Harald Bathelt u. Johannes Glückler: The relational economy. Geographies of knowing and learning. Oxford 2011. X+298 p.
Mit der „relationalen Wirtschaftsgeographie“ liegt seit fast einem Jahrzehnt ein neuer Entwurf für ein grundlegendes Verständnis des Wirtschaftens im Raum vor, an dem die beiden Autoren dieses Bandes an vorderster Stelle mitgewirkt haben. Das Buch folgt der verbreiteten Idee der kumulativen Publikation, nämlich die zuvor in verschiedenen (anglophonen und deutschen) Zeitschriften publizierten Gedanken und empirischen Erfahrungen der Autoren systematisiert zusammenzufassen.
Hier hat es seine Berechtigung. Es wird eine Kohärenz verfügbar, die man sich davor mühsam hätte erarbeiten müssen. Obwohl beide Autoren sich auf „German research traditions“ berufen (6), erheben sie seit langem international ihre Stimme in englischer Sprache. In deutscher Sprache sind ihre Positionen aus ihrem weit verbreiteten Lehrbuch (BATHELT/GLÜCKLER 2002, 2003) bekannt.
Der Grundgedanke des Relationalen lautet: Es gibt keine (ökonomische) Handlung eines Akteurs ohne eine Beziehung zu (einem) anderen Akteur(en). Daher ist jede economic action auch zugleich eine social action. Dieser Ansatz stellt das Individuum mit seinem „praktischen“ Handeln in den Mittelpunkt, ist also einer Mikroperspektive verbunden. Aus dem sozialen Handeln reproduzieren sich Institutionen als handlungsleitende Rahmen; wird Raum hergestellt; es entstehen Prozesse, die das Lokale mit dem Globalen verbinden und zugleich an das Vorherige gebunden „pfadabhängig“ sind; und es wird eine „proaktive“ Politik erforderlich (alles 6 f.). Die Vorstellung, wir lebten in einer Wissensgesellschaft, bewegt die Autoren dazu, Wissensprozesse als zentralen Gegenstand der
relationalen Wirtschaftsgeographie zu verstehen. Allerdings in ziemlich eklektischer Form: Dies ist – anders als der Subtitel vermuten lässt – keine umfassende Geographie des Wissens.
Das Buch ist in vier Teilen aufgebaut. Teil 1 legt die Grundlagen des relationalen Denkens. Akteure handeln nur in Beziehungen zu anderen, und dieses Handeln kann man auf eine „geographische Perspektive“ (geographical lense) herunterbrechen. Unter Bezug auf Giddens Strukturationstheorie ist soziales Handeln eingebettet in Strukturen, für die Institutionen stehen. Deren „context matters“, was zu einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Akteurs in „Pfadabhängigkeit“ und Kontingenz führt (32).Wer ist der Akteur? Praktisch fühlen sich die Autoren der „geography of firms“ verbunden (vi) und diskutieren das Handeln von Unternehmern oder Unternehmen bzw. deren Experten.Welche Handlungen? Solche, die mit dem Erwerb, der Nutzung und der Verbreitung von unternehmerisch verwendbarem Wissen verbunden sind. Mit dieser Einschränkung stehen die Autoren nicht allein: Auch im Fach fehlt es an einer Empirie über das Wissen von „Nicht-Experten“ – beispielsweise von Bauern, Arbeitern, Hausfrauen, Politikern. Leider legen die Autoren eine vergleichbare Konkretisierung für den Kontext, in dem die Akteure handeln, nicht offen. Doch die empirischen Aussagen machen eine Eurozentrierung sowie den Bezug zur gegenwärtigen neoliberal geprägten „flexiblen“ Wirtschaftsweise offenkundig.
Die beiden folgenden Teile des Buches vertiefen in sechs Kapiteln wichtige geographische Konstrukte sowohl konzeptionell als auch empirisch in ausführlichen Fallstudien. Teil 2 diskutiert Cluster als eine spezifisch geographische Konfiguration von Akteuren und fragt nach den Wissensprozessen in Clustern, zwischen Clustern und zu anderen (“globalen“) Orten. Teil 3 betrachtet explizit den Aufbau globaler Vernetzungen in Wissensprozessen; zuerst bei der Internationalisierung des Unternehmens sowie der Organisation globaler unternehmensinterner Wissensflüsse, dann durch Analyse der Rolle internationaler Messen als ereignisschaffende Orte, an denen Aufbau und Pflege von Beziehungen zwischen Akteuren möglich werden. In diesen Kapiteln stellen die Autoren – gewissermaßen (pfad-)abhängig von ihren eigenen empirischen Erfahrungen – Fallstudien über Unternehmen aus Beratung und TV sowie der Chemieindustrie vor. Das sind sehr spezifische Branchenkontexte, über die die Autoren allerdings gelegentlich mit ihren Schlussfolgerungen weit hinausgehen.
Das Buch schließt mit dem vierten Teil zur „relationalen Wirtschafts-Politik“. Das meint die Umsetzung des analytisch gewonnenen Wissens einerseits in Regionalpolitik und andererseits in Fachpolitik. Dieser Teil des Buches ist der kürzeste; er lässt den Leser einigermaßen ratlos zurück. Für die Regionalpolitik lässt sich eigentlich aus einem so strikten Konzept des individuellen Akteurs und seines „eingebetteten“ Handelns wenig ableiten, was nicht längst vertieft in der Governance-Debatte zur Regionalpolitik diskutiert worden wäre. Zudem geben weder das Konzept des ex post analysierten „situativen“ Handelns noch die Fallstudien Ziele, Normen oder Ähnliches her, auf das man Handlungsempfehlungen aufbauen könnte. Der disziplinäre Ausblick bezieht sich vor allem auf Gegenstände und aktuelle Themen, die in Gesellschaften der hoch entwickelten Länder diskutiert werden – explizit Klimawandel und erwartete Ressourcenknappheit. Die argumentativeWeiterführung der relationalenWirtschaftsgeographie kommt hier zu kurz und scheint in einem lock-in gefangen. Vielleicht liegt die größte Schwäche des Buches darin, sich immer und überall gegenüber der (neo-)klassischen deutschen Raumwirtschaftslehre abgrenzen zu müssen. Für den deutschen Leser ist es hier leicht zu folgen, denn die Autoren diskutieren oft auf der Grundlage deutscher wirtschaftsgeographischer Literatur der vergangenen beiden Jahrzehnte. Dennoch erscheint diese Sicht dem Rezensenten als unterkomplex. Es ist eine dualistische Sicht auf die Fachwelt – ihr da draußen, wir da drinnen –, die eine vertiefende Auseinandersetzung mit der inzwischen vielfach vorliegenden Kritik am Konzept der relationalen Wirtschaftsgeographie verhindert (z.B. durchAutoren wie Peter Sunley oder Henry Yeung; in deutscher Sprache z. B. VON FRIELING 2005). Davon gibt es genug, und sie bezieht sich vor allem auf eine als unzureichend empfundene Durchdringung des Kontextes, in dem die Akteure „situativ“ und „kontingent“ handeln; wobei der Kontext sowohl gesellschaftstheoretisch als auch sozialpsychologisch und kulturell gemeint sein kann – Letzteres etwa die noch in der Einleitung genannten „values, interpretive frameworks“ (vi) oder soziale Deutungsmuster bezeichnend.
Die relationale Wirtschaftsgeographie zeigt ihre Stärke gerade dann, wenn sie die Interaktivität der Handelnden selbst thematisiert.Angesichts der Vorliebe für qualitative Forschungsmethoden, die die Autoren anfangs äußern, ist es schon etwas paradox, dass die überzeugendsten empirischen Teile des Buches aus den quantitativen Netzwerkstudien im Beratungsmilieu bestehen (Kap. 6, 8, 10). Hier wird die Leistungsfähigkeit des Ansatzes – soziales Handeln über Vertrauen und Reputation und „seiner“ Methode der quantitativen sozialen Netzwerkanalyse – genau und modern demonstriert. Auch die Beispiele fehlenden interaktiven Handelns, mangelnder Möglichkeiten für „buzz“ und „pipelines“, verweisen auf die Berechtigung der relationalen Perspektive (Kap. 7). Die Kap. 5 und 9 befassen sich dagegen mehr mit gegebenen Kontexten des Handelns; zum einen mit dem (hier nicht begründeten) Regierungshandeln beim Aufbau chinesischer Chemiekomplexe, zum anderen mit der Messe als ermöglichender Ort von sozialer Interaktion. Die „schwarze“ Seite der Vernetzung wird nicht einmal randlich angesprochen: Exklusion (von Wettbewerbern, Bevölkerungsgruppen), ungleiche Aneignung (von Einkommen) und Teilhabe (an Entscheidungen), blockierende Netze (lock-in) und ihre Wirkung auf Stagnation und Niedergang; letztlich also – entgegen der Forderung der Autoren – eine Diskussion um die situative Analyse der Nutzung von Macht.
Folglich gilt es, noch viel konzeptionell nachzudenken und empirisch zu tun, wenn man die relationale Wirtschaftsgeographie als ein aktuelles Projekt der scientific community verstehen will. Das Buch ist dazu eine – in sympathisierender Kritik – anregende Pflichtlektüre für alle Fachwissenschaftler. Der klare didaktische Aufbau der Teile und die Zusammenfassungen am Ende jeden Kapitels machen es auch für Masterkurse einsetzbar – wenn man um kritische Literatur ergänzt. Die sozialen Netzwerkanalysen mögen junge Wissenschaftler zu entsprechenden Arbeiten anregen. Die Autoren hegen schließlich berechtigt die Hoffnung, international weitere Aufmerksamkeit unter den Sozialwissenschaften zu gewinnen. Jedenfalls gibt das Buch als erste internationale Zusammenfassung des Konzepts der relationalen Wirtschaftsgeographie wichtige Anstöße zur wissenschaftlichen Debatte.
Literatur
BATHELT, H./GLÜCKLER, J. (2002., 2003): Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive. Stuttgart. (2. korr. Aufl.)
VON FRIELING, H.D. (2005): Die gesellschaftstheoretischen Grundlagen der relationalen Wirtschaftsgeographie – soziale Kosmologie und naturalistische Metaphern. In: Geographische Zeitschrift, (93)2, 82-99.
Eike W. Schamp, Frankfurt am Main
Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 56 (2012) Heft 1-2, S. 113-115
siehe auch:
http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/275-industriegeographie
http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/443-wirtschaftsgeographie
http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/482-wirtschaftsgeographie
http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/490-wirtschaftsgeographie
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