Martha Zapata Galindo: Der Preis der Macht. Intellektuelle und Demokratisierungsprozesse in Mexiko 1968-2000. Berlin 2006. 339 S.

Als Instanz der Kritik mit hinreichend Abstand zur Staatsmacht, so sehen sich die Intellektuellen gern selber. Dieses Selbstbild, theoretisch ausgefeilt und praktisch gelebt von Jean-Paul Sartre, prägte die Kulturschaffenden nicht nur in Europa bis ins späte 20. Jahrhundert. Dass das Bild von dem/der kritischen Außenstehenden insbesondere in Mexiko ein Mythos war, beschreibt Martha Zapata Galindo in einer ausführlichen Studie.

Auf der Grundlage selbst ermittelter, empirischer Daten über die fünfhundert berühmtesten SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen zeichnet sie deren Verflechtung mit dem politischen System nach. Der Forschungszeitraum ist gut gewählt: Er behandelt die Phase von den ersten fundamentalen Legitimationsproblemen der Staatspartei PRI (Institutionell Revolutionäre Partei), ausgelöst durch die Studierendenproteste 1968, bis zu ihrer Abwahl im Jahr 2000. Auch die Methode überzeugt. Zapata Galindo verknüpft die Feldtheorie Pierre Bourdieus mit der Diskursanalyse Michel Foucaults. Dadurch gelingt es ihr, strukturelle Bedingungen der literarischen Produktion aufzuzeigen und sich zugleich dem zu widmen, was die Intellektuellen tatsächlich gesagt und getan haben.
Was die Strukturen betrifft, stellt Mexiko gewissermaßen einen Sonderfall dar. Denn staatliche Politik und Intellektuelle hatten das gesamte 20. Jahrhundert hindurch einen gemeinsamen Bezugspunkt: Die Mexikanischen Revolution (1910-1920). Auch die Etablierung einer "nationalen Kultur" wurde als Projekt von beiden Seiten getragen - eine Konstellation, wie sie in Mitteleuropa nur in Frankreich und in Lateinamerika sonst überhaupt kaum vorstellbar war. Das führte aber dazu, dass die Kultur stets sehr abhängig blieb vom Staat. Er besaß bis in die späten 1980er Jahre das Monopol auf die intellektuellen Produktionsmittel, von der Finanzierung der Universitäten bis hin zur Produktion und Import von Papier. Eine Autonomie des kulturellen Feldes konnte so kaum entstehen. Anerkennung und Prestige - nach Bourdieu symbolisches Kapital - konnte nicht durch feldimmanente Leistungen erworben werden, sondern nur die Verbindung zur staatlichen Politik.
Was das konkrete Handeln der Intellektuellen betraf, bestand es daher häufig in der Legitimierung der Regierungspolitik. "Der Preis der Macht" bestand also einerseits darin, dass die Intellektuellen "ständig einen Beitrag zur Reproduktion der Herrschaft der Staatspartei und des politischen Systems leisteten" (140), sich aber zugleich von diesem auseinanderdividieren ließen. Ihr politischer Einfluss blieb dadurch ebenso beschränkt wie die Möglichkeiten kultureller Autonomie.
Zapata Galindo unterscheidet im Verhältnis von Intellektuellen und Staatsmacht drei wesentliche Phasen: Den Aufbau der postrevolutionären Nation 1930 bis 1970, die ersten Legitimationsprobleme nach der brutalen Niederschlagung der Studierendenrevolte und die Konsolidierung des Systems 1970 bis 1989 und schließlich die Neoliberalisierung von 1989 bis 2000.
Ein leicht paradoxes Ergebnis ihrer Studie ist es, dass ausgerechnet die ökonomische und soziale Einsetzung des Neoliberalismus die Ausbildung der kulturellen Autonomie gefördert hat. Zwar zeigt das Beispiel Mexiko deutlich, dass Staat und Neoliberalismus sich keineswegs widersprechen: Die Privatisierung der Bildungsinstitutionen wurde in der Amtszeit von Präsident Salinas de Gortari (1988-1994) ebenso betrieben wie die Zentralisierung der kulturellen Einrichtung durch die Gründung des Nationalen Rates für die Kultur und die Künste (CONACULTA) 1988. Salinas de Gortari war es auch, der den Neoliberalismus zur Staatsdoktrin erklärt hatte. Erst die relative Unabhängigkeit der kulturellen Akteurinnen und Akteure vom Staat habe, so Zapata Galindo, deren Handlungsmöglichkeiten erweitert. Und in dieser Erweiterung bestehe die "wesentliche Bedeutung der Autonomie für den Demokratisierungsprozess" (255).
Hier drängt sich der Kurzschluss, der Neoliberalismus habe die Demokratie in Mexiko gefördert, geradezu auf. In der Absicht der Autorin liegt diese Interpretation allerdings nicht. Denn einerseits betont sie eine neue Welle der Indienstnahme der Intellektuellen durch die "Modernisierung" des (nach Salinas de Gortari benannten) Salinismus. Andererseits hebt sie aber auch hervor, dass sich gerade in dieser Phase die intellektuellen Kräfte gestärkt haben, die auf zivilgesellschaftliche Initiativen und eine neue Demokratisierung "von unten" gesetzt haben. Ausschlaggebendes Ereignis war hier der zapatistische Aufstand. "Die endgültige Loslösung der Intellektuellen vom Staat", schreibt Zapata Galindo, "wurde durch die Auswirkungen des indigenen Aufstandes in Chiapas endgültig besiegelt" (262).
Die Studie Zapata Galindos ist durch die Schilderung der intellektuellen Debatten nicht nur informativ, sondern wegen der Verknüpfung der theoretischen Ansätze auch innovativ. Die forschungspraktische Einschränkung auf in der Regel prominente SchriftstellerInnen führt allerdings auch zu einer Beschränkung hinsichtlich der Theorie. Wenn Zapata Galindo vom "politischen Feld" im Sinne Bourdieus spricht, mit dem die Intellektuellen verbandelt waren, beschreibt sie die staatlichen Institutionen. Die "Beteiligung von Intellektuellen an der Politik" (258) meint staatliche Ämter, Beraterposten oder loyale Redaktionsstuben. Das Politische umfasst aber weit mehr als die Staatsapparate. Die kollektive Organisierung und die Etablierung einer Sphäre der politischen Artikulation im öffentlichen Raum beispielsweise, wie sie in den 1970er Jahren von einigen KünstlerInnengruppen - als kunsthistorisches Phänomen mittlerweile als "los grupos" (Die Gruppen) klassifiziert - vorgenommen wurden, sind unbedingt ebenfalls dem politischen Feld zuzurechnen. Auch wenn in ihrer Untersuchung Künstlerinnen und Künstler aus Platzgründen "nicht berücksichtigt werden" (39) konnten und deren zum Teil deutlich gewahrte Distanz zu Staat und Markt außen vor bleiben musste; einen erweiterten Begriff des Politischen hatte nicht zuletzt auch der Zapatismus eingeklagt.
Autor: Jens Kastner

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 109/110, S. 243-245