Ralph Lützeler: Ungleichheit in der global city Tokyo. Aktuelle sozialräumliche Entwicklungen im Spannungsfeld von Globalisierung und lokalen Sonderbedingungen. München 2008. 467 S.
Seit den achtziger Jahren haben Untersuchungen zu weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Arbeitsteilungen sowie deren wechselseitige Zusammenhänge mit der inneren Stadtstruktur die internationale Stadtforschung bereichert und stimuliert. Insbesondere die Stadtsoziologin Saskia Sassen hat in ihren Arbeiten die zunehmende sozialräumliche Polarisierung, den wachsenden informellen Sektor und die Spaltung des Arbeitsmarktes als Begleiterscheinungen der Weltstadtbildung unterstrichen.
Verbunden ist damit die kontroverse Frage nach Konvergenz oder Divergenz der Stadtentwicklung im internationalen Vergleich, die Elisabeth Lichtenberger bereits 1991 mit der Identifikation sowohl invarianter (global wirkender) als auch varianter (kulturraumspezifischer) Faktoren differenzierend beantwortet hat.
Abgesehen von Sassens „The Global City – New York, London, Tokyo“ sind empirische Analysen in westlichen Sprachen zu Polarisierungs- oder auch Pluralisierungsprozessen speziell in japanischen Großstädten Mangelware. Die vorliegende Studie von Ralph Lützeler zu Fragen der sozialen und sozialräumlichen Differenzierung in der Hauptstadt Tokyo, die leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung der Habilitationsschrift des Autors, füllt somit eine Lücke in der international vergleichenden Stadtforschung. Sie nimmt insbesondere auch unter westlichen Beobachtern weit verbreitete Behauptungen ins Blickfeld, die das Bild eines dank staatlicher Eingriffe (developmental state) einzigartig homogenen, egalitären und weitgehend konfliktfreien Japan vermitteln.
Die rund 400 Seiten starke und reich illustrierte Studie ist in vier Hauptkapitel gegliedert. Im ersten Kapitel werden Problemstellung, Fragestellungen und Methoden der Arbeit im Spiegel vorliegender Untersuchungen über die wachsende soziale Polarisierung in Städten dargelegt. Insbesondere wird hier der Bezug zu bisherigen Theoriekonzepten zur Verbindung von sozialer Polarisierung und residenzieller Segregation hergestellt. Lützeler kommt – ganz im Sinne Elisabeth Lichtenbergers – zu dem Ergebnis, dass bei der Analyse sowohl jüngere wirtschaftliche Veränderungen im Zuge von Globalisierung und allgemeine gesellschaftliche Wandlungsprozesse (Pluralisierung, Individualisierung) als auch politisch-kulturelle Spezifika auf nationaler und lokaler Ebene zu
berücksichtigen sind.
Kapitel 2 ist der Entwicklung der sozialen und ökonomischen Ungleichheit in Japan im Kontext von Globalisierung, Global-City-Konzept und Developmental-State-Modell gewidmet. Im Ergebnis lässt sich für Japan im Betrachtungszeitraum nur sehr bedingt eine Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit beobachten, das Ausmaß sozialer Polarisierung speziell in Tokyo unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen in Japan insgesamt, es ist aber im internationalen Vergleich der Global Cities deutlich geringer ausgeprägt als in London und vor allem in New York. Eine wesentliche Ursache hierfür sieht Lützeler in Japans restriktiver Einwanderungspolitik und der vergleichsweise niedrigen Minderheitenanteile in der japanischen Hauptstadt. Insgesamt weisen Japan im Allgemeinen und Tokyo im Besonderen keine besonders „ungleiche“, aber ebensowenig eine einzigartig-japanisch „gleiche“ Gesellschaftsstruktur auf.
In Kapitel 3 werden die sozialräumlichen Disparitäten innerhalb Tokyos einer fundierten quantitativen Analyse unterzogen – auf Stadtbezirksebene (ku) auf der Grundlage soziodemographischer und sozioökonomischer Variablen sowie Variablen zurWohnsituation und einer zusammenfassenden Charakterisierung sozialstruktureller Raumtypen auf der Grundlage einer Clusteranalyse. Auf der Distriktebene innerhalb ausgewählter Stadtbezirke werden in Kapitel 4 schließlich die zuvor skizzierten Phänomene Gentrifizierung (Minato), ethnische Segregation (Shinjuku) und Segregation von sozial benachteiligten Gruppen (Taito) untersucht. Trotz der eher geringen Rolle der öffentlichenWohnungspolitik im Hinblick auf eine mögliche Eindämmung sozialräumlicher Polarisierungsprozesse, die unter anderem mit ihrer fehlenden sozialpolitischen Orientierung begründet wird, sind als Folge privatwirtschaftlicher Wohnungsbauaktivitäten und räumlicher Schwerpunktsetzungen der Stadtplanung Tendenzen einer stärkeren räumlichen Gleichverteilung festzustellen.
Das muss in Zukunft allerdings nicht so bleiben: DerAutor verweist auf die möglichen Folgen eines bereits laufenden Prozesses der Reurbanisierung und der Herausbildung höherer Konzentrationen von ausländischen Bevölkerungsgruppen in bestimmten Stadtteilen. Die Frage nach den daraus resultierenden politischplanerischen Implikationen bleibt vorerst offen. Insofern ist Lützelers Studie eine wichtige Momentaufnahme, die uns auf der Grundlage hervorragend recherchierten Datenmaterials (statistische Daten der Volkszählungen bis zum Jahr 2000 sind die wichtigste Grundlage der Arbeit) ein sehr differenziertes Bild der japanischen Hauptstadt liefert – und gleichzeitig zur Fortsetzung der Beschäftigung mit den hier aufgeworfenen Fragen auffordert.
Methodisch basiert die Arbeit schwerpunktmäßig auf quantitativen Analysen einschließlich typisierender Verfahren auf der Grundlage von Sekundärstatistiken, im Rahmen eines traditionellen Raumverständnisses im Sinne eines abgrenzbaren Territoriums – begründet unter anderem mit dem Hinweis darauf, kulturrelativistische oder gar essenzialistische Positionen im Hinblick auf eine Bewertung des Phänomens Stadt in Japan zu vermeiden. Diese Vorgehensweise wird ausführlich begründet, wobei die kritische Reflexion der verwendeten quantitativen Analyseverfahren und der statistischen Datengrundlagen ebenso wichtig für die Qualität der Studie sind wie die Sprach- und Kulturkenntnisse des Autors. Seine Vorliebe für quantitative Analysen schlägt sich allerdings in nicht weniger als 73 Tabellen und 57 Abbildungen nieder, ein ausführliches Literaturverzeichnis unter Berücksichtigung einer Vielzahl originalsprachlicher Quellen, eine englischsprachige Zusammenfassung und ein hilfreiches Stichwortverzeichnis runden die Arbeit ab.
Alles in allem liegt hier eine im positiven Sinne grundsolide, methodisch sehr stringente Analyse vor, die invariante und variante Faktoren der Stadtentwicklung Tokyos in einen zwar nicht überraschenden, aber gut nachvollziehbar präsentierten Zusammenhang bringt und damit einer weiteren Demystifizierung von Stereotypen Vorschub leistet. Das Buch ist allerdings ohne Grundlagenkenntnisse quantitativer Methoden und der damit verbundenen Terminologie und Denkweise nicht unbedingt „leichte Kost“. Die eingangs geweckte Hoffnung auf neue theoretische Erkenntnisse einer international vergleichenden Stadtforschung läuft im Wesentlichen auf eine Bestätigung der differenzierenden Sichtweise von Elisabeth Lichtenberger hinaus.
Thomas Feldhoff
Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 54 (2010) Heft 3-4, S. 261-263
vgl. auch die Besprechungen von Peter Meusburger und von Winfried Flüchter
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