Maurice Tamisier: Reise in den Hochländern Arabiens. Hg. u. übers. von Uwe Pfullmann. Berlin 2008. 278 S.
Mit der Edition und Übersetzung der Reisetagebücher des französischen Orientforschers Maurice Tamisier ist es dem bereits durch zahlreiche vergleichbare Werke bekannt gewordenen Orient-Experten Uwe Pfullmann gelungen, einen weiteren wichtigen Meilenstein in der Erschließung und Erklärung richtungweisender Primärliteratur über die frühen geopolitischen Verhältnissee auf der Arabischen Halbinsel am Vorabend der Entstehung von Nationalstaaten zu liefern. In der für Pfullmann charakteristischen, akribischen Textanalyse und Quelleninterpretation wird für heutige Leser ein hierzulande bislang nur wenigen Spezialisten bekanntes und nur schwer zugängliches Original ausgesprochen benutzerfreundlich für neue Ebenen der wissenschaftlichen Diskussion erschlossen.
Maurice Tamisier (1810-1875) verließ im Alter von 21 Jahren Frankreich, um im Orient nach Wegen für eine Realisierung der Ideen der Saint-Simonisten zu suchen. Diesen war nach ihrem Eigenverständnis vor allem daran gelegen, das Wohl der Menschheit zu mehren sowie neue gesellschaftliche und religiöse Maßstäbe zu finden. Der namengebende Begründer der Bewegung, Claude Henri Graf von Saint-Simon (1760-1825), war, nachdem er sich zunächst in Nordamerika für die Unabhängigkeit der britischen Kolonialgebiete und danach in Mexiko für einen Kanal vom Atlantik bis zum Pazifik eingesetzt hatte, in Europa vor allem durch seine Schriften "Lettres d'un habitant de Genève à ses contemporains", "Système Industriel" sowie "Nouveau Christianisme" bekannt geworden. Darin entwarf er frühe sozialistische Gedankengebäude, welche später von seinen Anhängern so weiterentwickelt und verfeinert wurden, dass Saint-Simon heute vielfach als einer der Vordenker von Karl Marx angesehen wird. Im religiösen Weltbild der Saint-Simonisten kam der Vorstellung, dass Gott sowohl in einer männlichen wie einer weiblichen Gestalt existiere und sich Belege für diese Annahme vor allem in Orient finden ließen, eine zentrale Bedeutung zu.
Abgesehen von Sympathien für solche eher philosophischen Gedanken waren die äußeren Umstände der ersten Begegnung mit dem Morgenland von Maurice Tamisier durchaus von handfester weltlicher Natur. Nachdem er 1833 zusammen mit seinem Freund Edmond Combes zwischen Kairo und Khartum Erkundungen im Zusammenhang mit dem Bau des künftigen Suez-Kanals unternommen hatte, war er bereits ein Jahr später als Sekretär des Militärarztes Teil der ägyptischen Armee, die sich anschickte, die Herrschaft Asir im Westen der Arabischen Halbinsel zu erobern, eine Unternehmung, die, wie uns Tamisier durch die Worte eines arabischen Reisebegleiters wissen lässt (S. 115), ohne vernünftigen politischen Grund allein dem Ehrgeiz Mohammad-Alis, dem Begründer des modernen Ägyptens, zuzuschreiben sei. Die Reiseschilderungen Tamisiers gehören zu den ersten detaillierten Berichten über die traditionelle Unruheprovinz Asir an der südlichen Peripherie des bereits wankenden Osmanischen Reiches. Beobachtungen zu Klima, Fauna und Flora sowie Geographie und Ethnographie bilden einen ebenso festen Bestandteil wie Berichte zu Religion und Politik, wobei es Tamisier durch seine im Stil des Briefschreibens verfassten Epiloge und zahlreiche Abschnitte in wörtlicher Rede immer versteht, eine gewisse Grundspannung aufrecht zu erhalten. Wichtige Stationen der Reise sind: Kairo, Suez, Golf von Akaba, Ras e-Hamra, Djeddah, Bahara, Mekka, Goufoudah, Taif, Wadi Fatma, Hodeil, Akig, Wadi Bicha, Tania, Billa, Assir, Wadi Hamama und Ménader.
Abgerundet wird die in zwei Teile und 24 Kapitel untergliederte Edition von umfangreichen Fuß- und Endnotenkommentaren, einem Glossar sowie einem Orts- und Namensregister. Dabei werden vor allem Abweichungen in der Schreibweise von Ortsnamen zwischen englischen, deutschen und französischen Reiseberichten thematisiert. Insgesamt wird ein aufwändig gestaltetes, ansprechend ausgestattetes und originalgetreu umgesetztes Werk präsentiert, das in keiner Sammlung der Geographie, der Entdeckungs- und Kolonialgeschichte oder der Islam- und Orientwissenschaften fehlen sollte.
Andreas Dittmann