Ulrike Lindner: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880-1914. Frankfurt am Main/New York 2011. 533 S.
Einer der auffälligsten Mängel in den in den letzten Jahren in erfreulicher Weise merklich gestiegenem Interesse an historischen Kolonialforschungen sind die Interaktionen der europäischen Kolonialmächte in Afrika sowie vergleichende Studien zu den verschiedenen nationalen „Kolonialherrschaften".
Die eine oder andere Studie ist hingegen in den letzten Jahren erschienen, die mit mehr oder minder großem Erfolg versuchte, den komparatistisch geprägten Blick auf ein wichtiges Kapitel der globalen Geschichte zur Zeit der direkten deutschen Kolonialherrschaft zu verfestigen. Eine solche Sichtweise zu erweitern, bemüht sich sichtlich Ulrike Lindner.
Besonders steht bei ihr das Verhältnis Deutschlands zu Großbritannien im Prozess des scramble for Africa. Zu Recht beginnt die Verfasserin ihr Buch mit der Feststellung: „Kolonialismus in Afrika war während der Phase des Hochimperialismus in vielen Aspekten ein gemeinsames Projekt der europäischen Kolonialnationen" (S. 8). Traditionell war es vor allem das britische Empire, an dem sich das Deutsche Reich in Bezug auf seine kolonialen Ambitionen rieb. Es herrschte ein spezielles Verhältnis der Konkurrenz, des Austausches und der Kooperation insbesondere unter diesen beiden Kolonialmächten. Diese zumeist diplomatisch ausgeführten Gebaren der Interaktionen sind schon häufig Gegenstand der Forschungen gewesen. An Publikationen zum britisch-deutschen Verhältnis Ende des 19./zu Beginn des 20. Jahrhunderts besteht nun wahrlich kein Mangel. Jedoch sind Analysen der Situationen „vor Ort", d.h. in den benachbarten afrikanischen Kolonien Deutschlands und Großbritanniens eher selten. So hat Ulrike Lindner ein so gut wie völlig neues Forschungsfeld eröffnet. Sie schildert die Begegnungen der Kolonialherren im Alltag sowie vergleichend den jeweiligen Umgang mit der afrikanischen Bevölkerung. Somit gelingt es ihr überzeugend nachzuweisen, dass solche Indizien der globalen Verflechtungsgeschichte ein wichtiges Vehikel dafür sind, um den deutschen Kolonialismus als Teil eines gemeinsamen, imperialen europäischen Projektes zu charakterisieren.
Ihre Untersuchung hat Lindner in sechs jeweils weiter in substantielle Kapitel untergliederte Komplexe eingeteilt, wovon der erste aus einer ausführlichen Einleitung besteht und der letzte aus einem akribisch erarbeiteten Anhang mit Karten, Abkürzungs- und Abbildungsverzeichnissen sowie einem gut fünfzigseitigen Quellen- und Literaturverzeichnis und einem Register.
In den drei Kapiteln des ersten substantiellen Komplexes befasst sich die Verfasserin mit Deutschland und Großbritannien als koloniale Nachbarn in Afrika. Hier werden beispielsweise die unterschiedlichen Sichtweisen der beiden Kolonialadministrationen auf den kolonialen Besitz des jeweilig anderen analysiert oder auf die gegenseitige Unterstützung der Missionare bei ihren Tätigkeiten in Ostafrika eingegangen. Eine wichtige Quelle, und darauf wird besonders eingegangen, sind die Reiseberichte von kolonialen Beamten, von denen hier die von Bernhard Dernburg und Wilhelm Solf eingehender vorgestellt werden.
In dem dritten substantiellen Komplex, bestehend aus sechs Kapiteln, geht es um die gegenseitige Rezeption und die konkreten Formen der Kooperation in den Kolonien. Hier werden unter anderem der Herero- und Nama-Krieg in Deutsch-Südwestafrika als Verflechtungsgeschichte und die Rezeption der Bambatha-Rebellion 1906 in Natal exemplarische analysiert.
In wiederum sechs Kapiteln werden unterschiedliche Themen der Behandlung der indigenen Bevölkerung durch die englische und deutsche Kolonialadministration sowie der in den Mutterländern geschaffenen juristischen Regelungen in einem weiteren Komplex,
exemplarisch untersucht and Hand der „Mischehen"- Problematik.
In all den trotz der breiten thematischen Vielfalt in beeindruckender Weise kompetent erarbeiteten einzelnen Themenbereichen kommt Linder nach der Analyse der Interaktionen, der Kooperationen und Abgrenzungen, der gegenseitigen Wahrnehmung und des Wissenstransfers zwischen Vertretern der deutschen und britischen Kolonialadministrationen unter Einfluss der Politik der Mutterländern zu der Schlussfolgerung, „dass Kolonialismus in Afrika vor 1914 in viel größerem Maße als ein gemeinsames Projekt der europäischen Kolonialherren zu verstehen ist als dies bislang wahrgenommen wurde" (S. 458). Ulrike Lindner hat dies durch eine gewaltige und nicht zuletzt durch eine überzeugend vorgetragene Sichtweise deutlich gemacht.
Ulrich van der Heyden
Zitierweise:
Ulrich van der Heyden 2012: Ulrike Lindner: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880-1914. Frankfurt am Main/New York 2011. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1560-ulrike-lindner-koloniale-begegnungen
Anschrift des Verfassers:
PD Dr. Dr. Ulrich van der Heyden
Humboldt-Universität zu Berlin
Theologische Fakultät
Seminar für Religions- und Missionswissenschaften
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Sitz: Invalidenstraße 110
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