Steffi Hobuß und Ulrich Lölke (Hg.): Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas. Zweite, erweiterte Auflage. Münster 2007. 272 S.

Drei Jahrestage haben jüngst die Geschichte des deutschen Kolonialismus wieder in Erinnerung gerufen: der 120. Jahrestag der Berliner "Kongo-Konferenz" und die 100. Jahrestage des Ausbruchs der Kolonialkriege in Namibia und Tanzania. Die historische Forschung zum deutschen Kolonialismus ist dadurch nicht nur intensiviert worden, sondern sie hat auch verstärkt die Themen Gedächtnis und Erinnerung in den Blick genommen, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit einiger Zeit geradezu boomen.
Der Sammelband der beiden Lüneburger PhilosophInnen Steffi Hobuß und Ulrich Lölke spiegelt dies deutlich wieder: Es geht hier um Kolonialismus, und zwar aus der Perspektive der Erinnerungsforschung. Ein zentraler Begriff in den meisten der sehr lesbaren Beiträge ist dabei die "umkämpfte Erinnerung". Im Fokus stehen also Aushandlungsprozesse zwischen ehemals Kolonisierten und ehemals Kolonisierenden, aber auch innerhalb dieser beiden Gruppen um die Darstellung und Deutung der Vergangenheit.

Besonders reizvoll ist die Auswahl der Autoren: Philosophen, Historiker, Ethnologen, Afrikanisten und Germanisten - sowohl jüngere Wissenschaftler als auch altgediente Vertreter ihres Faches, sowohl ost- und westdeutsch sozialisierte als auch außerhalb der deutschsprachigen Akademia verankerte Forscher - tragen aus ihrer Perspektive zum Thema bei. Hervorgegangen ist der Sammelband aus einer interdisziplinären Tagung ("Die Last des Erinnerns"), die im Juni 2005 von den Herausgebern an der Universität Lüneburg organisiert worden war.
Zum grundsätzlichen Nachdenken über die Begriffe Erinnern und Gedächtnis regt zu Anfang der Ethnologe Johannes Fabian an. Er warnt davor, den Begriff Erinnerung zu kulturalisieren und damit zu "domestizieren". Vielmehr müßten die konflikthaften und widersprüchlichen Aspekte, die Spannungen und manchmal sogar Gewalt erzeugenden Dynamiken von Erinnerung herausgearbeitet werden. Diese Position vertreten die meisten Autoren: Sie beschreiben keine konsensuelle, homogene kollektive Erinnerung oder Erinnerungskultur, sondern stellen die Widersprüche, Brüche, Veränderungen und Konfrontationen in den Vordergrund. Seiner Anschaulichkeit wegen herausgegriffen sei diesbezüglich der Beitrag von Astrid Kusser und Susanne Lewerenz: Die beiden Historikerinnen zeigen am Beispiel kolonialer Bildpostkarten, die selbst in diesem Medium - von dem zumeist angenommen wird, daß es immer dieselben Stereotypen reproduziert habe - zahlreiche Ambivalenzen erzeugt wurden, so daß ein ständiges Ringen um die Deutung der kolonialen Situation nötig, aber auch möglich war. Doch zurück zum Anfang des Buches: Nach Johannes Fabian stellt Jacob Emmanuel Mabe sein Konzept einer "Konvergenzhistorik" vor, das mündlichen und schriftlichen Quellen den gleichen Rang einzuräumen sucht in der Geschichtsschreibung zum Kolonialismus, aber auch in der zeitgenössischen "Erinnerungsarbeit". Er versteht seinen Ansatz als eine afrikanische Kritik des Konzepts eines kollektiven Gedächtnisses.
Im Anschluß folgen Aufsätze, die sich mit den einzelnen ehemals vom Deutschen Reich kolonisierten Ländern und Gesellschaften befassen. Henning Melber und Reinhart Kößler erörtern das Fallbeispiel Nambia, d.h. vor  allem die "unterschiedlichen Konstruktionen Deutschlands, die in Namibia anzutreffen sind". Leonhard Harding erläutert die politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in Rwanda seit der Kolonisierung, die zu berücksichtigen sind, wenn man den rwandischen Völkermord historisch zu erklären versucht; er spricht von einer "Manipulation von Erinnerung" als einem der Gründe für den Völkermord. Stefanie Michels untersucht - ausgehend von einer Kritik bekannter Gerdächtnistheorien - "postkoloniale kamerunische Gedächtnistopografien". Peter Sebald widmet sich der Frage, warum in Togo mitunter recht positive Erinnerungen in die deutschen Kolonialherren zirkulieren.
Den Brückenschlag zurück zur gesamtdeutschen Erinnerungslandschaft des 20. Jahrhunderts macht Volker Paulmann, der ein vergleichendes Forschungsprojekt zu Erinnerungsorten in Deutschland und Südafrika vorstellt und auf die Glokalisierung von Erinnerungslandschaften hinweist. Herausgeber Ulrich Lölke untersucht die "Hermeneutik kolonialer Gewalt" in den Romanen südafrikanischer Autoren - insofern exemplarisch, als der gesamte Band die gewaltförmigen Aspekte des Kolonialismus und ihren Wiederhall bzw. ihre Fortführung auf der Ebene der Erinnerung und der Erinnerungspolitik zu repräsentieren sucht. Den deutschen "Kolonialismus ohne Kolonien" nimmt Leo Kreutzer anhand von Hans Grimms Roman "Volk ohne Raum" unter die Lupe. Maguèye Kassé findet die deutsche Eigenart eines "Kolonialismus ohne Kolonien" auch in der jüngeren Vergangenheit wieder, wenn er diagnostiziert, daß die deutsche Kulturpolitik mit Afrika noch immer keine kritische "Erinnerungspolitik" sei, d.h. keinerlei "anti-koloniale Attitüde" an den Tag lege. Auch Steffi Hobuß weist in ihrem Beitrag über das 2005 im Augsburger Zoo organisierte "African Village" nach, daß eine Dekolonisierung der Erinnerung in Deutschland noch nicht stattgefunden hat. Am Beispiel des Hamburger "Askari-Reliefs" und des "Tanzania-Parks" macht dies auch Heiko Möhle deutlich - er ruft im übrigen zu einer stärkeren Beteiligung der Erinnerungsforscher an öffentlichen Debatten auf.
Der Sammelband untersucht die Erinnerungsprozesse auf afrikanischer und deutscher Seite sehr anschaulich, mit einem starken Fokus auf lokale Perspektiven, mit großer Differenziertheit und viel kritischem Potential - und so interdisziplinär wie es selten geschehen ist. Allein die europäische Perspektive, die der Titel nahelegen möchte, will sich nicht so recht erschließen. Neben den einführenden Beiträgen, die allgemeiner gehalten sind oder auch einmal ein Fallbeispiel aus dem Kongo anführen, ist vom europäischen Kontext des deutschen Kolonialismus - vor allem aber von den teils hitzigen Debatten zu Kolonialismus und Erinnerung in anderen europäischen Ländern - fast nichts zu lesen. Aber dies ist in der Tat ein Defizit, das die Erinnerungsforschung zum deutschen Kolonialismus insgesamt noch aufzuarbeiten hat.
Autorin: Larissa Förster

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 109/110, S. 228-230