörigkeit des Werkes und die Entwicklung der Struktur des Mannesmann-Konzerns.
Von hoher wirtschaftsgeographischer Relevanz ist die vorliegende Publikation aus mehreren Gründen, stellt sie doch Bezüge her zu verschiedenen konzeptionellen Ansätzen des Faches, ohne diese explizit zu benennen: Die Entwicklung eines Industriebetriebes wird vom Beginn bis zum Ende seiner mehr als einhundertjährigen Existenz als komplexer Entwicklungspfad erkennbar. Bemerkenswert ist, dass am Beispiel der einstigen Innovation gewalzter nahtloser Röhren und deren Weiterentwicklung der destruktiv kreative Unternehmertypus im Sinne Joseph Schumpeters, ferner der Produktlebenszyklus sowie unternehmensinterne Lernprozesse und die Rolle kodifizierten und nicht kodifizierten Wissens (tacit knowledge) für die Unternehmens- und Werksentwicklung konkret fassbar werden. Gleichzeitig ist die betriebliche Entwicklung aber immer auch aus dem Spannungsverhältnis weltpolitischer und -ökonomischer sowie regionalspezifischer Unternehmensumweltbedingungen heraus im Sinne eines Mehrebenenmodells zu verstehen.
Autor: H. Peter Dörrenbächer

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 52 (2008) Heft 4, S. 254-255