Jürgen Hasse: Das Wohnen bedenken

Abstract

Ines Lauffer setzt sich in ihrer diskursanalytischen Interpretation von sechs Romanen der Neuen Sachlichkeit mit den Wechselwirkungen zwischen imaginierten und diskursiven Welten des Wohnens auseinander. Aber nicht nur in der Wirklichkeit der Texte wird die Ästhetik des Wohnens von Diskursen der Architektur überschrieben. Im Bau von Wohnhäusern wie in der Einrichtung von Wohnungen schwingen visionäre und utopische Subjektentwürfe mit. Die Wohnungen und die Dinge des Wohnens sind Medien der Behausung und der Vermittlung von Identität.


Besprechungsaufsatz

Ines Lauffer: Poetik des Privatraums. Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit. Bielefeld 2011. 356 S.


In der Nachkriegszeit der 1950er Jahre war das Wohnen keine Selbstverständlichkeit. Als Folge der Kriegszerstörungen herrschte eine große Wohnungsnot. Der Mangel an Wohnraum hatte eine existenzielle Dimension, weil das Wohnen unter improvisierten
Bedingungen, in Notunterkünften oder in der Wohnung anderer nach heutigen Maßstäben eine üble Zumutung war. Auf dem Hintergrund dieser kollektiven historischen Erfahrung merkte Martin Heidegger in seinem bekannten Aufsatz «Bauen –  wohnen – denken» an: „Als ob wir das Wohnen je bedacht hätten".1 Mit dieser Aussage, die eher den Charakter einer Feststellung denn den einer Frage hatte, reklamierte er das Nachdenken über das Sich-einrichten der Menschen auf der Erde. Das Wohnen im engeren Sinne war darin keine Sache der „gemütlichen" oder „trendigen" Einrichtung einer Wohnung oder eines Hauses. Es war eng verbunden mit der Art und Weise, das eigene Leben bauend zu führen. Das Wohnen (in und außerhalb der Wohnung) verstand er als ein Bauen, das zwar Vorstellungen und Wünschen folgte, aber auch – als Sich-einrichten im „Geviert" – der ethischen Rechtfertigung bedurfte. Damit dachte er es weit über die Grenzen dessen hinaus, was im Gros aktueller sozialwissenschaftlicher Wohndiskurse zum Thema wird. Mit anderen Worten: Das Verhältnis, das wir zum Wohnen haben – dem eigenen wie dem Wohnen im Allgemeinen – schöpft sich nie allein aus den Praktiken des Wohnens. Nicht zuletzt ist es auch Produkt gesellschaftlicher Diskurse über das Wohnen. Zu diesen Diskursen gehören nicht nur gesprochene oder geschriebene Sätze, sondern ebenso kursierende Ideen des Wohnens, massenmediale (Werbe-) Bilder des Wohnens und die Art und Weise, Wohnhäuser tatsächlich zu bauen.

In ihrer Arbeit zur „Poetik des Privatraums" widmet sich Ines Lauffer diesem Wechselwirkungsverhältnis zwischen der imaginierten und der diskursiven Welt des Wohnens. Als Literaturwissenschaftlerin untersucht sie Romane der Neuen Sachlichkeit, in denen das Wohnen eine zentrale Rolle spielt. Sie geht dabei der Frage nach, wie diese Texte durch den theoretischen Architekturdiskurs der 1920er bis 30er Jahre gestimmt wurden.

Ines Lauffer analysiert sechs Romane der Neuen Sachlichkeit aus den Jahren 1924 bis 1932. Wenn die Texte auch „nur" subjektive Geschichten erzählen, so haben sie nicht schon deshalb solipsistischen Charakter. Als poetische Resonanzen spiegeln sie den Geist ihrer jeweiligen Zeit ebenso wider wie die ihn nährenden kulturellen Kräfte. Während Architekten Häuser entwerfen und bauen, bahnen Romanautoren über ihre Protagonisten Dialoge mit den gebauten Räumen an und partizipieren so im Metier einer ästhetischen Rationalität am Wohndiskurs. Lauffers Arbeit zeigt aber auch, dass es nicht nur ein gleichsam nebliger Zeitgeist war, der das Schreiben und Denken über das Wohnen in einem intuitiven Sinne gestimmt hatte. Vielmehr verfügten die Romanautoren über differenzierte Kenntnisse des architektonischen Wohndiskurses und der dem Bauen von Wohnungen zugrunde liegenden Ideen ihrer Zeit. So drückt sich im Spiegel des Wohndiskurses der 1920er Jahre das vielfältige kulturelle zumeist großstädtische Leben einer historischen Epoche aus. Forschungsmethodisch fokussiert die Verfasserin die Literatur der Neuen Sachlichkeit, die sich durch eine  „Schreibform der Nähe" auszeichnet. Damit rückt das subjektive Erleben des Zeitgeschehens in den Mittelpunkt. Die raumwissenschaftliche Bedeutsamkeit der vorgelegten Textanalysen liegt in der Aufarbeitung jener Schnittstelle, an der das literarisch illustrierte, kommentierte und annotierte Wohnen als Ausdruck von Ideen und Konzepten gelesen werden muss, in denen Visionen eines neuen imaginierten Lebens vorscheinen.

Ines Lauffer rückt in der Analyse ihrer Romane das Private in den Fokus, das sich im Raum der Wohnung, einer Art „Identitätszelle",  äußert. Damit kommt eine Dunkelzone von Urbanität in den Blick, steht doch das (scheinbar) Private in einem untilgbaren Wechselwirkungsverhältnis zur öffentlichen Dynamik der Stadt. Die sprachliche Exponierung von Sachverhalten „persönlicher" Betroffenheit erweist sich als Resonanz auf das Geschehen in der „Ferne" gesellschaftlicher Strukturen, Ereignisse, Diskurse
sowie herrschender Werte und Normen. Daher setzt die Verfasserin Literatur auch nicht als autonomes Gebilde voraus, sondern sieht sie als Spiegel eines fließenden kulturellen Geschehens, das sich im architekturhistorischen Kontext ausdrückt. So wird die
diskursanalytisch angelegte Studie auch nicht als typische literaturwissenschaftliche Arbeit positioniert, sondern als kulturwissenschaftliches Projekt. Dessen Umsetzung macht deutlich, dass das poetische Schreiben über das Wohnen nicht der Be–schreibung
tatsächlicher Praktiken des Wohnens dient, sondern auf imaginierte und montierte Facetten des Wirklichen anspielt, die aus den Wohndebatten in Architektur und Zeitkritik in die poetische Sprache gleichsam hineinragen.


Neue Sachlichkeit und Neues Bauen

Die Literatur der Neuen Sachlichkeit ist in ihrer Sprache schnörkellos wie der ornamentfreie und funktionalistische Stil des Neuen Bauens. Der Autor ist nicht Dichter, sondern „Registrator" und Berichterstatter von Beobachtungen. Zum Neuen Wohnen der neuen Sachlichkeit gehört ein „freies" Verhältnis zu den Dingen des Wohnens, die das Leben nicht in den Bahnen des Tradierten festlegen sollen. Dass sich die Neue Sachlichkeit weniger durch ein spezifisches Verhältnis zu Sachen (Dingen oder der Sache des Wohnens) ausdrückt, als vielmehr in der Perspektive auf Sachen ein neues Weltbild zur Geltung kommt, zeigt sich zum Beispiel auch in den Gemälden des Magischen Realismus – der Wiederkehr der Neuen Sachlichkeit in der Malerei.

Wenn es in Siegfried  Kracauers Roman „Ginster" (1928) heißt: „Viele Leute waren von ihren Sachen wie von Efeu umsponnen", so klingt darin die Distanz gegenüber allem Bindenden an, das die Individuen in ihrer Identitätssuche an Traditionen und Überlieferungen kettet. Das Neue Bauen, das sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts als gebaute Utopie modernen Lebens in den Debatten des Deutschen Werkbundes und des Bauhauses anbahnte, setzte sich hier unmittelbar in jene Poetik des Privatraumes um, die Ines Lauffer in sechs Romanen analysiert. Die Programmatik des Neuen Bauens ist es somit, die in der Funktionalität von Raumstrukturen in einer Ästhetik des Wohnens zur Geltung kommt und sich in die Literatur der Zeit durchschreibt. Nur scheinbar sind es die neuen Muster und Praktiken des Wohnens, die das Zentrum der Handlungen bilden. In den ausführlichen literatur- und kulturwissenschaftlichen Studien zu den untersuchten Romanen wird entlang eines roten Fadens schnell sichtbar, dass sich in Form des Wohnens utopische Lebensentwürfe zu erkennen geben und damit neue gesellschaftliche Bilder des Subjekts. Der bemerkenswerte Ertrag der Arbeit liegt in der Nutzbarmachung der kulturwissenschaftlich-architekturhistorischen Perspektive, in der die in Romanen der Neuen Sachlichkeit aufscheinenden Subjektentwürfe mit dem Großstadtdiskurs der Moderne synthetisiert werden.


Komplementäre Textsorten

Im Roman von Martin Kessel „Herrn Brechers Fiasko" (1932) ist die Wohnung nicht Objekt gesellschaftlicher Repräsentation, „sondern ein Gebrauchsgerät, dessen Wert nach einer Leistung abgeschätzt wird." Das gilt auch für die Dinge des Wohnens, die nicht mehr Medien der Gemütlichkeit sind, sondern Ausdruck des Selbst der Wohnenden. Was der Roman inszeniert, hat im Architekturdiskurs der Zeit seine Entsprechung. So merkte Le Corbusier zur Überladenheit der bürgerlichen Wohnung an: „Und wozu dieser Spiegelschrank, dieser Waschtisch, diese Kommode? Dann, wozu diese akantusverzierten Bücherschränke, diese Konsolen und Vitrinen, diese Geschirrkästen, Silberschränke, dies ganzen Anrichtebüffets? […] und ich nehme das Bild von Picasso, das ich euch schenken wollte, wieder mit, denn in dem Basar eurer Häuslichkeit würde man es gar nicht bemerken."

Historische Synthesen zwischen zwei Diskursen, wie sie von Ines Lauffer hergestellt werden, gründen ihre Logik in den Bedeutungen des Zeitgeistes. Le Corbusier selbst steht aber nicht nur für den im voranstehenden Zitat charaktristischen funktionalistischen Blick auf das Bauen und Leben mit dem Gebauten. Im fortgeschrittenen Alter relativiert er seine „alten" Positionen und öffnet sich gegenüber neuen normativen Bezugspunkten architekturtheoretischen Denkens. Ausgerechnet er, der noch heute als der Repräsentant einer funktionalistischen Architektur und Stadtplanung gilt, sprach sich nach dem Zweiten Weltkrieg für eine naturharmonistische Architektur aus, die sich von der rationalistischen Nüchternheit seiner früheren Gedanken entfernte.2

Wenn die Verfasserin von einer performativen Neukonstitution des Subjekts im Wohnen und Schreiben spricht, so ist dieses Schreiben in einem doppelten Sinne zu verstehen. Während sich im Schreiben poetischer Texte in gewisser Weise eine
oberflächenästhetische  Analyseebene konstituiert, wird auf einer tiefenästhetischen Referenzschicht das Schreiben der Architekturtheorie des Neuen Bauens, die Ideenwelt von Werkbund und Bauhaus rekonstruiert und zum poetischen Text in Beziehung
gesetzt. Die Bühnen des Wohnens sind zum einen möblierte Räume der persönlichen Behausung, zum anderen aber auch mediale Räume der Anbahnung einer historisch neuen Identität. Wohnen wird deshalb in den einzelnen Textanalysen auch nur als Ausdruck eines neuen bzw. neu gewollten Lebens begreiflich. So folgt das Wohnen in den Häusern des Neuen Bauens nicht dem Leitmotiv behaglicher Einhausung im heimatlichen Milieu. Es arrangiert funktionale Räume der rationalen Konstruktion von Identität. Die auf der Schnittstelle von literatur- und architekturhistorischer Analyse diskutierten Romane liefern Interpretationselemente zum besseren Verstehen des Wohnens als existentielle Form der Lebensäußerung. Mehr aber noch legen sie einen tiefgreifenden und oft verdeckten Wirkungszusammenhang offen, in dem politische Utopien, Konzepte des Bauens und bedeutungskomplementäre ästhetische Formen einer Zeit zusammenwirken und die Essenzen des Zeitgeistes generieren.


Die Wohnung als Baustelle

Unter anderem am Beispiel von Kracauers „Ginster" wird die Projektion moderner Subjektentwürfe auf die Struktur des Wohnraums deutlich: Der Wohnraum ist Baustelle der Identität. Das moderne Bild des weltoffenen und sich nach dem Modell des Reißbrettes rational entwerfenden Menschen der Neuen Sachlichkeit passt zu den Wohnhäusern und Wohnungen des Neuen Bauens, wie sie zum Beispiel von Ernst May zwischen 1925 und 1930 in Frankfurt am Main zwölftausendfach geschaffen worden sind.  Der Grundsatz „größtmöglicher Rationalität und Effizienz"3 kehrt im Selbstbild des Protagonisten in Kracauers Roman wieder.  So sind Ginster die verwinkelten Altstadtgässchen ein Greuel. Dieselbe Ablehnung wird bei Gilgi, der Protagonistin in Irmgard Keuns Roman „Gilgi – eine von uns" (1931) zum Symbol eines Wunsches nach nüchtern klarer Struktur. Sie lehnt die verwinkelten Altstadtgassen Kölns ab; sie braucht ein Ziel, und asymmetrische Straßenverläufe müssen auf diesem Selbstanspruch, der zugleich ein Anspruch an den Raum der Stadt ist, als Hindernis angesehen werden.

Insbesondere an dieser geradezu idiosynkratischen Beziehung zu romantizistischen Straßenverläufen kehrt ein ästhetischer Grunddisput wider, der um die Jahrhundertwende zwischen den Architekten und Stadtplanern Camillo Sitte und Otto Wagner entbrannte. Camillo Sitte wollte atmosphärische Straßenräume schaffen, die seinem Bild des Wohnens außerhalb der Wohnung gerecht werden sollten. Er sah sie nicht nur als Funktionswege des fließenden Verkehrs, sondern ebenso als „harmonische" öffentliche Räume, die nach romantizistischen Bildern der Gemütlichkeit zu gestalten seien. Zu seinen ästhetischen Grundsätzen gehörte deshalb die Planung „unregelmäßiger" Straßenverläufe, durch die eine „malerische" und „natürliche" Atmosphäre entstehen sollte.4 Otto Wagner lehnte das ab. Es sei künstlerisch verwerflich, „absichtliche, unmotivierte Straßenkrümmungen, unregelmäßige Straßen- und Platzlösungen etc. [zu schaffen], um angeblich malerische Straßenbilder zu erzielen."5 In Wagners Veto klang bereits jener Ton der Neuen Sachlichkeit wie des Neuen Bauens an, der sich auch in Ines Lauffers Beispieltexten Gehör verschafft. Wenn es der Verfasserin in ihrer Studie auch um die Poetik des Privatraums und damit die Wohnung als Programmraum und Baustelle der Identität geht, so zeigen viele Textstellen doch, dass sich das Wohnen nicht auf den Raum der Wohnung beschränkt. Auch die Stadt wird als Affektraum des Wohnens eingeräumt.

Wohnstätten sind „nicht nur Ausdruck von bestimmten Lebensauffassungen". Der Bau von Wohnungen symbolisiert zugleich den „Bau des Menschen". Zwar werden Wohnungen in einem bautechnischen Sinne entworfen. Aber sie werden auch auf ein zu entwerfendes Subjekt hin hergestellt und schließlich eingerichtet. So erweist sich der Baustoff Glas in Kracauers Roman als Medium der Befreiung von hermetischen Grenzen zwischen dem Innenraum der Wohnung und dem Außenraum der Stadt. Unmittelbarer
könnten gesellschaftliche und politische Visionen nicht in einem poetischen Text wiederkehren, wie sie mit der industriellen Nutzbarmachung von Glas für die Gestaltung großflächiger Fassadenelemente seit den 1920er Jahren verbunden worden sind. Der
Baustoff »Glas« war geradezu mythisch als Symbol einer neuen Gesellschaft aufgeladen. Paul Scheerbart sah in seiner Glas- und Lichtarchitektur die Initialzündung für einen tiefgreifenden Umbau der Gesellschaft: „Das neue Glas-Milieu wird den Menschen
vollkommen umwandeln."6  Bis in die 1950er Jahre lebten diese Konnotationen weiter und sollten im International Style eine ästhetisch zentrale Rolle spielen.

Die in der Glasmythologie programmatisch zur Geltung kommende Auflösung der Grenze zwischen Innen und Außen drückt aber nur scheinbar einen allein formalästhetischen Anspruch an die Gestaltung des Hauses aus. Viel mehr war die gläserne Transparenz Symbol einer offenen und mobilen Lebensform. „Nur nicht fest an einem Ort bleiben und in einem Zweizimmerberuf wohnen", heißt es in Kracauers Roman. Der Offenheit der Wohnung korrespondiert die „offene Stadt", die in ihrem Wesen ein Ort des Kommens und Gehens und damit des Austauschs ist: die Hafenstadt –  in Kracauers Roman Marseille.


Das Neue auf dem Grat

Wo die Protagonisten als Wohnung suchende Individuen inszeniert werden, ist die Suche letztlich Medium des Schreibens in vergleichenden Geschichten und Metaphern. Die alte und die neue Wohnung, das sind nicht  nur gewohnte und ungewohnte Räume. Alte Welten werden mit ihnen zurückgelassen, und in neuen Wohnungen werden neue Welten als Bruträume einer zukunftsweisenden Identität mit hohen Erwartungen verknüpft. Solche Berührungen mit dem Neuen sind nie kollisionsfrei. Neue Dinge, die scheinbar nur rational entworfen sind und gut funktionieren, tangieren auch den subjektiven Selbstentwurf. Die Art des Wohnens sagt deshalb auch nicht nur etwas über die Organisation des räumlichen Aufenthalts. In den Textanalysen Lauffers wird die Wohnung in ihrer Einrichtung und Nutzung als Chiffre der Selbstzuschreibung von Identität thematisiert.

In Gabriele Tergits Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm" (1931) ist es die hyperfunktionale Einbauküche des Neuen Bauens, die in ihrem rationalistischen Entwurf die alte Wohnküche mit ihren „toten Schmuckformen" (Gropius) hinter sich lässt und an ihre Stelle einen maschinistischen Prozessraum setzt. Das (Roman-) Leben im neuen Gehäuse bietet sich zur kritischen Diskussion der Lebbarkeit der gebauten utopischen Ideen des Neuen Bauens an:

„Frau Käsebier, der  zuerst die Wohnung am Kurfürstendamm als Paradies erschienen war, weinte manche Tränen. Gewohnt in der Küche zu essen, wollte sie diese Gewohnheit nicht aufgeben. Und die Küchen waren, wie es bei den Modernen üblich ist, auf ein Minimum beschränkt. Das Hin- und Herservieren hätte ihre ganze Gemütlichkeit getötet, und sich ein Mädchen zu nehmen, widerstand ihr aufs heftigste."

Es ist offensichtlich, dass sich hier in der Literatur ein leises Unbehagen der Wohnenden  gegenüber der Maxime von Gropius Luft machte, das Bauen solle eine „Gestaltung von Lebensvorgängen" sein. Dass die von Ernst May im Zuge der Errichtung des „Neuen Frankfurt" rund 15.000 mal in alle von ihm konzipierten Wohnungen eingebaute „Frankfurter Küche" aber nicht nur ein Paradebeispiel der architektonischen Seite der Neuen Sachlichkeit war, sich vielmehr in das Bild eines modernen Menschen unter der Hand auch martialische Rollenfixierungen einmischten, sollte der Kritik historisch weit später aufkeimender Sensibilitäten vorbehalten bleiben. Die so praktische Küche war vor allem ein fixierter Rollenraum der Hausfrau, die in ihrer Zelle für die Familie das Essen produzierte, um dieses dann über ein Loch in der Wand diskret in den Wohnraum „durchzureichen".

Das Menschenbild der Neuen Sachlichkeit wie das des Neuen Bauens mutete dem Individuum vor allem einen Verzicht auf behagliche Atmosphären des Heimatlichen zu. Das Neue Bauen nahm viel vom Geist der 1933 verabschiedeten Charta von Athen vorweg, und die Literatur der Neuen Sachlichkeit distanzierte sich auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs  von idealistischen Subjektentwürfen. Der Roman „Hotel Savoy" (1924) von Joseph Roth situiert das Individuum nicht im bergenden Zuhause einer umfriedenden Wohnung, sondern in der gleichsam ortlosen Heimat eines Hotels. Roths Protagonist Gabriel Dan wohnt in einem transitorischen Milieu. Menschen kommen und gehen, so dass sich die Raumweiche des Hotels als Symbol eines Lebens im Hier und Jetzt und damit als Experimentierfeld für die (Er-) Findung persönlicher Identität anbietet. Das Hotel ist ein spannungsreicher und zugleich anregender Ort, „sowohl Heimat als auch das Fremde schlechthin." Als ahistorischer Wohnort wird er zur Stätte des Lebens. Es ist aber keines von jenen Palasthotels, wie sie um die Jahrhundertwende entstanden sind, sondern ein Passantenhotel, ein Haus, das in seiner Nüchternheit die Prinzipien Neuen Bauens widerspiegelt. Es erscheint als Ort einer modernen Form der Obdachlosigkeit und Wurzellosigkeit, als Ort eines positiven Nomadismus. An diesem Ort radikaler Offenheit löst sich Heimat zwar nicht auf, wird vielmehr zu einem dezentralisierten Modell umcodiert.


Wohnen als raumwissenschaftliches Thema?

Wenn Ines Lauffer am Schluss ihres Werkes resümiert: „Tatsächlich arbeiten die Texte, arbeitet der moderne Wohndiskurs überhaupt an der bis heute […] virulenten Frage, wie als Mensch zu leben sei in den modernen Städten", so mahnt sie damit implizit eine weit
über die Literaturwissenschaften hinausgehende Forschungsaufgabe an, das Wohnen daraufhin zu befragen, welche kulturellen Bedeutungen sich in den verschiedenen Räumen des Wohnens (nicht nur in der Wohnung und im Haus, sondern auch im Lebensraum der Stadt und ihren öffentlichen Räumen) in Selbstpraktiken sowie in der funktionalen wie atmosphärischen Einräumung von Dingen ausdrücken. Dass sich dieser Aufgabe in der Gegenwart mehr die Geistes- als die Raumwissenschaften annehmen, ist der programmatischen bzw. wissenschaftstheoretischen Selbstverortung der Disziplinen geschuldet. Umso mehr liegt gerade darin ein Grund für die kritische Revision paradigmatischer Selbstzuschreibungen von Identität. Konkret stellt sich schließlich die Frage nach den Effekten der Ausblendung spezifischer Themen aus dem Kanon einer aktuell für relevant gehaltenen Forschung. Das gilt nicht nur für das Wohnen.

Die von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommene Dissertation, die Grundlage des besprochenen Buches ist, bietet ein facettenreiches Beispiel zum besseren Verstehen der Kulturgeschichte der 1920er Jahre. Aber weit darüber hinaus kann die Studie als Aufforderung zum transdisziplinären Redigieren fachtheoretischer Positionen gelesen werden. So verspricht das fesselnd geschriebene Buch auch für die Raumwissenschaften vielfältige Anregungen, nicht nur das Wohnen und die Beziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in einem multidiskursiven Licht zu betrachten, sondern räumliche Selbstverortungen der Menschen im Allgemeinen auf die ihnen zugrundeliegenden Bedeutungen zu befragen.
Jürgen Hasse


Anmerkungen

(1) Heidegger, Martin (1951): Bauen Wohnen Denken. In: Führ, Eduard (Hg. 2000): Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur. Münster u.a., S. 31-49, S. 59.  zurück

(2) Vgl. Welsch, Wolfgang (2011): Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie. Berlin, S. 326f.  zurück

(3) Barr, Helen / Ulrike May (2007): Das Neue Frankfurt. Spaziergänge durch die Siedlungen Ernst Mays und die Architektur seiner Zeit (mit Fotografien von Rahel Welson). Frankfurt/M., S. 14.  zurück

(4) Vgl. Reiterer, Gabriele: AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau. Salzburg und München 2003, S. 13.  zurück

(5) Ebd., S. 91.  zurück

(6) Scheerbart, Paul (1914): Glasarchitektur (Auszug). In: Conradi, Peter (2001): Lesebuch für  Architekten. Texte von der Renaissance bis zur Gegenwart. Stuttgart und Leipzig, S. 132-141, S. 141.  zurück
 

Zitierweise:
Jürgen Hasse 2012: Das Wohnen bedenken. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1476-juergen-hasse-das-wohnen-bedenken


Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. Jürgen Hasse
Institut für Humangeographie
Fachbereich Geowissenschaften/Geographie
Robert-Mayer-Str. 6-8
60325 Frankfurt am Main
Tel.: +49 (69) 798-23859

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