Johannes Wallacher und Mattias Kiefer (Hg.): Globalisierung und Armut. Wie realistisch sind die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen? Stuttgart 2006. 141 S.
Der vorliegende Band dokumentiert die Referate und Diskussionsbeiträge eines Symposions der Rottendorf-Stiftung an der Münchener Hochschule für Philosophie. Die vier Referate befassen sich mit dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven: Entwicklungsökonomie, Sozialwissenschaft, analytische Moralphilosophie und Entwicklungspolitik.
Der entwicklungsökonomische Beitrag von Stephan Klasen diskutiert die Frage, "inwiefern die ökonomischen Bedingungen der Globalisierung Armutsminderung fördern oder behindern und wie durch geeignete Maßnahmen im Rahmen der Globalisierung oder der Entwicklungspolitik Armutsminderung ermöglicht werden kann" (1). Er definiert Globalisierung als zunehmende Integration von Märkten und Armut pragmatisch über die Ein-Dollar-pro-Tag-Grenze der Weltbank.
Er erwähnt auch die kontroversen Diskussionen um die unterschiedlichen Verfahren der Armutsmessung und deren Auswirkungen, geht aber nicht auf die politische Dimension der Auseinandersetzung ein. Die Vorhersagen der klassischen Handels- und neoklassischen Wachstumstheorie über die armutsmindernden Auswirkungen von Direktinvestitionen und Handelsliberalisierung sieht der Autor in den empirischen Befunden nur teilweise bestätigt, im Hinblick auf Kapitalmarktliberalisierungen sogar als weitgehend widerlegt. Er schlussfolgert: "Es gibt Staaten und ganze Regionen, die von dem potenziellen Nutzen der Globalisierung bisher weitgehend ausgeschlossen sind" (8) - bleibt also (ohne dies zu begründen) implizit der Annahme verhaftet, dass dies in der Zukunft nicht unbedingt der Fall sein muss und die zunehmende Verflechtung von Märkten überall auf der Welt armutsmindernde Wirkungen entfalten könnte. Die "unerträglich" hohe globale Ungleichheit führt er "nicht hauptsächlich auf Einflüsse der Globalisierung" zurück, sondern sieht sie "hauptsächlich als eine Hinterlassenschaft der Kolonialzeit" (9). Seine "Handlungsempfehlungen für eine Armut reduzierende Globalisierung" beziehen sich v.a. auf Afrika, wo er die größte "Herausforderung" verortet. Sie beinhaltet die Aufhebung von Handelsschranken für Exporte und die Abschaffung von landwirtschaftlichen Exportsubventionen im Norden, gleichzeitig fordert er finanzielle Transfers, Zollpräferenzen, Schutzzölle zum Aufbau einheimischer Industrien auch im Rahmen der WTO. Darüber hinaus mahnt Klasen u.a. größeres Engagement für Frieden und Sicherheit und mehr Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur an. Abgesehen von der originellen Idee der Importsubventionen für afrikanische Produkte sind die Forderungen dieses Wunschzettels ebenso begründet wie altbekannt, die entscheidende (und zugegebenermaßen auch nicht übermäßig originelle) Frage nach den Gründen ihrer mangelnden Umsetzung wird nicht gestellt - noch nicht einmal in der anschließend dokumentierten Debatte.
Der sozialwissenschaftliche Beitrag von Johannes Müller mit dem Titel "'Kultur der Armut' - Mythos oder Wirklichkeit" versteht Kulturen als "kollektive Orientierungsrahmen, die dem Leben der Menschen einen Sinn verleihen und ihrem Handeln die Richtung weisen" (39). Mit einigen Einschränkungen bejaht er die Existenz einer solchen "Kultur der Armut" und postuliert unter Bezugnahme auf James Scott ihren rationalen und realistischen Charakter. Als weitere Aspekte des Thema diskutiert er kulturspezifische Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und einer glücklichen Kindheit, wobei (wie so oft) die Herangehensweise an erstere instrumentell geprägt ist: "Man wird Armut ... nur dann wirksam bekämpfen können, wenn man die Frage der Gender-Gerechtigkeit nicht ausklammert" (48). Ebenfalls angesprochen wird die Rolle von Religionen, in ihrer widersprüchlichen Rolle als Legitimation (Armut als Schicksal oder Wille Gottes), als "Katalysator für unrealistische Fluchtversuche aus der Armut" (51), oder aber als Ursprung von "Widerstandskulturen" einerseits, "Kulturen freiwilliger Armut" andererseits (52). Globalisierung wird in dem Beitrag als faktische "Übertragung des westlichen Zivilisationsmodells" (54) gedeutet, die MDG hingegen als "Programm globaler Solidarität mit den Armen" (56). In allen Bereichen wird das Spannungsverhältnis zwischen Kulturimperialismus und Kulturrelativismus angerissen, aber kaum eingehender diskutiert. Letztlich fordert der Autor, politische Maßnahmen wie die MDG müssten auf lokale Bedingungen abgestimmt sein, die "Kultur der Armut" einbeziehen und auf eine "Politik der Anerkennung" (Taylor) abzielen. Die Fallstricke des Konzepts bleiben unerwähnt (vgl. den Beitrag von Hauck in der PERIPHERIE Nr. 104).
Markus Stepanians referiert aus moralphilosophischer Perspektive über "Hilfspflichten und die unvollkommenen Rechte Fremder". Ausgehend von einem unpolitischen Alltagsverstand diskutiert er die Frage "Warum sollten wir Menschen helfen, denen wir nie begegnet sind und für deren Unglück wir nicht verantwortlich sind?" (79) anhand der Thesen Peter Singers zu einer globalen Hilfspflicht und einiger Einwände gegen sie. Singer postuliert angesichts der gewachsenen Möglichkeiten zu effektiver Hilfe (von BewohnerInnen der Industrienationen gegenüber Menschen in Notlagen in der Dritten Welt) eine Pflicht, diese Möglichkeiten zu nutzen, da der Aufwand und die Kosten dafür (die Überweisung kleinerer Geldbeträge an vor Ort tätige karitative Organisationen) in keinem Verhältnis zum verhinderten Leiden stünden. Geographische Distanz zu oder persönliche Bekanntschaft mit den notleidenden Personen seien moralisch irrelevant. Die Fragestellung allein ist problematisch: Sie ignoriert die tatsächlich vorhandenen ökonomischen Verbindungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden und stellt karitative "Hilfe" unhinterfragt als die einzig sinnvolle Handlungsmöglichkeit dar. Dennoch handelt es sich um eine interessante und relevante Diskussion: unter welchen Umständen und Annahmen ist die Verminderung menschlichen Leids nicht ein Akt der Wohltätigkeit, sondern eine moralische Pflicht? Stepanians kommt zu dem Schluss, dass Singer die Komplexität der moralischen Situation unterschätzt, wendet sich aber zugleich als "Naturrechtler" (97) gegen die Bindung von Rechten an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Nicht die Schlussfolgerung des Aufsatzes ist kontrovers (die Positionierung mag sogar sympathisch sein), sondern die nicht thematisierte theoretische Ausrichtung: der Beitrag ist fest im Diskurs des Liberalismus verwurzelt: Es geht um unverbunden nebeneinander existierende Individuen, nicht um soziale Beziehungen und Gruppen; es geht um Hilfe, nicht um Solidarität; es geht (auch bei Fragen der nackten Existenz) um moralisches, nicht um politisches Handeln. Dabei hat die Art und Weise, wie das Problem der Armut konzeptualisiert wird, deutliche politische Implikationen.
Im letzten Beitrag skizziert Klemens van de Sand, ehemaliger Beauftragter für die MDG des BMZ, die "Herausforderungen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit", bzw. zunächst die bisherigen Ergebnisse auf drei Ebenen: jener der internationalen Politik, jener der "Entwicklungsländer" und "bei uns" (109). Vorgestellt werden u.a. einige internationale Initiativen wie das Millennium-Forschungsprojekt unter Leitung von Jeffrey Sachs, Kofi Annans Bericht "In größerer Freiheit", Blairs Kommission für Afrika und die "Paris Declaration on Aid Effectiveness". Die konkreten Ergebnisse dieser öffentlichkeitswirksamen Initiativen vermag der Autor nicht recht zu benennen - es handelt sich dabei auch um eine äußerst schwierige Aufgabe - aber er hebt positiv die von ihnen ausgelöste "sehr fruchtbare Diskussion" (112) hervor. Der Stand der Zielerreichung wird anhand von "Erfolgsbeispiele(n)" wie der Reduktion der HIV-Infektionsrate in Uganda, der Steigerung des Bevölkerungsanteils mit Zugang zu sauberem Trinkwasser in Tansania, sowie dem Anstieg der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen der Geberländer von 0,22 auf 0,25% schon nach vier Jahren präsentiert. Hinsichtlich der Bundesregierung (dritte Ebene) wird herausgestellt, dass das Aktionsprogramm 2015 Armutsbekämpfung zur politischen Querschnittsaufgabe macht und ein "kohärentes und abgestimmtes Vorgehen in allen Politikfeldern" (118) einfordert. Dass Papier geduldig ist und unverbindliche Absichtserklärungen oft nicht allzu viel wert sind, wird immerhin sogar in der überaus zahmen Diskussion angedeutet.
Leider gelingt es dem Buch nicht, die unterschiedlichen Disziplinen bzw. Perspektiven miteinander in Beziehung zu setzen. Die im Titel gestellte Frage, wie realistisch die MDG sind, bleibt am Ende gänzlich unbeantwortet, v.a. weil die die Umsetzung behindernden Machtverhältnisse kaum thematisiert werden. Auch eine kritische Befragung der MDG sucht man vergebens (vgl. den Beitrag von Wichterich in der Peripherie Nr. 107). Der Tagungsband liefert keine tieferen Einsichten, aber z.T. durchaus interessante und anregende Beiträge. Wären diese nicht überwiegend von einem liberalen und realpolitischen Rahmen begrenzt gewesen, hätte er vielleicht auch mehr bieten können als nur das.
Aram Ziai